SUPER-GAU - Stufe 7

Winfried Züfle (AZ, 13.04.2011) kommt nach einer breiten Lagebeschreibung schließlich zu folgenden Aussagen, mit der er die neue deutsche Staatsräson, parallel zur Regierungspolitik, plausibel zu machen versucht:


"...
In beiden Fällen [Tschernobyl und Fukushima], die jetzt auf der höchsten Stufe der Bewertungsskala nuklearer Störfälle gelistet sind, ist es zum Totalversagen der Kernkrafttechnik gekommen. In Tschernobyl hatten die Unbedarftheit der Betriebsmannschaft, die ein Reaktorexperiment bei abgeschalteter Notkühlung unternahm, im Verein mit Konstruktionsfehlern und einem durch den Sowjetkommunismus bedingten Mangel an Transparenz und Kommunikation zur Katastrofe geführt. In Fukushima waren es Naturgewalten, die niemand für möglich gehalten hatte und gegen deren Einwirken auf die Anlage daher auch keine Vorsorge getroffen war.
Für beide Fälle gilt: Der Super-GAU, der nicht mehr beherrschbare größte anzunehmende Unfall, hätte nicht eintreten müssen. Aber der Betrieb von Atomreaktoren wird auch von politischen und wirtschaftlichen Zwängen bestimmt – und menschliche Unzulänglichkeit läßt sich offenbar nicht komplett ausschalten. Angesichts dieser Tatsachen ist das Risikopotenzial der Atomtechnik auf Dauer einfach zu hoch. Wenn sich risikoärmere Alternativen bieten – und das ist zweifellos der Fall – ist es ein Gebot der Vernunft, den Umstieg schneller als bisher geplant zu realisieren.
"

Wenn sich jemand wie z.B. die staatliche Fürsorge in Form der Lebensmittelberatung – die Frage stellt, wieviel Radioaktivität hält ein Mensch aus, dann ist nicht die Gesundheit desselben der Maßstab. Dann geht es um eine Kalkulation mit deren Verschleiß, mit dem vorsätzlichen Raubbau an der Gesundheit. Diese Kalkulation manifestiert sich in der staatlichen Festlegung von Grenzwerten. Wer weniger radioaktiver Strahlung ausgesetzt war, als die Grenzwerte zulassen, kann keine Ansprüche auf ENTschädigung geltend machen (ganz abgesehen davon, daß mit Geld die Gesundheit nicht zu kompensieren ist). Ja, er mag sich darob gar einbilden, gänzlich gesund geblieben zu sein. Doch warum soll ein Arbeiter in einem AKW mehr Strahlung vertragen, nur weil dort die Grenzwerte höher angesetzt sind? Und zählt selbst nachgewiesene kurz- oder langfristig eintretende Schädigung nicht, wenn sie unterhalb der Schwelle bleibt? Dann ist es ein schal schmeckendes Bier, das der Leidtragende zu schlucken hat; mitunter muß er sich gar wohl noch vorhalten lassen, er halte nicht viel aus und sei ein Weichei. Ganz abgesehen davon, daß keineswegs feststeht, daß mit all den bislang diagnostizierbaren Schädigungen die Wirkungen sowohl in Qualität wie Quantität schon erschöpfend eruiert sind.

Es ist ein beliebter Fehler, die Super-GAUs in Tschernobyl und Fukushima auf menschliches oder technisches Versagen oder gar auf ideologische Gründe zurückzuführen. Eine solche Sicht bestreitet nämlich, daß die mit der Kernspaltung von Uranatomen freigesetzte Naturgewalt dafür verantwortlich ist. Der Mensch hat mithilfe der Technik nichts anderes zu tun, als die Wirkungen dieser ungemeinen Kraft zu begrenzen, einzuschränken, um sie überhaupt nutzbar zu machen. Selbst im Normalbetrieb gelangt, das läßt sich nicht gänzlich verhindern, Radioaktivität in die Umwelt. In der Diagnose von Leukämie bei Kindern, die in einer AKW-Umgebung leben, ist der Nachweis einer darauf zurückzuführenden Schädigung erbracht. Von wegen also nur geringfügig erhöhte Strahlendosen, die als solche harmlos sind! Schon die haben es in sich! Es ist also von vorneherein ein aussichtsloser Kampf gegen die Wirkungen der Atomkraft, gegen die Wirkungen, die von ihr nicht erwünscht sind, sich aber gleichwohl nicht verhindern lassen. Wenn man so tut, als hätte man alles im Griff und nur außergewöhnliche Ereignisse, dumme Zufälle oder menschliche Unachtsamkeit seien Ursache der »Neben«-wirkungen der Atomkraft, dann stellt man die Sache auf den Kopf. Solche Dinge tangieren und variieren lediglich deren beschränkte Wirkung, reißt die »Schranken« der Sicherheitsvorkehrungen vollends nieder. Diese Variierung ist überhaupt in der Kostenkalkulation angelegt. In dieser Hinsicht hat sich übrigens die Sowjetunion überhaupt nicht von einem kapitalistischen Staat unterschieden. Und was, wenn wir uns schon auf diese Abschweifung einlassen, die »Transparenz« anbelangt, die ja immer erst nach einem größeren Fall Thema ist, stehen kapitalistisch-demokratische Staaten der UdSSR auch nicht nach, das beweist nicht nur Japan, das beweisen auch die zahlreichen, naturgemäß zahlreichen »Stör«-fälle in westdeutschen AKWs. So soll - um nur ein Beispiel anzuführen -, wie mittlerweile durchsickert, bei dem Reaktor des AKW Gundremmingen, der 1977 für immer stillgelegt werden mußte, ein schwerwiegendes Vorkommnis der INES-Kategorie 3 oder gar 4 vorgelegen haben, was allerdings in seiner Dimension verschleiert werden konnte, wobei sich die Betreiber auf ihre gute Konnexion mit der Politik, das staatliche Interesse an der Atomkraft, koste sie, was sie wolle, verlassen konnten. Auf die Unglücksfälle in Krümmel und Brunsbüttel 2007 wurde hier bereits eingegangen.

Auf den Wahnwitz des Lastbetriebs bei den beiden nach wie vor laufenden Siedewasserreaktoren in Gundremmingen wurde von verschiedenen Seiten mehrfach hingewiesen. Freilich stießen diese Warnungen bislang sowohl bei den wirtschaftlich wie bei den politisch Verantwortlichen auf keinerlei Resonanz. Die betriebs- und volkswirtschaftliche Kostenrechnung ist auch hier der federführende Gesichtspunkt. Auch jetzt nach Fukushima. Nur werden jetzt eben auch potenzielle Kosten in die Rechnung aufgenommen, die bei einem SUPER-GAU entstehen. Wie sehr, das ist eben die Frage – Züfle spricht von "politischen und wirtschaftlichen Zwängen"–, die nun auf der politischen Tagesordnung steht und die das darum stattfindende Gezerre erklärt. Im übrigen unterscheiden sich Gewaltmonopole, Staaten, in dieser Frage allein in der Gewichtung der betriebs- und volkswirtschaftlichen Kostenrechnung zueinander. In realsozialistischen Staaten geht die betriebswirtschaftliche in der staatlichen Rechnung auf, umgekehrt, in einem so hoch entwickelten kapitalistischen Staat wie der BRD ist die staatliche Berechnung (»Energiesicherheit«) unmittelbar an das Interesse des Kapitals geknüpft und soll deshalb auch von ihm vorangetrieben werden. Selbst Infrastruktur wie Stromnetze und Entsorgung von Atommüll werden privat betrieben. Der Ausstieg wird, so er denn kommt, eine gigantische Kapitalföderung zum Ergebnis haben.

Ja, auch ein kapitalistischer Klassenstaat wie der BRD kann sich - ausnahmsweise - einmal gegen das (unmittelbare) Interesse seiner durch die Eigentumsgarantie privilegierten Klasse richten. Andere Staaten haben das vorgemacht, so gibt es in Italien – bislang jedenfalls keine AKWs, Österreich hat sich explizit dafür entschieden, überhaupt auf Atomkraftwerke zu verzichten. Ein kapitalistischer Klassenstaat gestaltet einen etwaigen Ausstieg ja dann sowieso so, daß er das Kapital entschädigt und den wirtschaftlichen Schaden auf die kleinen Leute umlegt, die höhere Strompreise zu berappen haben. Die Industrie hingegen, die je mehr Strom sie verbraucht, desto weniger für die Kilowattstunde zahlen muß, wird so erst gar nicht zu einem sparsamen Umgang mit Strom veranlaßt, geschweige denn für jene wirtschaftlichen Schäden haftbar gemacht.

(14.04.2011)