Fragen an mehr oder weniger kritische Zeitgenossen

Wenn Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen und in das Elend oder gar den sicheren Tod zurück geschickt werden; wenn Behörden Ausländer systematisch wie Kriminelle behandeln; wenn Bürger häßlich über Migranten reden, sie schlecht behandeln oder dazu übergehen, sie gewalttätig zu drangsalieren oder gar gezielt umzubringen – dann sind regelmäßig ganz viele Menschen darüber empört. Genauso regelmäßig bleibt es dann dabei: nämlich bei der empörten Aufzählung von Fällen des »alltäglichen«, »normalen«, »strukturellen«, »in der Mitte der Gesellschaft beheimateten« Rassismus. Aber wenn man in Bezug auf rassistische Gesinnung schon von deren Alltäglichkeit, weiter Verbreitung und tiefer Verankerung in der Gesellschaft spricht: Drängt es sich dann nicht irgendwann einmal auf, in dieser Gesellschaft nach den Grundlagen und Gründen dafür zu suchen? Oder soll nie etwas anderes folgen als der Ruf, daß nicht sein dürfe, was doch alltäglich ist?


Gegen staatlichen Rassismus 
aber nicht gegen seine Grundlage im Staat?
Soll man es für normal halten, daß Staaten sich mit ihrem Gewaltmonopol gegeneinander abgrenzen und so den ganzen Globus in nationale Territorien einteilen? Geht es in Ordnung, daß jeder Staat seinen Besitzanspruch über Land und Leute eifersüchtig und im Wortsinne mit aller Gewalt verteidigt, weil er sie als Ressource seiner Macht behandelt? Soll man es für nicht weiter befassenswert erklären, daß Staaten mit der Ein- oder Ausgrenzung der Leute in ihr Volk oder aus ihm heraus über alle Lebensumstände der Betroffenen bestimmen und manchmal auch über das pure Überleben? Soll man es einfach so hinnehmen, daß Staaten also lange vor jedem rassistischen Exzeß die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einem nationalen Kollektiv ganz praktisch zur entscheidenden Eigenschaft jedes Menschen machen?
Soll man sich wirklich nur über den staatlichen Umgang mit Menschen aufregen, wo der in regelrechten »staatlichen Rassismus« übergeht? Darüber, daß Behörden bei ihrem gesetzlich geregelten und in Demokratien auch noch öffentlich besprochenen und kritisch begleiteten Geschäft des ein Ein- und Aussortierens gewisse Verfahrensregeln nicht einhalten? Zum Beispiel eben darüber, daß Amtsträger reihenweise den grundsätzlichen und ausländerrechtlich verankerten Vorbehalt gegenüber Fremden auf dem eigenen Staatsgebiet in ein Vorurteil über eine Neigung der Ausländer zu kriminellem Tun ummünzen? Und das dann zur Leitlinie ihrer Ermittlungstätigkeiten machen, indem sie bei Serienmorden an Türken und Griechen stur im »Milieu« der Opfer fahnden?

Gegen alltäglichen Rassismus 
aber woher kommt er?
Er hat seine Grundlage darin, daß ein Volk zu seiner Rolle als Produkt und Basis der staatlichen Herrschaft und zu deren Ansprüchen nach innen und außen »Ja!« sagt und zugleich von dieser Rolle nichts wissen will: Seine Unterwerfung unter die Staatsgewalt nimmt es umgekehrt stolz als Privileg der Zugehörigkeit zu einer exklusiven nationalen Gemeinschaft wahr, das den anderen, die nicht dazugehören, nicht zusteht. Das große »Wir« hat zusammenzustehen und sich in einer Welt von Herausforderungen zu behaupten, die von »den anderen« Staaten und Völkern ausgehen. Dieses patriotische Selbstverständnis verbietet für jeden anständigen Volksgenossen, danach zu fragen, was er eigentlich davon hat.
Soll man eine solche völkische Gesinnung wirklich erst dann anprangern, wenn sie dieses unterwürfige, schädliche und dumme »Wir sind wir!« auch noch im Blut oder in den Genen finden will? Oder wenn Bürger den Gegensatz der Nationen in die persönliche Verachtung anderer Nationalitäten übersetzen? Wenn sie darum als Preis für die ihnen vom Staat abverlangte Toleranz Ausländern gegenüber deren deutliche Schlechterbehandlung fordern? Oder wenn sie offen feindselig werden und von ihrer Herrschaft verlangen, vor »Fremden« im eigenen Land ganz verschont zu bleiben, und manchen aufrechten Bürgern ihre Staatsmacht beim Sauberhalten der Ordnung von diesen »Fremden« zu lasch erscheint? Wenn sie sich darum als Aktivisten nationaler Säuberung von »volksfremden Elementen« aufführen, um keinen Preis gewillt sind, auch nur deren pure Anwesenheit in »ihrer« Nation zu dulden und darum in Form von Serienmorden, Brandstiftereien oder Prügelorgien zu der Gewalt greifen, die sie beim Staat vermissen?

Verfassungsschutz abschaffen — aber was spricht eigentlich gegen diese Behörde?
Daß es eine Behörde ist, deren gesetzlich geregelte und demokratisch legitimierte Aufgabe es ist, die freiheitlich demokratische Grundordnung vor jedem Mißbrauch durch abstammungsmäßig oder politisch unzuverlässige Zeitgenossen zu schützen? Daß sie von Amts wegen beweist, daß das große Freiheitsversprechen der Demokratie darauf beruht, also zur Bedingung macht, daß nur der Gebrauch von der Freiheit gemacht wird, der die staatliche Ordnung nicht praktisch bedroht oder auch nur theoretisch Frage stellt? Daß die Behörde dafür von Amts wegen jedem abweichenden oder irgendwie auffälligen Gebrauch der großartigen Freiheitsrechte nachschnüffelt?
Oder stört bloß die unschöne, für die entsprechenden Mitarbeiter aber anscheinend gar nicht unpassende »rechte Gesinnung«?

(12.04.13)