Nicos
Poulantzás nimmt die kapitalistische Entwicklung Griechenlands,
Spaniens und Portugals unter den besonderen, nämlich
diktatorischen Herrschaftsumstände zum Ausgangspunkt seiner
Analyse. Faschistische Diktatur in Spanien (unter Franco bis 1939 -
1975), Militärdiktatur in Portugal unter Salazar (1926 - 1968) und
Caetano (dann bis 1974), Militärdiktatur in Griechenland (1967 -
1974). Das ist insofern interessant, als in eben diesen sechsziger
Jahren ein bedeutender ökonomischer Aufschwung in diesen
Ländern stattfand. Doch lesen wir ein paar Ausschnitte dazu im
Original, das der Autor, ein Grieche, den es nach Frankreich
verschlagen hatte, im Februar 1975 fertiggestellt hat und das 1977 aus
dem französischen ins Deutsche übertragen in der edition suhrkamp erschienen ist (es 888) [Hervorhebungen im Original]:
"In der gegenwärtigen Fase treten nun bedeutsame
Veränderungen auf, deren Ursprünge kurz nach Kriegsende,
deren Konsolidierung und Verbreitung auf die sechziger Jahre zu
datieren sind. Die Kapitalexporte der Metropolen zum Zweck der
Rohstoffkontrolle und der Ausweitung der Märkte werden
fortgesetzt, jedoch mit einer Funktionsverschiebung — heute
folgen sie hauptsächlich den Erfordernissen der weltweiten
Verwertung, indem sie Profit aus der direkten Ausbeutung der Arbeit
schlagen. Es handelt sich hier um ein typisches Phänomen des
tendenziellen Falls der Profitrate und der neuen Bedingungen der
Festschreibung der durchschnittlichen Profitrate im internationalen
System. Der Bedrohung der Profitrate soll durch intensive Ausbeutung der Arbeit
entgegengewirkt werden (Erhöhung der Ausbeutungsrate durch den
relativen Mehrwert, die die Erhöhung der Arbeitsproduktivität
sowie technologische Innovationen mit einschließt, usw.). Das
bedeutet aber die Reproduktion der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse innerhalb der dependenten
Ländern selbst — durch zunehmende Unterwerfung ihrer
Arbeitskraft auf der Grundlage einer extensiven Vergesellschaftung der
Arbeitsprozesse und einer ausgeprägten Internationalisierung des
Kapitals.
Diese Veränderungen bleiben nicht ohne gravierende Konsequenzen
für die abhängigen Länder, jedenfalls für einige
von ihnen. Das investierte ausländische Kapital nimmt zunehmend
den Weg der Direktinvestition des produktiven Industriekapitals: Der
Anteil des in der weiterverarbeitenden Industrie investierten Auslandskapitals wächst beträchtlich. Ein Beispiel dafür, ..., sind die großen multinationalen
Gesellschaften. Diese, überwiegend in amerikanischen Besitz,
produzieren in einigen Ländern aufgrund der günstigen
Produktionskosten entweder umfängliche Teil des Endprodukts, das
sie dann anderwärts verkaufen, oder installieren dort eine Stufe
ihrer Gesamtproduktion oder lagern dort das Endprodukt, um es an Ort
und Stelle zu verkaufen. Die Tendenz, von der wir oben gesprochen
haben, übersteigt jedoch die Strategie der »Multis«
bei weitem: Die spezifische Orientierung der Investitionen des
ausländischen Kapitals in diesen Ländern zieht deren
Arbeitsprozeß zwangsläufig in die weltweite kapitalistische
Vergesellschaftung dieser Prozesse hinein.
Diese neuartige Organisation der imperialistischen Kette und der
Dependenz — ... — verwandelt folgenreich die interne
sozio-ökonomische Struktur der ihr ausgesetzten Länder. Deren
Situation ist nun nicht mehr bloß durch die herkömmliche
Trennung von Industrie und Landwirtschaft gezeichnet; ihre
Abhängigkeit vollzieht sich jetzt vielmehr gerade über die Industrialisierung
unter der Ägide und dem Anstoß des ausländischen
Kapitals. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse werden
massiv in ihnen selbst reproduziert — durch Unterwerfung
der in ihnen verfügbaren Arbeitskraft unter diese
Verhältnisse sowie die beschleunigte Verformung, Umgestaltung,
schließlich Auflösung der vorkapitalistischen Arbeits-,
Lebens- und Produktionsformen.
Nicht schon deshalb also, weil— wie jede Ideologie der
»Entwicklung« hervorheben würde — Spanien und
Griechenland dem Zustand der »Unterentwicklung« bereits
entronnen sind und Portugal gerade im Begriffe ist, dies zu tun,
hören diese Länder auf, beherrscht und abhängig zu sein.
Die Herrschaft und die Abhängigkeit, denen sie unterliegen,
vollziehen sich vielmehr auf einem neuen Weg, der über die
Interessenpolitik des produktiven Industriekapitals und die ihm im
internationalen System entsprechenden Arbeitsprozesse verläuft.
Wir stoßen hier auf das Fänomen der abhängigen
Industrialisierung, das auch anderswo, insbesondere in Lateinamerika,
zu beobachten ist, und das folgende Komponenten hat:
— Einschnürung dieser Länder in industrielle Formen mit »geringer« Technologie;
—
Festschreibung der Arbeitsproduktivität auf niedrigem Niveau, das
bestimmt wird durch die Integration der Arbeitsprozesse dieser
Länder in eine Vergesellschaftung der Produktivkräfte (integrierte Produktion),
die im Rahmen der internationalen Beziehungen die Dequalifizierung der
Arbeit auf die beherrschten Länder überträgt, die
Reproduktion der höher qualifizierten Arbeit jedoch den
herrschenden Ländern vorbehält;
— starker Transfer der Profite, die unmittelbar durch die
Produktion von Mehrwert durch die Arbeitskraft der beherrschten
Länder realisiert werden, usw.
Zur Ausbeutung der Massen mittels der produktiven Investition des
ausländischen Kapitals kommt nun ein weiteres Element hinzu, das
im Zusammenhang der neuartigen Internationalisierung der
kapitalistischen Verhältnisse die Arbeitskraft jener Länder
insgesamt betrifft: der Export von Arbeitskraft in die
imperialistischen Metropolen — die Arbeitsemigranten
—, mit der gerade Portugal, Spanien und Griechenland weite Teile
Europas versorgen. Damit ist eine regelrechte Oberausbeutung gesetzt
— nicht nur Überausbeutung der Arbeitsemigranten in den
jeweiligen »Gast« -Ländern, sondern auch und vor allem
für die beherrschten Länder in Gestalt verlorener
Ausbildungskosten für eine Arbeitskraft, die erst in den
Metropolen Früchte trägt. Ermöglicht und ausgelöst
wurde diese massenhafte Emigration (...) durch den vom
ausländischen Kapital initiierten deformatorischen
Industrialisierungsprozeß sowie durch die inneren Verschiebungen und Dezentrierungen im Gefolge dieser von außen induzierten Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse.
Die neue Abhängigkeits- und Ausbeutungsorganisation der
imperialistischen Kette erzeugt dergestalt neue Spaltungen zwischen den
beherrschten und den abhängigen Ländern selbst. Obschon im
Hinblick auf einige von ihnen als entscheidende Form der Ausbeutung
weiterhin der an die Rohstoffkontrolle und den Warenexport gebundene
Kapitalexport sowie die damit verknüpfte Trennung von Industrie
und Landwirtschaft gültig bleiben, schlägt hier die dominante
Ausbeutung — neben den überkommenen und im Hintergrund
fortbestehenden Formen — eine neue Bahn ein. ..."
(Poulantzas, Die Krise der Diktaturen Portugal, Griechenland, Spanien, 1977, S.12ff)
Im zweiten Kapitel kommt er dann auf die Beziehungen der Diktaturen zu
den USA und der EG (wie sich die EU damals nannte) zu sprechen, sowie
zur Konkurrenz der Imperpialisten, wie sie sich in den
Drittländern abgespielt hat. Er stellt klar, daß die
Ausbreitung und Befestigung der EG gleichzeitig mit der direkten
Zunahme us-amerikanischer Auslandsinvestitionen vonstatten ging.
Für die EG wurden nun allerdings die europäischen
Südsaaten zum bevorzugten Objekt ihrer Anlagen produktiven
Kapitals.
"Ein deutliches Beispiel dafür bildet die Bundesrepublik (...),
deren Wirtschaft innerhalb der EG heute tonangebend ist. Das erzeugt
eine neue, sehr spezifische Abhängigkeit der europäischen
Länder von den USA (neu deshalb, weil sie mit der, welche die
beherrschten Länder gegenüber den Metropolen des Imperiaismus
in ihrer Gesamtheit kennzeichnet, weder identisch noch ihr ähnlich
ist), die ebenfalls nur erfaßt werden kann, wenn in der Internationalisierung
des Kapitals und der kapitalistischen Verhältnisse gedacht wird,
statt in solchen konkurrierender »nationaler Wirtschaften«.
Bestätigt wurde die neue Abhängigkeit (im Verlauf der Krise)
in den aufeinander folgenden, regelrechten Kapitulationen der
EG, namentlich einzelner Mitgliedstaaten, die angesichts der
amerikanischen Forderungen (im Monetär- und Energiesektor usw.)
nicht zufällig isoliert und unabgestimmt reagierten. Eine der
Wirkungen der neuen Abhängigkeit besteht in der mangelnden
Vereinheitlichung des Kapitals, folglich, zum gegenwärtigen
Zeitpunkt, in der fehlenden Einheit der Länder Europas: ihre
gegenseitigen Beziehungen sind »außenzentriert«, d.
h. sie sind vermittelt über ihre jeweiligen bilateralen
Beziehungen mit den Vereinigten Staaten. Dies ist ein Sachverhalt, der
im Hinblick auf die Haltung Europas gegenüber den uns
beschäftigenden Regimen festzuhalten wichtig ist. Das ist der eine
Punkt. Der zweite ist der mit der aktuellen Krise des Kapitalismus
gekoppelte Prozeß einer starken Reaktivierung und Intensivierung
der innerimperialistischen Widersprüche, insbesondere zwischen den
USA und dem Europa des Gemeinsamen Marktes — ein Punkt, der
keineswegs mit dem ersten unvereinbar ist." (S.24 f)
Er stellt klar, daß nicht die EU die "Karte der Demokratie"
gespielt hat, daß es vielmehr darum ging unter der US-Hegemonie
zur Rückkehr unter die ökonomischen
Kräfteverhältnisse ging, auf denen weitergehende politische
Ambitionen beruhen; die 3 Diktaturen selbst haben keine Mühe
gescheut, im eigenen Interesse eine Annäherung an die EU zu
betreiben, wofür sie europäische Investitionen umso mehr
begrüßt haben, zumal sie ja von der EU und ihren Mitgliedern
keineswegs boykottiert worden sind.
Es ist, rund 35 Jahre später betrachtet, durchaus relevant auf all
das hinzuweisen, nachdem Staaten wie China, die Länder
Südostasiens, die nunmehr fürs Kapital freien Staaten des RGW
dem Kapital völlig neue Investitionsmöglichkeiten
eröffnet haben, die die alten emerging markets Europas
einigermaßen alt aussehen ließen und die ökonomische
Entwicklung dort in neue Bahnen lenkte. Die demokratisierte Politik,
sah sich spätestens nach EU-Beitritt soweit anerkannt, daß
sie sich gleichsam befreit von einer Schaffung produktiver
Kapitalgrundlage Ziele steckte, die sowohl den USA wie der EU nur recht
waren: Mit dem Anschub durch entsprechendes Geldkapital glaubt man noch
heute - in ziemlicher Ignoranz des erreichten kapitalistischen
Globalniveaus und dem Stand der internationalen Konkurrenz nicht nur
ökonomischen Zuschnitts -, die Grundlagen als Industriestandort
verbessern zu können. Gleichzeitig betrachtet man es als Vorteil,
als zweckdienlicher, ohne den großartigen Umweg der
Warenproduktion gleich aus G G' machen zu können...
... und heute - nach einer Krise größeren Ausmaßes -
zurückgeworfen auf die Revenue aus abhängiger Arbeit und
unabhängiger Geschäftemacher des Auslands, wie folgendes
Beispiel zeigt:
"In griechischen Tourismusgebieten sind die Klischees von
Chinesen gehörig ins Wanken geraten. Zwar gibt es dort nach wie
vor die traditionellen Verkäufer von Billigkleidung und Besitzer
von China-Imbissen. Und chinesische Masseurinnen laufen weiterhin auf
der Suche nach Kunden die Strände ab. Doch inzwischen kommen auch
zunehmend zahlungskräftige Urlauber aus der Volksrepublik. ...
Feng Xixing aus Shanghai mietete für 15.000 Euro eine Yacht und
einen Skipper, um mit seiner Familie die Saronischen Inseln zu
umsegeln. Außer seiner Frau sind auch die beiden Kinder, die
Eltern und eine Kinderfrau mit von der Partie. Das mit zwei Kabinen,
einer Küche und einem Wohnzimmer ausgestattete Boot liegt im Hafen
vor Anker, während die Familie das Städtchen erkundet.
'Das sind die neuen Russen', erklärt der Skipper. 'Sie leben den
Luxus und können ihn sich auch leisten.' Reiche chinesische
Feriengäste bescheren dem griechischen Touristiksektor und
Geschäften willkommene Einnahmen. Anders als viele Europäer
ließen sich die Besucher aus Asien in diesem Sommer selbst durch
die heftigen Proteste der griechischen Bevölkerung gegen den von
der EU verordneten drakonischen Sparkurs der Regierung nicht
abschrecken. Die Chinesen sahen die Turbulenzen sogar als Chance, um
die Preise für Segeltörns und geführte Touren zu
drücken." (ips-Weltblick, 08.11.10)
(08.01.11)