Nicaragua im Jahre 2006

 (ungekürzte Artikel aus der Informationsbroschüre 2/06 des Informationsbüros Nicaragua in Wuppertal, Anschrift siehe unten)


12 Wäscheklammern, Piñatas und  Tortenplatten
16 Paula oder das Überleben auf dem Land
21 Die "Hölle" der Maquila
29 Hertys neue Schuhe (Bericht über den mittlerweile verstorbenen Präsidentschaftskandidaten Herty Lewites, der sich in der Absicht, die FSLN zu erneuern, von ihr abgespalten hatte)


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Wäscheklammern, Piñatas und Tortenplatten - Was der informelle Sektor alles hervorbringt

Im Rundschreiben 2/05 berichteten wir über den „größten Arbeitgeber Nicaraguas“ - den informellen Sektor.
Auf der Reise im Dezember durch Nicaragua traf das Informationsbüro einige der „ArbeitnehmerInnen“. Ihr Leben ist geprägt von Arbeit. Und über die Zukunft machen sie sich lieber keine Gedanken. Beim Betreten des Hauses wird man empfangen vom Dröhnen aus einem Nebenzimmer. Dort steht eine Maschine (die in Deutschland wohl als Häcksler bezeichnet würde), aus der unten bunte Plastikspäne herausspritzen. Im Hinterzimmer stinkt es heftig nach Kunststoff. Zwei Jungen schneiden mit einem Messer etwas auseinander. Es sind die Hälften von Wäscheklammern, die aus leeren Garnrollen hergestellt werden - ein Abfallprodukt der Maquiladoras.
Um zu überleben, werden die Menschen kreativ und produzieren Neues aus Altem. Eine Ecke weiter ist die Familie Gutiérrez damit beschäftigt, Abfälle aus Maquiladoras - Pappverpackungen und Stoffreste - zu Tortenplatten und Boxershorts umzuwandeln. Aber das ist noch nicht alles. „Ich mache Ölgebäck und Suppe zum Verkaufen.“, erzählt Ana, die Mutter. „Alles, was informelle Arbeit ist; alles, um zu überleben.“ Auf die Frage, ob sie manchmal Freizeit habe, antwortet sie: „Nein, wie das denn?“ Für die Frauen erlaubt die Arbeit zu Hause allerdings, sich mehr um die Kinder zu kümmern und die Hausarbeit zu erledigen. Dies ist mit ein Grund dafür, warum sie ihre "Selbständigkeit" als positiv ansehen.
Sie ist für viele Frauen sogar eine Voraussetzung, überhaupt arbeiten und Geld verdienen zu können. Teresa Estrada dazu: „Ich begann in der Zona Franca zu arbeiten. Aber das war traurig, weil meine Kinder klein waren und ich sie tagsüber alleine lassen mußte. Deshalb habe ich dann Wassermelonen und gekochte Maiskolben auf der Straße verkauft.“
Für andere ist die Produktion im eigenen Haus ein Zusatzverdienst zu ihrem geringen Lohn. So bei Asunción Leiva. Als Lehrerin verdient sie viel zu wenig, um für sich und ihre Töchter zu sorgen. Deswegen bastelt sie vor und nach dem Unterricht Piñatas. Für ihre Töchter, die sonst keine Arbeit haben, sichert die Piñataproduktion den Lebensunterhalt. Allerdings merkt Asunción Leiva an: „Der Vorteil in der Schule ist, daß ich ein festes Einkommen habe und sie mich jeden Monat bezahlen. Wenn ich krank werde, habe ich meine Versicherung. Und wenn ich alt bin, wird man mir eine Pension geben.“
Die informelle Arbeit hingegen bietet keinerlei Absicherung. „Wenn uns etwas weh tut, können wir nicht ins Krankenhaus gehen.“, berichtet Maria Lourdes Espinoza. „Meine Mutter hat kein Geld für eine Behandlung, so daß sie von Gottes Willen abhängig ist und wir ihr Tabletten und Essen geben müssen.“ Auch für die Zukunft bietet der informelle Sektor keine Aussichten. Auf die Frage, wie sie im Alter leben werden,
sagen Ana Gutiérrez und Nurinda Cano: „Wer weiß. Für die Altersversorgung habe ich nur meine Kinder. Wir müssen abwarten und auf Gottes Willen hoffen.“ Damit die vielen Menschen in Nicaragua, die ihr weniges Geld im informellen Sektor verdienen, überleben können, müssen sie ihre Waren und Dienstleistungen billiger anbieten als sonst üblich. Nurinda Cano hat schon seit 40 Jahren einen Straßenstand an derselben Ecke:
„Wir sind immer etwas billiger als der Supermarkt und die Leute kaufen gern bei mir.“ Der informelle Sektor wächst auch deswegen rapide, weil sich mehr Leute ihre Lebensmittel kaufen müssen. Zeit, sich die Tortillas selber zu machen oder die Papayas selber anzubauen, haben besonders die ArbeiterInnen der Maquiladoras, nicht. Gleichzeitig sind sie darauf angewiesen, daß die Tortillas und die Früchte preiswert sind,
weil ihr Fabriklohn nicht mehr hergibt. Und dann gibt es noch jene, die so viel übrig haben und z.B. dem Jungen, der Schlaglöcher ausbessert, ein paar Centavos in die Hand drücken. Informeller Sektor bedeutet jedoch nicht, daß er völlig ungeregelt ist. Auch hier gibt es Spielregeln der HändlerInnen untereinander. Wo schon ein anderer ist, fängt man sein Geschäft nicht an. Und der Übergang zum formellen Sektor ist manchmal fließend. „Ich zahle meine Steuern und alle meine Papiere sind in Ordnung. Man muß mit diesen Zahlungen pünktlich sein, damit einen dann niemand belästigt.“, erzählt Nurinda Cano. Piñatas werden für Kinderfeste gemalt und mit Bonbons gefüllt. Mit verbundenen Augen versuchen die Kinder, die hängende Piñata miteinem Stock zu treffen, bis die Süßigkeiten herausfallen.

Heute leben in Nicaragua von 5,2 Mio. EinwohnerInnen noch immer etwa 45% auf dem Land. Aber die wenigsten können vom Land allein überleben. Die Landfrage war und ist in Nicaragua bekanntlich ein kompliziertes Thema. Knapp die Hälfte des landwirtschaftlich genutzten Bodens gehörte während der Diktatur Somoza und seiner Familie. In der Revolutionszeit wurde dieses Land und brachliegende Flächen an landwirtschaftliche Kooperativen und Kleinbauern vergeben. Die neuen Besitzverhältnisse wurden damals nie rechtlich abgesichert. In den 90er Jahren kam es zu politisch gewollten Re-Privatisierungen und teils blutigen Landkonflikten. Die bis heute unsicheren Besitzverhältnisse sind ein Grund für die geringe Produktivität des Agrarsektors.

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Paula oder das Überleben auf dem Land

Von 11 Mio. ha Fläche sind 6,3 Mio. kultivierbar. Die bebaubare Fläche ist sehr ungleich verteilt. Während ein Drittel der Betriebe kleinere Flächen als 4 ha bewirtschaften, verfügen 9% der Fincas über mehr als 700 ha und besitzen damit fast 60% der nutzbaren Gesamtfläche. 74% der Landtitel sind juristisch ungeklärt. Solange keine Rechtssicherheit besteht, sind Nicaraguas KleinbäuerInnen nicht kreditwürdig und können keine Investitionen tätigen. Es fehlt an Geld für Saatgut, Düngemittel und Maschinen. Sie können ihr Land weder mit einer Hypothek belasten noch rechtmäßig verkaufen. Es ist klar, daß dieser Zustand nachhaltiges Wirtschaften behindert. Dazu kommt, daß Anbaumethoden und Anbauflächen auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig sind, während der nicaraguanische Markt von nordamerikanischen Billigprodukten überschwemmt wird. Ob Kleinkredite für die BäuerInnen aus Entwicklungsprogrammen etwas dagegen setzen können, bleibt fragwürdig. Wie aber überleben Menschen auf dem Land, die über keine ausreichend ertragreichen Betriebe verfügen? Viele Menschen arbeiten als Wander- und SaisonarbeiterInnen. Andere leben dauerhaft auf kleinen Höfen, die zu großen Plantagen oder Farmen gehören. Sie stehen in einem quasi feudalen Abhängigkeitsverhältnis. Hinzu kommen jene, die sich mit Selbstversorgungsproduktion und Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten.
Wir trafen im Dezember Vergangenen Jahres Paula, 39 Jahre alt, eine Landfrau aus der Gemeinde Los Cocos in der Nähe von León. Sie lebt mit ihren drei Söhnen und zwei Töchtern in sehr bescheidenen Verhältnissen. Der Mann hat die Familie vor einigen Jahren verlassen – in Nicaragua nichts außergewöhnliches. Obwohl Paula an einem Programm zur Förderung von Kleinwirtschaft des Landfrauenkomitees CMR teilnimmt, kann sie den Familienunterhalt nicht allein aus der Landwirtschaft bestreiten. „Unser Haus ist nicht besonders groß und wir müssen draußen kochen. Ich arbeite, damit wir überleben. Also kann ich kein bißchen Geld sparen, obwohl ich mir ein größeres Haus wünsche, in dem meine Kinder etwas Platz für sich hätten. Gemeinsam mit Frauen aus dem Komitee hat Paula eine Projektidee:
„Wir haben den Traum von unserem eigenen kleinen Unternehmen und wollen Ziegenkäse machen. Wir wollen die Arbeit selbst organisieren, unser eigener Chef sein und den Gewinn untereinander teilen.“ Über das notwendige Kapital verfügen die Frauen nicht. Aber die erste Hürde ist genommen. Seit einiger Zeit besitzen sie mehrere Ziegen, die sie bei erfolgreicher Zucht an andere Frauen weitergeben.
Für eine einjährige Ziege bekommt man 350 Córdoba, das sind 17,5 €. Doch reicht die Ziegenhaltung nicht für den Unterhalt der sechsköpfigen Familie. Um Essen auf den Tisch zu bringen, führt Paula noch spät abends Auftragsarbeiten an der Nähmaschine aus. Sie näht Hängematten.
Der Stoff wird ihr gebracht. Sie säumt ihn und bekommt pro Stück 7 Córdoba. Das sind gerade einmal 30 Cent. Auch die Söhne müssen mithelfen. Sie bauen und lackieren Bettrahmen und versorgen die Ziegen. Für die arme Bevölkerung auf dem Land ist dies ein typisches Beispiel. Eine andere Überlebensstrategie ist die Emigration nach Costa Rica. Die Not und die fehlenden Möglichkeiten, ein wenig Geld zu verdienen, läßt immer mehr junge Frauen wenigstens zeitweise ihre Familien verlassen. 
Sie arbeiten im Ausland als Hausmädchen und überweisen monatlich Geld für die Familie. Ca. 1 Mio. NicaraguanerInnen leben im Ausland; die Überweisungen aus dem Exil waren 2003 doppelt so hoch wie die gesamten Exporterlöse des Landes. Maria Lourdes, eine Nachbarin von Paula, erzählt uns: „Als ich mich entschied, nach Costa Rica zu gehen, war das aufgrund der Situation, in der ich hier steckte. Ich dachte, ich könnte da vielleicht mehr verdienen. Freundinnen hatten mir gesagt, daß man da gutes Geld verdient und sein Leben verändern kann. Aber alles ist sehr schwierig, ein bißchen wie im Lotto gewinnen, einigen geht es gut, anderen schlecht. Ich hatte schlimme Gewissensbisse, weil ich meine Kinder allein bei meiner Schwester zurückgelassen hatte. Ich wurde krank, litt an Schlaflosigkeit und mochte nicht mehr essen. Jetzt bin ich müde von alledem und versuche, zu Hause zu arbeiten und nach meinen Kindern zu sehen.“ Der Leidensdruck ist enorm, doch so wie Maria Lourdes entscheiden jährlich tausende Frauen. Die meisten von ihnen kehren innerhalb eines Jahres zurück und versuchen es nach einem kurzen Aufenthalt zu Hause erneut mit einer Anstellung im Ausland. 

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Die „Hölle“ der Maquila oder die prekäre „Freiheit“ der Straße

Im Büro des MEC in Managua treffen wir Teresa, die drei Monate als Promotorin für das Movimiento de Mujeres María Elena Cuadra arbeitet. Wir begleiten sie vor die Tore der Zona Franca „Las Mercedes“, eine der größten Maquilas des Landes bei Tipitapa am Rande Managuas.
Nachdem wir das Verkehrschaos am Busparkplatz neben der Schnellstraße verlassen haben, tauchen wir in ein Getümmel wie auf einem Jahrmarkt. Auf der unbefestigten, mit Pfützen und Schlaglöchern übersäten Zufahrt zum Haupttor der freien Produktionszone herrscht geschäftiges Treiben. Hier werden Waren aller Art angeboten, dazwischen Garküchen, Imbiß- und Getränkestände. Obwohl noch nicht Feierabend ist, sind viele Menschen zu Fuß, auf Fahrrädern, mit Handkarren und Autos unterwegs. Ab und zu kommen große Sattelschlepper mit Containern für die Fabriken. Dann werden die Verkaufsstände und Auslagen behelfsmäßig zur Seite geräumt, um Platz auf der engen Zufahrt zu schaffen.
Der Markt vor den Toren der freien Produktionszone scheint ein gutes Geschäft zu versprechen. Kleidung, Elektronik, Obst und Gemüse, Spielwaren und Süßigkeiten bieten ein buntes Angebot für den schnellen Einkauf. Schließlich arbeiten die Frauen in den Fabriken 9 und manchmal auch 12 Stunden am Tag. Neben den  erwachsenen HändlerInnen finden sich viele arbeitende Kinder. Sie bieten billige Waren und Dienstleistungen für die Frauen in den Fabriken, die mit Niedrigstlöhnen und extremen Arbeitszeiten leben müssen.
Wir warten auf das Schichtende. Zunächst sind es zumeist Männer, die aus den Toren auf die Zufahrt drängen. Es werden immer mehr. Ein Zug von Menschen mit müden Gesichtern bewegt sich an uns vorbei. Nach zehn Minuten sind es fast ausschließlich junge Frauen, die die Straße
zwischen den Verkaufsständen bevölkern. Teresa verteilt Broschüren MEC´s Arbeitsrechte. ArbeiterInnen greifen interessiert zu - anders, als das mühsame Flugblattverteilen, das ich von Zuhause gewohnt bin. Der Strom der ArbeiterInnen reißt nicht ab. Er hat etwas Machtvolles. Ich denke an die miserablen Löhne und die extrem schlechten Arbeitsbedingungen. Könnten diese Menschen nicht ...... wenn sie sich einig und organisiert wären? Dann würden diese Fabriken nicht hier boomen; solange die Unternehmen anderswo auf der Welt Menschen finden, die keine andere Perspektive haben, als für umgerechnet 70 € im Monat bis zum „Umfallen“ zu arbeiten. Die Monatslöhne in den Maquilas liegen zwischen 1300 und 2000 Córdoba, umgerechnet ca. 65-100 € je nach Überstunden und Akkordleistung. Laut FIDEG (Intern. Stiftung für globale Herausforderungen) liegt ein ausreichender Basiswarenkorb für einen 5-Personenhaushalt bei 4400 Córdoba und damit mehr als doppelt so hoch. Zwei Personen müßten also Vollzeit (48-60 Stunden pro Woche) in den Fabriken arbeiten, um eine Familie mit drei Kindern zu ernähren.
Mit dem Bus begleiten wir Teresa nach Hause. Sie wohnt außerhalb von Tipitapa in der Nähe einer Müllkippe. Teresa ist 26 Jahre alt und hat 4 Kinder zwischen 2 und 7 Jahren. Ihr Mann hat sie verlassen und das gemeinsame Haus verkauft. Eine karitative Organisation stellte der Familie ein kleines Häuschen mit zwei Räumen zur Verfügung, das allerdings über keine Latrine verfügt. Das Mobiliar des Wohnraumes besteht aus zwei Gartenstühlen aus Plastik, von denen einer eine gebrochene Sitzfläche hat. Dazu ein Tisch und ein Radiogerät. Teresa berichtet uns aus ihrem Leben. Sie erzählt, mit welchen Hoffnungen sie in der Zona Franca angefangen hat. Das wenige Geld, was sie verdiente, reichte dann doch nicht für den Unterhalt der Familie. Zusätzlich mußte sie ein Mädchen bezahlen, das auf die Kinder aufpaßte und Fahrgeld für den Bus haben.

„Einmal“, berichtet sie, “gaben sie mir keine Erlaubnis, ins Krankenhaus zu fahren, als meine Tochter krank wurde. Ich verließ die Maquila endgültig, weil ich mich nicht um meine Kinder kümmern konnte. Ich begann Wassermelonen und Maiskolben zu verkaufen.“ „Es ist wie die Hölle“ sagt Teresa über die Arbeit in der Fabrik. „Als ich in der Zona Franca arbeitete, stand ich sehr früh auf, als es noch ganz dunkel war und bereitete den Kindern das Frühstück. Ich kam erst um sechs manchmal um sieben Uhr abends zurück. Das war eine anstrengende und schreckliche Arbeit ... Abends war ich müde und wollte nichts hören und nichts sehen. Ich wollte nur schlafen ... Die Faserstoffe gehen in die Lunge und uns fehlt der Atem. Wenn wir ausgepowert sind, schmeißt der Arbeitgeber uns raus,wie etwas Wegwerfbares.
Die Lungenprobleme bleiben das ganze Leben. Es ist schrecklich, der Druck, das Licht, der Lärm. Wenn wir von der Arbeit kommen, sind wir ganz taub vom Maschinenlärm. Wir sind keine Tiere, wir sind Personen, wir sind Frauen.“ Teresa will wieder als Straßenhändlerin arbeiten. „Ich werde verkaufen gehen. Von dem Geld, das ich bekomme, investiere ich ungefähr 1000 Córdoba (ca. 50 €) für BHs und Mädchensocken. Ich verkaufe sie auf der Straße nach Tipitapa.“ Natürlich weiß sie, daß der Verkauf nicht genug einbringt, um ein Kindermädchen zu bezahlen. Aber dafür hofft sie, alle zwei Stunden Zuhause vorbeischauen zu können.

Machtzuwachs oder Verlust der Freiheit
Worüber Teresa berichtet, ist kein Einzelschicksal im neoliberalen Nicaragua. In den letzten zehn Jahren entstanden allein im Bereich der exportorientierten, arbeitsintensiven, schlecht bezahlten Bekleidungsbranche zigtausend Arbeitsplätze. Derzeit sind ca. 70 000 Menschen direkt in den Zona Francas beschäftigt. 200 000 Arbeitsplätze hängen indirekt von der Maquilaproduktion ab. Nicht einschätzbar ist die Größe der informellen Beschäftigung rund um die Weltmarktfabriken. Dagegen läßt sich in der Landwirtschaft, in der verhältnismäßig mehr Männer beschäftigt sind, ein Rückgang von formalen und informellen Beschäftigungsverhältnissen feststellen.
Gleichzeitig sind die Realeinkommen nicht zuletzt durch gestiegene Preise bei der Grundversorgung (Folge der Strukturanpassungsmaßnahmen der 90er Jahre) gesunken. Die Defizite in den Familienhaushalten konnten und können nur wettgemacht werden durch eine verstärkte Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, sowohl im Bereich der formalen Arbeit als auch im informellen Sektor, im Straßenhandel und bei Dienstleistungen. Zählten 1950 nur ca. 10 % aller Frauen zur wirtschaftlich aktiven Bevölkerung, so sind es 2003 bereits 50%. (Nicht entlohnte Hausarbeit und landwirtschaftliche Arbeit tauchen in dieser Statistik nicht auf.) Im Zusammenhang mit dem Maquilaboom der letzten zehn Jahr spricht Sabine Broscheid, Mitarbeiterin des MEC und der CIR (Christliche Initiative Romero) bereits von einer „Feminisierung der formellen Beschäftigung“ in Nicaragua. Nun läßt sich durchaus diskutieren, ob die wachsende wirtschaftliche Bedeutung der Frauen in der Erwerbsarbeit ein gesellschaftlicher Machtgewinn ist oder nur eine veränderte Variante der Ausbeutung als billige und flexible Arbeitskräfte. Unbestritten bleibt, daß durch die Maquilaindustrie keine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung entsteht. „Maquila“, so der Anthropologe Jon Ander Bilbao von der Zentralamerikanischen Universität in Managua (UCA), “ist wie eine Aspirintablette, sie bringt Erleichterung, aber sie heilt nicht und wirkt nur auf kurze Dauer.“ Für viele Frauen, besonders für Alleinstehende ohne Kinder, bieten die Bekleidungsfabriken eine Chance zur Loslösung aus tradierten Strukturen der Herkunftsfamilien. Für verheiratete Frauen erhöht das eigene Einkommen die Verhandlungsmacht innerhalb der Familie. Erkauft wird dieser Freiraum aber mit einer Unterordnung unter die Disziplin, die rigide Zeiteinteilung, unter den Zwang zu Überstunden und Akkordhetze des Fabrikregimes, das den lebendigen Bedürfnissen der Menschen ebenso widerspricht, wie der vorwiegend vom Landleben bestimmten Kultur Nicaraguas. Die Leiden unter den extremen Ausbeutungsbedingungen und den erbärmlichen Löhnen treffen zugleich die Kinder. Schließlich liegt die volle Verantwortung für Kinder, Hausarbeit und Broterwerb auf den Schultern der erwerbstätigen Frauen - Frauen wie Teresa, die für sich entschieden hat, die bescheidene und prekäre „Freiheit“ des Straßenhandels der „Hölle“ der Maquila vorzuziehen.
Ob sie bemerkt hat, daß jene die eigentlichen Verdiener in der Textilbranche sind, die die Produkte aus den Weltmarktfabriken in großem Stil vermarkten?
Auch bei uns bekannte Marken wie GAP, Levi's, Fila, Calvin Klein u.a. lassen in Nicaragua schneidern. Teresa jedenfalls wünschen wir von ganzem Herzen einen erfolgreichen Verkauf.

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Hertys neue Schuhe oder: Wer die Wahl hat,...

Anfang Dezember 2005, zu Beginn unserer Delegationsreise, trafen wir im Haus des Ex-Comandante Henry Ruiz eine Gruppe ehemaliger SandinistInnen der FSLN, die Herty Lewites im Wahlkampf unterstützen. Im September hatte Gioconda Belli uns bei einer Lesung in Wuppertal aufgefordert, seinen Wahlkampf seiner Präsidentschaftskandidatur zu unterstützen und uns zu dem Treffen in Managua eingeladen. Die kommenden Wahlen im Herbst dieses Jahres und die Querelen der nationalen Politiker im allgemeinen waren nicht unser erstes Interesse bei dieser Reise, aber natürlich auch immer ein Thema im politischen Austausch mit unseren FreundInnen und ProjektpartnerInnen. So gingen wir neugierig zu diesem Treffen, da die Menschen um Lewites ja nichts weniger als Gerechtigkeit und die Rettung des Sandinismus versprechen. Außerdem wird Hertys Kandidatur stark von bekannten Persönlichkeiten der sandinistischen Geschichte wie Monica Baltodano, Sergio Ramírez und Dora Maria Tellez unterstützt. Trotz seines charismatischen Auftretens, toller Schuhe und seiner glaubwürdigen Versicherungen, insbesondere die Korruption bekämpfen zu wollen, waren wir von den politischen Perspektiven seines Bündnisses nicht überzeugt. Auch seine Redegewandtheit, eindrucksvolle Gestik und linke Retorik konnte uns nicht darüber hinwegtäuschen, es mit einem wenig revolutionären Unternehmer des neoliberalen sandinistischen Flügels zu tun zu haben. Eigentlich würde sich Herty prima machen in der Reihe einiger linker lateinamerikanischer Präsidenten, die bei näherem Hinsehen dann doch nicht mehr so links sind. Seine Rezepte blieben in dem Gespräch eher vage. Er positioniert sich im wesentlichen in Abgrenzung zu den Caudillos Ortega, Alemán und deren Pakt. In Erinnerung geblieben ist es uns noch, daß Herty - im Falle eines Wahlsieges - das Gehalt des Präsidenten und der Abgeordneten um über die Hälfte kürzen wird. (Das ist auch nötig: 0,7% der Regierungsfunktionäre bekommen 25% der gesamten Lohnliste für Staatsbeamte!). Und dafür will Herty alles geben: „Jedes Schulkind soll einen halben Liter Milch am Tag bekommen. Wir müssen etwas für die Armen in unserem Land tun.“ Frustration und Wut über die derzeitige Regierung spiegeln sich in all unseren Gesprächen wider. Die meisten Menschen aus unseren Partnerorganisationen erwarten nicht all zu viel von Herty und dem MRS (Movimiento por el Rescate del Sandinismo), der Bewegung zur Rettung des Sandinismus. Dabei erklärten ihn aber einige definitiv zum kleineren Übel, ohne ihn direkt unterstützen zu wollen. Einige Gesprächspartnerinnen versprechen sich zumindest ein Ende der politischen Handlungsunfähigkeit, die sich aus dem Pakt und der Spaltung der liberalen Partei zwischen dem Parteiführer Alemán und dem Präsidenten Bolaños ergeben hat. Das wäre allerdings schon ein gewaltiger Schritt in der derzeitigen Situation des Landes. Lediglich eine Freundin aus einer unabhängigen Frauenorganisation in León - für die Herty ebenfalls keinen großen Hoffnungsschimmer birgt - wagte sich in ihrer Aussage weiter vor: „Sollte er (Herty Lewites) uns (der nicaraguanischen Frauenbewegung) zwei oder drei sichere Listenplätze überlassen, könnten wir uns vorstellen, ihn zu unterstützen. Dabei aber vor allem mit dem Ziel, der Frauenbewegung eine stärkere Stimme im Parlament zu ermöglichen.“
Im Lager der Lewites-Anhänger ist man mit Sicherheit noch auf viele UnterstützerInnen angewiesen, da sowohl die materielle als auch die personelle Ausstattung der Gruppierung für die kommende Wahl bisher außerordentlich knapp erscheint. Ganz zu schweigen von den (un-)rechtlichen Schwierigkeiten, die zur Zulassung bei der Wahl noch gemeistert werden müssen. Unstimmigkeiten innerhalb des Wahlbündnisses erschweren einen gemeinsamen Wahlkampf. Die christliche Allianz hat sich inzwischen sogar ganz aus dem Bündnis zurückgezogen. Bemerkenswert erscheint uns jedenfalls, daß politische Themen bei der Einschätzung der Parteien und Kandidaten kaum eine Rolle spielten. Entweder man vertraut dem einen Caudillo oder eben dem anderen oder auch keinem (mehr). Dieser extreme Personenbezug wird scheinbar auch in dieser Wahl nicht durchbrochen. Weder die Frage nach der aktiven Einbindung Nicaraguas in internationale Handelsabkommen (z.B. CAFTA) noch die Umsetzung weiterer neoliberaler Forderungen wie die Privatisierung öffentlicher Daseinsvorsorge waren ein Thema in Bezug auf die Wahlen. Scheinbar wird dies unabhängig von der Regierung gesehen. Und obwohl die FSLN sich gegen neoliberale Politiken ausspricht, mangelt es vielfach an dem Vertrauen, daß die Partei unter Daniel Ortega diese Politik auch umsetzen kann oder will. Der Widerspruch zwischen Ortegas antiamerikanischer, linker Retorik und einer entsprechenden politischen Umsetzung zeigte sich kürzlich einmal mehr in der Ermöglichung der Implementierung des Freihandelsvertrags CAFTA. Die politischen Perspektiven der Globalisierung und internationaler linker Bewegung waren auf jeden Fall die spannenderen Themen unserer Gespräche. So haben wir viel diskutiert, ob die Prozesse in Europa und Nicaragua vergleichbar sind und wie sich unsere politischen Kämpfe miteinander verbinden lassen. Politische Perspektiven liegen für unsere Partnerorganisationen dabei zum einen in der Eigeninitiative selbstorganisierter Basisgruppen, die sich für die direkte Verbesserung der Über-Lebensbedingungen einsetzen.
Zum anderen in politischer Mobilisierung und Protestaktionen, mit denen direkte Forderungen an die Regierenden gestellt werden. So gab es auf nationaler Ebene im letzten Jahr sowohl die großen Proteste gegen die Privatisierung der Wasserversorgung (die bisher verhindert werden konnte) als auch gegen den Pakt und Korruption. Als Vertreterinnen der Frauenbewegung jedoch bei einer Demonstration gegen die Privatisierung auch ein Transparent gegen Korruption und Pakt entrollten, wurden sie von FSLN-Anhängern tatkräftig daran gehindert, ihre Meinung kundzutun.
Die wesentlichen politischen Bezugspunkte werden von vielen eher auf lokaler Ebene gesehen. So ist es für die Arbeit der Gruppen vor Ort besonders wichtig, dort ehrliche und kompetente PolitikerInnen zu haben, die tatsächlich versuchen, die Lebensbedingungen und Entwicklungschancen marginalisierter Gruppen zu fördern. Dabei lassen sich weder die Mitsprachemöglichkeiten von NGOs noch die Transparenz
der politischen Arbeit eindeutig an parteipolitischer Zugehörigkeit der Bürgermeister erkennen, vielmehr an deren persönlichen Interessen und politischem Stil. Klar war für uns aber auch diesmal, keine der Parteien im Wahlkampf aktiv zu unterstützen, sondern weiter ausschließlich mit unabhängigen Gruppen zusammen zu arbeiten, deren Politik wir in konkreten Aktivitäten unterstützen. Auch wir freuen uns über linke Wahlerfolge, egal ob in Lateinamerika oder hier, aber wie uns nicht zuletzt die Erfahrung hier in Deutschland gelehrt hat: Nur wer sich im politischen Lager als "links" einordnet, macht deshalb an der Regierung noch keine gerechtere Politik.


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