Stratis Myrivilis 

Am Vorabend

myrivilis


ndlich, morgen würde der große Tag anbrechen. Der kritische Tag seines Lebens, seines ganzen Lebens. Er rauchte eine Zigarette nach der andern, während er mit hochgezogenen Füßen auf seinem Schlafdiwan saß.
Schon längst hatte er sich angekleidet im Begriff, das dumpfe, melancholische Zimmer zu verlassen, aus dessen Fenster man kaum ein paar Meter weit hinausblicken konnte und in dem, wie in einem vollen Schulzimmer, ein unerträglicher Geruch herrschte. Als Lehrer kannte er ja diesen Geruch zur Genüge. Er wollte hinaus auf die Straße, sich unter die Leute mengen und hier sich selbst verlieren, seinen unruhigen Geist entspannen. In Gedanken versunken, saß er nun schon lange unentschlossen auf dem weichen Diwan. Er durchdachte noch einmal seine Hoffnungen, seine Träume, seine Freuden. Es ist zwecklos, das alles mit hinaus in das abendliche Gedränge der Athener Straßen zu schleppen. Hast du nicht gesehen, gerät all das zwischen die Beine der Volksmenge. An diesen heißen Sommerabenden bewegt sich niemand während des Athener Korsos mit dem Spazierstock unter dem Arm oder mit fantastischen Träumereien im Kopf. Man lasse lieber beides zu Hause. Es ist nicht richtig, so etwas mitten unter den flanierenden Spaziergängern herumzutragen. Man fällt nur auf und stört die Anderen.
Heute Abend war sein Kopf wieder einmal mit bunten, fantastischen Hoffnungen vollgepropft. Morgen wird endlich der große kritische Tag für ihn anbrechen: an diesem Sonntag soll die Festnummer der 'Literatur' mit dem Ergebnis des Romanwettbewerbs erscheinen. Schon seit zwei Jahren erwartete er diesen Abend, Tag für Tag. Dieser Abend der größten seelischen Prüfung war nun endlich da! Ein heißer Augustabend. Gleich wird die Sonne hinter der Akropolis untergehen, die Schatten werden immer länger, und die Straßen, die Boulevards werden sich mit fröhlichen Menschen füllen.
Vom Fenster aus konnte er ein ganz kleines Stück Himmel sehen. Ein nicht ganz gleichmäßiges Dreieck, wie eine Kulisse aus billiger blauer Pappe, die immer dunkler wurde. Bald wird das Dreieck tiefblau sein, wenn die heiße Nacht ihre Fittiche über die Stadt ausgebreitet hat. Eine riesengroße Blumenvase wird ihre dunkelblauen Veilchen über die weiße Stadt ausschütten. Dann kommt endlich der Sonntag, der lang erwartete. Aus der blauen Vase der Nacht erhebt sich ganz langsam eine zuerst rötlich schimmernde, dann weiß prangende Lilie, die bald wieder in Violettblau Übergeht. Sämtliche Glocken der Athener Kirchen erklingen, hinter dem Nationalgarten erhebt sich die Sonne, und ihre Strahlen bedecken alles mit einem festlichen Licht. Seinem Roman wird der sich auf sechzigtausend Drachmen belaufende Akademiepreis zugesprochen werden, und schon am gleichen Tage wird das erste Kapitel in der 'Literatur' erscheinen.
Das ist der Ruhm, der RUHM, mit großen Buchstaben geschrieben. Ein ganz sicheres Unternehmen, ohne Risiko. Was er selbst von seinem Werke hielt, spielte dabei gar keine Rolle. Aber er hatte sich etwas, ganz Schlaues ausgeklügelt, um festzustellen, was die Anderen darüber dachten. Das Ergebnis war volle Anerkennung. Ganz heimlich hatte er viele Monate, zwei Jahre lang an seinem Roman gearbeitet. Kein Mensch erfuhr davon, als er sein Manuskript 'Ihre erste Reise' an die Kommission für den Wettbewerb einschickte. Um die Sache möglichst geheim zu halten, hatte er jedes Kapitel des Romans einzeln immer einem anderen Schreibbüro zur Abschrift übergeben. Nur Fanny wußte um das große Geheimnis. Er und Fanny. Aber schlau, wie er war, konnte er trotzdem auch die Meinung seiner Berufskollegen hören. Er las ihnen einige Seiten seines Manuskripts als Stellen aus den Werken berühmter Autoren vor, indem er Zettel mit ganz kleinen Buchstaben zwischen die Seiten des betreffenden Buches legte. Es lag ihm dabei besonders daran, Stücke mit psychologischem Inhalt vorzulesen, ohne griechische Namen und Ortsbezeichnungen. Falls nötig, gab er seinen Helden sogar russische Namen, wie Wanjas oder Katja Prokopjewna.
"Kinder, wollt ihr, daß ich euch etwas von Dostojewski vorlese?" fragte er in gleichgültigem Ton seine Freunde, wenn der Augenblick gerade für das Experiment günstig war. Und mit der unschuldigsten Miene des Biedermannes öffnete er den Band 'Schuld und Sühne' oder ein anderes Werk des großen russischen Autors, in das er die ominösen Zettel hineingeschmuggelt hatte.
Diese Szene spielte sich gewöhnlich in einem der zahlreichen Kaffeehäuser unterhalb der Akropolis ab, in der Nähe der Schule, in der die jungen Leute angestellt waren.
"Gut," erwiderten die anderen Lehrer, "damit die Zeit schneller vergeht!"
Sie falteten die Zeitungen zusammen und stellten das Tavli-Spiel beiseite.
Papadopulos setzte sich stets auf einen Stuhl an der Wand, um den Anderen nicht zu nahe zu sein. Er öffnete seinen Dostojewski und las ihnen ein Stück aus seinem eigenen 'Werk' vor. Alle waren begeistert.
"Seht ihr," sagte der Kyrios Kalabakas, der Rektor der 7. Volksschule, der immer sämtliche Feuilletons der oppositionellen Presse las, "das lasse ich mir gefallen! Man merkt sofort, daß so etwas aus der Feder eines bedeutenden Schriftstellers stammt. Bis wir in Griechenland mal so etwas schreiben können, müssen wir noch manchen Laib Brot verzehren ..."
"Aber unser Papadiamandis [Gründer der neugriechischen Novelle (1851-1911), von der Insel Skiathos stammend.]..." protestierte bescheiden Papadopulos. Kalabakas warf ihm einen fast wütenden Blick zu. Erregt ergriff er einige Steine des Tavli-Spiels, als wolle er sie dem Dichter aus Skiathos an den Kopf werfen.
"Was? Papadiamandis? Unsinn! Wir haben keinen, aber auch gar keinen! Damit ein Roman von Bedeutung zustande kommt, muß vorher das soziale Leben eines Volkes zu einem gewissen Abschluß gekommen sein. Bei uns ist noch alles in der Entwicklung. Wir äffen nur die Anderen nach. Wir schreiben für die Affen."
Dann setzte er die Steine des Spieles, und bevor er einen Sprung wagte, sagte er triumfierend:
"Selbst wenn ihr sämtliche Werke unseres Papadiamandis durchlest, werdet ihr nicht eine einzige Szene finden, die an Schönheit der Stelle gleicht, wo sich Vanjas mit Katja über die Liebe unterhält ... Heißt sie nicht Katja?"
"Jawohl, Katja Prokopjewna”, entgegnete Papadopulos mit Herzklopfen.
"Richtig. Katja Prokopjewna. Einmal eins ist eins, und zweimal zwei ist vier. Darüber braucht man überhaupt nicht zu diskutieren. Chauvinismus in Fragen der Literatur zeugt von völliger Unkenntnis der höheren Kunst. Hab' ich nicht recht, Kinder?" rief Kalabakas laut, seinen ihm gegenüber sitzenden Kollegen mit weit geöffneten Augen anstierend. "So ist es", gaben die Lehrer einstimmig zu. "Hier haben wir ein Meisterwerk vor uns. So weit sind wir noch lange nicht."
"Das mein' ich auch."
Schließlich war auch Papadopulos damit einverstanden. Beinahe hätte er vor Rührung geweint und die Kollegen abgeküßt, vor allem den Herrn Rektor mit der lauten und resoluten Stimme. Dabei empfand er aber etwas wie Mitleid für Papadiamandis, das sein Gewissen fast belastete. Schicksal, dachte er. Einmal mußte sich doch einer finden, der ihn an dichterischer Kraft übertraf. Das ist doch klar.
Fanny aber wußte ganz genau, was los war. Sie kannte das ganze Werk fast auswendig. Sie verfolgte es von Anfang an, sie nahm teil an der allmählichen Gestaltung des Romans, den beide. wie ihr Kind behandelten, das Kind ihrer Liebe. Sie unterhielten sich über die Einzelheiten des Romans, als handle es sich um ihre zartesten Liebesgefühle.
Er las ihr vor und freute sich, zu beobachten, wie seine Rührung sich in ihren Augen widerspiegelte. Sie ergriff plötzlich seine Hand und blickte ihn begeistert an.
"Du bist wirklich ein großer Schriftsteller", sagte sie zärtlich. Er hörte sie ruhig und siegesbewußt an, auf ihre Händchen leise Küsse drückend, als schlürfe er kleine Tröpfchen frischen Wassers.

Eines Abends — sie saßen beide auf den am Fuße des Filopappos-Hügels in den Felsen eingehauenen antiken Sesseln — fragte sie ihn:
"Warum legst du dir eigentlich nicht ein Pseudonym bei? Wie herrlich wäre es, die Leute zeigten mit den Fingern auf dich und sagten: 'Das ist der Dichter Nikis Asteris'."
Er lächelte und blickte ihr in die Augen, in denen die Strahlen der untergehenden Sonne schimmerten, dann schaute er in die Ferne, in die goldenen Fluten des Saronischen Golfes.
"Nein," sagte er, "kommt gar nicht in Frage."
Davon wollte er absolut nichts wissen. Im Gegenteil. Er wird niemals seinen Namen ändern. Mit diesem, mit dem Namen Nikos Papadopulos wird er sich das Publikum erobern. Gewiß, es gibt keinen andern Namen, der so allgemein, so abgebraucht wäre. Schaut man die Wählerlisten - durch, so entdeckt man, daß die Hälfte aller Griechen Nikos Papadopulos heißt. Aber das ist es ja gerade! Ab Sonntag, 15. August, ist alles ganz anders. Dieser farblose Name, der gar nichts bedeutet, der so unpersönlich ist wie kein anderer, der zu jedem Menschen paßt wie ein Faschingsdomino, bekommt an diesem Tage einen einzigartigen Inhalt. Er wird zum Symbol der Kunst, zur ästhetischen Devise in der griechischen Literatur. Dieser unbedeutende, nichtssagende Name wird wie ein Meteor über Griechenland schweben, und die Leute werden sich den Hals verrenken, um ihn zu sehen. Der Name Nikos Papadopulos wird als eine goldgestickte flatternde Fahne am Himmel wehen, den sie halb verhüllen wird. Ein Komet, der in der Nacht aus dem Dunkel der Existenzlosigkeit heraustritt und plötzlich in der Mitte des. Firmamentes stehen bleibt wie ein König, dessen silberner Krönungsmantel, besetzt mit Stickereien von rosenfarbenen Sternen, sich über die Menschheit ausbreitet. Er selbst, Nikos Papadopulos, wird seinem Namen Sinn und Licht verleihen. Was würde heute der Name des Nationaldichters Solomos bedeuten, hätte nicht dieser selbst ihn empor zum Himmel gehoben. Ganze Schwärme von Fischen haben den gleichen Namen [Dionysios Solomos (1798-1857), Dichter der griechischen Nationalhymne, 'Solomos' heißt übersetzt 'Lachs'], Millionen von Fischen. Und wenn man ihn einmal geschrieben sah, dann doch nur in einer Zeitungsreklame oder auf einer blechernen Konservenbüchse. Da meldet sich auf einmal der große Dichter und verwandelt seinen Namen in einen Stern, der über Hellas leuchtet. Ein Name, der bisher nach Fisch und nach Fischrogen roch. So ist es doch. Ein Pseudonym ist der größte Unsinn. Der Künstler, der etwas leisten will, schmiedet seinen Namen genau so wie sein Werk. Wenn er das nicht fertig bringt, dann bleibt er auch mit seinem Decknamen eine Null. Und wenn das Pseudonym zufällig einen höheren und. wertvolleren Sinn hat als seine Leistung, dann bleibt dieses schließlich an ihm haften wie ein satyrisches Epigramm. Das ist ja gerade sein Geheimnis: Nikos Papadopulos. Nicht anders! Wer kennt heute den armseligen  Schulmeister der 7. Volksschule von Athen-Süd? Seine drei Kollegen und Herr Kalabakas, der Rektor. Aber ab morgen kennt ihn ganz Griechenland. Nikos Papadopulos der Einzige, der Autor des Romans 'Ihre erste Reise'. Ein ganzes Volk wird seine Kunst genießen, klopfenden Herzens, und vor Rührung weinen. Denn in diesem Werke leben die Leiden und Freuden, die Sehnsüchte des hellenischen Volkes. Der Herausgeber der Zeitschrift 'Die Literatur' wird eine Unmenge von Zuschriften erhalten, so daß er sich kaum noch auskennt. 'Das ist ja ein herrliches Werk, dieser Roman! Könnten Sie nicht jeder Fortsetzung noch einige Spalten hinzufügen?' In einer Zuschrift — er weiß, von welchem zarten Händchen sie geschrieben ist — wird es heißen: "Solange der Roman 'Ihre erste Reise' noch läuft, bringen Sie bitte in Ihrer Zeitschrift keinen anderen Stoff".
Wie er sie liebte! Er nannte sie 'das Mädchen'. Es gab für ihn kein anderes Mädchen auf der Welt. Er verglich sie mit einer jungfräulichen Rose, die nur für ihn blühte. Sie wohnte in seiner Nachbarschaft, zu Füßen der Akropolis. Gesangstunden im Konservatorium waren ihre Hauptbeschäftigung. Eine zierliche Brünette, trug sie gewöhnlich ein weißes Kleid und unter dem Arm die Partiturhefte. Mit ihrer weichen und lieblichen Stimme nahm sie an allen Veranstaltungen des Konservatoriums teil. Wenn beide abends heimlich auf die Akropolis oder auf den Lykavittos stiegen, sang sie ihm leise einige kleine Lieder vor, dicht an ihn geschmiegt, schlank wie eine weiße Lilie. Sie liebte ihn und hatte ihm versprochen, seine Frau zu werden. Er hatte es aber nicht so eilig, weil er es zuerst zu etwas bringen wollte. Das Dasein eines unbekanntem Lehrers genügte ihm nicht. Er scheute die Anonymität der breiten Massen, die wie der Straßenkot weder Form noch Persönlichkeit besitzen. Sein Ideal war die vollendete Form. Außerdem würde es Fanny vorläufig noch nicht wagen, vor ihren Vater hinzutreten und ihn um seinen Segen zu bitten; hatte er ihr doch wiederholt erklärt, daß er sie nicht dem ersten besten Gatten anvertrauen werde. Ihr Vater war Staatsanwalt und legte auf Vermögen gar keinen Wert. Er wünschte sich einen Schwiegersohn mit einem Namen, wie er selbst ihn besaß, der in den Kreisen der Juristen durch die Herausgabe seines Werkes 'Die Kriminalität der Jugend' kein Unbekannter war.
Sein Plan war also, sich sofort nach der Verleihung des Romanpreises zu seinem zukünftigen Schwiegervater zu begeben. Er malte sich schon jetzt in seiner Fantasie alle Einzelheiten dieses Besuches aus: zum ersten Mal wird er stolz jenes große Amtsgebäude mit dem eisernen Tor betreten. Höflich, aber mutig grüßend wird er mit einem freundlichen Lächeln den Herrn Staatsanwalt anreden:
"Herr Furtidis, ich heiße Nikos Papadopulos. Ich bin Lehrer an der 7. Volksschule."
Jener hebt seinen viereckigen Kopf und fragt ihn kühl und ernst mit tiefer, gleichgültiger Stimme:
"Freut mich sehr. Womit kann ich Ihnen dienen, mein Herr?"
Er lächelt immer noch. Sein Herz klopft schneller, und schlau und naiv wird er antworten:
"Ich möchte Sie um die Hand Ihrer Tochter bitten."
Bums! Der Staatsanwalt hebt seine buschigen Augenbrauen und blickt ihn an, als habe er es mit einem Verrückten zu tun. Er aber meistert sofort die Lage und wird mit ein paar Worten alles erklären:
"Ich vergaß, Ihnen zu sagen, daß ich der Autor des Romans 'Ihre erste Reise' bin, dem der panhellenische Preis für Prosa zuerteilt wurde." So und nicht anders.
Die Brauen des Herrn Staatsanwalts werden sich sofort senken. Er wird sich von seinem Lehnstuhl erheben und den 'Autor' an seine breite Brust drücken. Beide weinen vor Rührung. Alles in Butter. Dann nimmt er am gleichen Abend seine Fanny unter den Arm, um mit ihr auszugehen. Ganz ungeniert unter die Leute. Feuchten Auges geht sie neben ihm her, stolz und glücklich, in ihrem schmucken weißen Kleide. An einem der nächsten Tage wird er zusammen mit Fanny den Schwiegervater im Büro besuchen. Beim Verlassen des Zimmers ruft ihm dieser zu: "Herr Papadopulos, einen Augenblick! Sie haben hier etwas liegen lassen."
Der Staatsanwalt hält in seiner Hand einen großen, mit drei roten Stempeln aus Siegellack versehenen Briefumschlag, den er ganz unbemerkt, als der Vater bei der Begrüßung seine Tochter küßte, auf den Schreibtisch gelegt hatte.
"Das da haben Sie vergessen", wird Herr Furtidis sagen.
Der Lehrer bleibt an der Tür stehen, tut erstaunt und läßt sich das Kuvert reichen, indem er harmlos sagt:
"Ach so! Es ist nichts Besonderes. Ich möchte Sie nur bitten, es 'uns' aufzubewahren. Es ist der Erste Preis des literarischen Wettbewerbs, der mir zugesprochen wurde. 60000 Drachmen. Mein Hochzeitsgeschenk für Fanny."
Wie herrlich! Wie schön!
Mit einer heftigen Bewegung erhob er sich von seinem Diwan. Ein solches Glück kann man nur im Stehen richtig genießen. Er streckte ein paarmal seine Arme in die Höhe und ließ sie wieder fallen. Eins zwei, eins zwei. Er fühlte in sich den Drang, seine Muskeln zu stählen. Warum auch nicht? War er denn nicht wie ein Athlet, der dem Siege zustrebte? In seinem Herzen herrschte ein Freudentaumel wie in der Osternacht, wenn die seidenen Kirchenbanner über der Prozession des Triumfes der Auferstehung des Herrn wehen. Niemals war er so festlich gestimmt wie heute. Er warf einen Blick in den Spiegel. Selbstbewußt lächelte er sich selbst an. Und der Andere antwortete ihm mit dem gleichen Lächeln der Gewißheit der kommenden Dinge. Beide waren im Einverständnis miteinander. Er schob seine Krawatte zurecht und verließ das Zimmer, einen Gassenhauer vor sich hin pfeifend, der ihm seit dem frühen Morgen, kaum daß er erwacht war, beständig in den Ohren klang:
Ich freue mich, ich freue mich, ich freue mich darüber;
In Händen hab' ich's, doch ich such's und such' es immer wieder.
Bald dehnte sich vor ihm in ihrer ganzen Länge die Stadionstraße aus, voller Menschen, Autos und Lichtreklamen. Eine süße, warme Augustnacht, die ihn mit ihren blauen, grünen, gelben und roten Augen verführerisch anblickte, ihm mit ihren festlichen silbernen Tönen in die Seele drang und mit ihren bezaubernden Düften entzückte, wie das nur in dieser Athener Prachtstraße in dunkeln Sommernächten möglich ist. Daneben ein sonderbarer, nicht unsympathischer Geruch, der den schönen Frauen und dem verbrannten Benzin entströmte. Wieder einmal fühlte er, wie die Poren seiner Haut jenes schmerzhaft wollüstige Fluidum aufnahmen, das seinen Ursprung in den gleich feurigen Flammen züngelnden Augen der schlanken Töchter Athens hat. Warum blitzen besonders in den ersten Stunden der Sommernacht auf der Stadionstraße die Augen der Schönen? Warum brennt gerade in der Nacht in diesen Augen eine solche göttlich-weibliche Flamme? Vielleicht, weil jede anbrechende Nacht ein Versprechen ist, dem Erfüllung bevorsteht. Diese Lider, sie öffnen und schließen sich, sie spielen wie die Flügel von Tausenden schwarzer Schmetterlinge. Diese Augen werfen dir ganz zufällig oder auch mit Absicht einen Blick zu, und in allen nistet der heiße Durst der Athener Sommernacht.Vor einem hell erleuchteten Schaufenster blieb er stehen, wie betäubt von seinem Glück. Eine Frau in ihren besten Jahren, in der ernsten Pracht ihres dunklen Kleides, ging an ihm vorüber. Sie sah ihn mit ihren pechschwarzen, Funken sprühenden Augen an. Es war ihm, als streiften ihre Augenlider seine durstigen Lippen. Unwillkürlich lächelte er. Die schöne Frau ließ ihn nicht ganz unbeachtet, und als sie vorüber war, drehte sie sich um und schaute ihm noch einmal ins Gesicht. Etwas erstaunt und etwas spöttisch. Möglich, daß sie ihn für einen jener faden Schürzenjäger hielt, die zu jener Stunde die Hauptstraßen der Stadt unsicher machen, indem sie den Frauen und Mädchen zweideutige Redensarten ins Ohr flüstern. Ein gewaltiger Irrtum. Denn in der Stimmung, in der er die Wonnen der Sommernacht genoß, hatte in seinem Herzen nur seine Fanny Platz, mit der  er Liebe und Ruhm teilte. Hoch über den Tausenden schöner Frauenaugen, die ihm zulächelten, schwebten zwei dunkle Augensterne voller Güte und Liebe, die ihn von jeder Versuchung fern hielten.
An einer großen, hell erleuchteten Reklameuhr stellte er fest, daß er noch eine halbe Stunde Zeit bis zu seinem Rendezvous mit Fanny hatte. Bald erreichte er das Gebäude, in dem sich die Büros der 'Literatur' befanden. Er blieb stehen und blickte empor zu dem Balkon, an dem in großen archaischen Buchstaben der Titel der Zeitschrift angebracht war. Im Innersten erregt, sah er die lange Reihe der erleuchteten Fenster zählreicher Büros des bekannten Verlages, der unter anderem auch die Zeitschrift 'Die Literatur' herausgab. All die Leute dort oben waren fieberhaft tätig, um den großen Tag, der in einigen Stunden anbrechen sollte, vorzubereiten. Ohne Zweifel waren die vielen Exemplare der Zeitschrift schon längst ausgedruckt und in großen Haufen aufgestapelt, in Großformat, der Umschlag geschmückt mit den bekannten ziegelroten Buchstaben. In diesem Heft wird das Urteil der Jury enthalten sein, mit s e i n e m Namen und mit dem Beginn seines Romans. Das erste Kapitel ist ohnehin nicht allzu lang. Es könnte leicht in e i n e r Nummer der Zeitschrift unterkommen. Das wäre schon deshalb gut, weil es zum Verständnis der Gesamtentwicklung des Werkes eine Art Schlüssel darstellt. Und was für eine hohe Poesie steckt gerade in diesem ersten Kapitel! So oft er es Fanny vorlas, verlor am Schluß seine Stimme vor Rührung ihre Festigkeit, und die Augen des Mädchens wurden feucht. So ging er vier- oder fünfmal wie eine nächtliche Schildwache an der Front des großen Verlagsgebäudes hin und her, unterhalb der goldenen Buchstaben des Titels der Zeitschrift. Er war von ihrer Farbe, der Farbe der Morgenröte, wie verzaubert. Wie erwartete er doch diese Morgenröte! In seinem Geiste sah er das Innere der Redaktionszimmer, der Administration der Zeitschrift, all die guten und fleißigen Menschen, deren Schatten er zuweilen an den hell erleuchteten Fenstern vorbeihuschen sah. Sie alle arbeiteten wie die Bienen für seinen Ruhm, für seinen Sieg.
Er warf nochmals einen Blick auf die großen Buchstaben mit der Farbe der Morgenröte. Und als er endlich in das strahlenförmige Gewirr der Straßen und Gassen, die sich vom Omonia-Platz aus nach allen Richtungen erstrecken, einbog, um die Musikhochschule zu erreichen, wo ihn das Mädchen erwartete, hörte er noch lange Zeit den Lärm, den festlichen Klang — das war es für ihn — der Stadion-Straße, die Stimme Athens, diese bezaubernde Stimme, der klopfenden Herzens ganz Hellas lauscht, denn sie allein hat über das Geschick des Landes zu entscheiden. [Auf der Stadionstraße liegen das Parlamentsgebäude, die Ministerien des Innern und der Finanzen.] Sie klang ihm in die Ohren wie ein Triumfgesang, wie ein tausendstimmiges Chorlied. Diese mächtige Stimme wird morgen einen Namen erklingen lassen, den alle hören und dessen sich alle für immer erinnern werden.
Dann wird seine Fanny nicht mehr die heimliche Liebe sein, der er sich an den dunklen Abenden nur unter Zuhilfenahme aller nur erdenklichen Vorsichtsmaßregeln für eine oder zwei Stunden zu nähern wagt. Nein, ganz offen vor aller Welt wird er mit ihr Arm in Arm die lange Stadionstraße in den Stunden des größten Gedränges des Athener Korsos von dem einen zum andern Ende dahinschreiten, um sie wie eine kostbare Kriegsbeute allen Leuten zu präsentieren.
Er brauchte nur fünf Minuten zu warten, da sah er sie schon mit ihrem tänzelnden Schritt die Marmortreppe des Konservatoriums herabkommen. Er war außer sich vor Freude, wie ihre von den vielen Lichtern der Schule noch geblendeten Augen ihn im Halbdunkel der Straße suchten. Er trat aus dem Winkel, in dem er sich verborgen hatte, hervor, begrüßte sie, und sie verschwanden, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen, in den benachbarten, unbeleuchteten Gassen.
Sie erzählte ihm von einem Opernabend, den das Konservatorium vorbereitete. Auch sie werde daran teilnehmen. Heute habe sie sich entschlossen, die Probe zu schwänzen, um mit ihm bis 10 Uhr zusammenbleiben zu können. Ihre Stimme rauschte ihm wie frisches Quellwasser in den Ohren.
Trotz der Dunkelheit blieb ihm nichts an ihr verborgen. Von der Seite beobachtete er ihr Gesichtehen. Er fühlte mit Wonne, wie ihre Hand, als rede sie von der Liebe, die seine immer wieder zärtlich drückte. Und als er ihr ins Gesicht blickte, leuchteten ihre weißen Zähne wie die Milchstraße am Firmament. Plötzlich sahen sie vor sich eine kleine Taverne. Sie blieben stehen. Im Garten fünf, sechs Bäume, einige trübleuchtende Lampions und unter jedem Baum ein kleiner Tisch. Sie gingen hinein, setzten sich in die entlegenste Ecke und bestellten Früchte in Eis. Sie rückten die Stühle, auf denen sie saßen, dicht nebeneinander und fühlten sich wie im siebenten Himmel. Er erkundigte sich nach den Einzelheiten des geplanten Opernabends. Man bereitete die Oper 'Manon' vor, sagte sie, mit prächtigen Bühnenbildern, herrlichen Kostümen und einer künstlerischen Regie. Es handle sich um ein 'musikalisches und gesellschaftliches Ereignis'. Er redete nicht. Er hörte ihr nur zu und blickte sie immer wieder an. Er fühlte, wie er alles an ihr so heiß liebte. Ihre kleinen Händchen, die, zierlichen Gesichtsbewegungen, die Augen, die sich gleich Nachtblumen in der Dunkelheit öffneten und schlossen, das leichte Zucken der Augenlider. In der Dunkelheit glänzte ihr weißes Kleidchen wie ein blauer Lichtflecken. Er schlang seinen Arm um ihre Taille. Auf einmal unterbrach sie das Gezwitscher ihrer Rede und streichelte ihm beide Hände. Indem sie nach Art der kleinen Kinder plötzlich das Gesprächsthema änderte, sagte sie: "Heute habe ich mir diese Schuhe gekauft. Gefallen sie dir?"
Er blickte auf ihre Füße, an denen ein Paar neuer weißer Schuhe schimmerte. Sie kamen ihm vor wie ein untrennbares Stück der Persönlichkeit des geliebten Mädchens, wie zwei weiße Tauben, die womöglich im Begriff waren, im Dunkel der ruhigen Nacht davonzufliegen. Ei; hätte sie am liebsten an sich gedrückt, um sie zärtlich zu streicheln.
"Wie ich dich liebe, Fanny, wie ich dich liebe!" sagte er leise. Er küßte ihr das Haar, tauchte sein Gesicht in ihre dunklen Locken und atmete geschlossenen Auges das betäubende Aroma ein, einen Duft wie von frischen Anemonen. Ihre Schultern bebten leicht unter seinen Küssen.
"Ich habe", sagte sie, "so viel von mir erzählt. Jetzt mußt auch du mir noch etwas über deinen Roman berichten. Heute abend werde ich wohl sehr spät einschlafen, weil ich immer an unseren großen Tag, der nun bald anbricht, denken muß ..."
Da sprach er wieder von seinem Roman 'Ihre erste Reise', dessen Entstehung und Inhalt so eng mit der Geschichte seiner Liebe zu ihr verknüpft war. Sie sei die Heldin des Romans, die ihre erste Reise unternehme, die erste Reise der Liebe. Er selbst sei der Besitzer und der Kapitän des wunderbaren Schiffes seiner dichterischen Fantasie. Und wohin werde er nicht überall zusammen mit ihr segeln! In eine Welt, zu der nur sie beide Zugang hätten, von der alle anderen Menschen nichts ahnten. Sie sei die Königstochter des Märchens, die unter seiner Führung und unter seinem Schutz alle Herrlichkeiten der Welt schauen werde. Dann erzählte er ihr von dem Lichte, das von dem Balkon der Büros der 'Literatur' in die Dunkelheit strahlt. Wie er unten vor dem Gebäude stand, wie seine Seele beim Anblick der hell erleuchteten Stockwerke des Verlages erzitterte, und wie seine trunkenen Augen das Leben und Treiben hinter den Vorhängen der großen Fenster ziemlich deutlich unterscheiden konnten. Ja, noch mehr. Er habe gesehen, wie sich eine Hand erhob und den Mitarbeitern etwas wie ein Diplom entgegenhielt, offenbar das Urteil der Jury, in dem ihm der Literaturpreis zugesprochen wurde. Morgen nachmittag werde er zu ihrem Vater gehen, um ihn um ihre Hand zu bitten. Er umarmte sie. An ihrem nackten Arm kühlte er seine heißen Wangen. Es war ihm, als habe er in seinen Armen ein großes Bukett von weißen Rosen. Dieses Gefühl wich nicht von ihm, als er sie dann bis zu ihrer Wohnung begleitet und sich von ihr verabschiedet hatte. Ein Gefühl greifbaren Lichtes, greifbaren Frühlingshauches.
Am liebsten hätte er sie mit seinen kräftigen Armen hoch in die Luft emporgehoben, wie einen Blumenstrauß, wie eine Siegestrofäe, um sein großes Glück allen Athenern vor Augen zu führen. "Hier ist sie, meine Fanny! Die Heldin meines preisgekrönten Romans 'Ihre erste Reise'." Sie streichelte ihm die Stirn. Es war ihm, als segne sie ihn.
"Du," sagte sie, "erzähle mir doch noch einmal die Szene an der Küste, wie der Kapitän mit der Heldin des Romans über die Liebe spricht." Gern erfüllte er ihre Bitte:
"Schön! Hör' also! Sie sagt ihm: 'Ich bin nur ein einfaches, bescheidenes Mädchen. Nichts anderes. Eine Knospe öffnet sich in meinem Herzen, ein mildes, helles Licht umgibt mich seit dem Tage, da ich dich zum ersten Mal sah. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Ich lächle ständig alle Leute an, die mich vielleicht deshalb für blöd halten. Ich öffne meine Arme und glaube, es seien Flügel und ich könne fliegen. Ich kann dir das alles nicht so erklären, wie ich möchte. Es ist wie mit der Musik: das Ohr hört, und das Herz empfindet eine große Sehnsucht, eine tiefe Freude, und doch weint es. Es ist wie mit dem Sommerregen: mitten in der finsteren Nacht fällt er auf das frische Laub; man hört ihn in der Dunkelheit, von Furcht gepackt, und doch lächelt man. Zuweilen hört man aus der Ferne feine, leise Stimmen, die dir Trost ins Herz senken. Aber das Herz krampft sich in der Brust zusammen, und man wünscht zu sterben. Was ist das eigentlich? Was ist das? So angenehm und doch zugleich so quälend? Wie ist das zu erklären?' — Und der Kapitän antwortet ihr: 'Das ist die Liebe. Die Liebe ist der Atem Gottes, den er dem Menschen, als er ihn schuf, eingehaucht hat. Die Liebe ist das Leben der Seele. Ohne sie hat die Seele kein Leben. Sie verdorrt und verwelkt. 'Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele?' Die Liebe schwebt über allem Bösen, über allem armseligen Elend des konventionellen Lebens. Sie ist Geist und findet überall hin ihren Weg. Sie klopft an die Scheiben, an die Fensterläden, und niemand kann ihr den Eintritt verwehren. Alle Weisheiten, alle menschlichen Berechnungen und Pläne werden vor ihr, zunichte. Das schwache Herz des Menschen fühlt sich angesichts ihrer Macht erleichtert, denn die Liebe hat keine Hintergedanken. Ihr Flügelschlag ist überall vernehmbar und erfüllt die Luft mit süßer Hoffnung. Es ist, als ertönten und rauschten alle Flöten, alle Nachtigallen, alle Quellen im Liede, zum Preise der allmächtigen Liebe'."
Fanny ergreift seine Hand. Ihre Augen werden feucht. Leise sagt sie: "Wirklich, so ist es. Das ist alles so schön und so wahr. Ach, könnte ich doch das alles im Liede zum Ausdruck bringen! ... Und nun erzähle mir noch einmal, welches das weitere Schicksal des Paares, des Kapitäns und seiner Rahel, ist."
Papadopulos hört sein Herz wie eine Glocke, die zur Frühmesse läutet, schlagen. Und noch lange schildert er ihr — er kann sein Manuskript fast auswendig — in allen Einzelheiten die weitere Entwicklung und den tieferen Sinn seines Erstlingswerkes.
Endlich schweigt er.
Ein sanftes Lüftchen weht über ihnen durch die frischen Äste des Mispelbaumes.
Das Mädchen küßt ihn zärtlich auf die Stirn und blickt ihn fragend an. Er bemerkt in ihren großen Augen ihren Zweifel.
"Nikos, bist du gewiß, daß ich die Heldin deines Werkes bin?" Erstaunt über ihre Frage faßt er sie an beiden Händen, als fürchte er, sie werde ihm entfliehen:
"Ja, Fanny, du bist meine Rahel und die Heldin meines Romans 'Ihre erste Reise'. Nur du." —

Die vom schweren Duft der sommerlichen Früchte schwangere Augustnacht des sternengeschmückten Athener Himmels nähert sich ihrem Ende. Die Morgenröte erhebt sich, und über den noch leblosen Straßen und Plätzen der Großstadt erlöschen die elektrischen Bogenlampen mit ihrem bläulichen Licht. Es ist Sonntag. Alles verläuft programmgemäß nach dem Willen des Schöpfers. Um 10 Uhr rufen die Zeitungsjungen mit lauter Stimme die Festnummer der 'Literatur' mit dem Resultat des Wettbewerbs für Prosa aus. Aber 'Ihre erste Reise' befindet sich nicht unter den preisgekrönten Werken.
In dem Rechenschaftsbericht der Jury wird das Manuskript nur mit ein paar Zeilen erwähnt. Man bezeichnet es als 'ein ungleichmäßiges Werk, ohne architektonischen Aufbau, ohne ein gesundes Verhältnis der einzelnen Teile zum Ganzen. Das Werk einer zügellosen Fantasie, ein höchst unwahrscheinlicher Stoff. Wir hoffen, daß der Autor, der nicht ganz ohne Talent ist, noch jung ist. Denn als Arbeit eines Anfängers...'