Anatole France:
Der Statthalter von Judäa
L. Aelius Lamia stammte aus einer vornehmen römischen Familie. Er
ging schon in jungen Jahren nach Athen, um dort Filosofie zu studieren.
Dann kehrte er nach Rom zurück und führte in seinem Hause auf
dem Esquilin mit anderen jungen Wüstlingen ein ausschweifendes
Leben.
Eines Tages wurde er angeklagt, mit Lepida, der Frau des Konsulars
Sulpicius Quirinus, sträfliche Beziehungen zu unterhalten, und da
er schuldig befunden wurde, schickte Tiberius Caesar ihn in die
Verbannung. Er war damals gerade vierundzwanzig Jahre alt. Während
der achtzehn Jahre, die seine Verbannung dauerte, bereiste er Syrien,
Palästina, Kappadokien, Armenien und hielt sich lange in
Antiochia, Caesarea und Jerusalem auf. Als Tiberius gestorben und Gaius
römischer Kaiser geworden war, setzte er es durch, wieder nach Rom
zurückkehren zu dürfen. Sogar ein Teil seines Vermögens
wurde ihm wieder ausgeliefert.
Das Unglück hatte ihn weise gemacht. Er mied jeden Verkehr mit
Frauen von zweifelhaftem Ruf, bewarb sich nicht um öffentliche
Ämter und Auszeichnungen und lebte völlig zurückgezogen
in seinem Hause auf dem Esquilin. Er begann alles, was er auf seinen
vielen Reisen gesehen und erlebt hatte, aufzuzeichnen, um, wie er zu
sagen liebte, in den Leiden der Vergangenheit eine Zerstreuung für
die Gegenwart zu finden. Unter diesem friedlichen, beschaulichen Leben,
unter dem emsigen Studium der Schriften Epikurs, fühlte er
allmählich mit schmerzlichem Erstaunen, daß er alt wurde. In
seinem zweiundsechzigsten Jahr begann er an Reumatismus zu leiden und
suchte die Bäder von Baiae auf, die damals von den reichen
vergnügungssüchtigen Römern viel besucht wurden.
Er hatte etwa eine Woche einsam und zurückgezogen inmitten dieser
glänzenden Gesellschaft gelebt, als er eines Tages Lust bekam, die
Hügel zu durchstreifen, die, mit Weinlaub bekränzt wie
Bacchantinnen, sich am Flusse entlang ziehen. Auf einer Höhe
angelangt, setzte er sich am Rande eines schmalen Weges unter einem
Baum nieder und ließ seinen Blick über die herrliche
Landschaft schweifen. Zur Linken dehnten sich endlose graue Felder bis
zu den Ruinen von Cumae hin, zur Rechten ragte das Kap Misenum wie ein
spitzer Dorn ins Meer hinein. Vor ihm, gegen Westen, lag das reiche
Baiae mit seinen Gärten und Villen. Die Säulenhallen und
weißen Marmorterrassen reichten bis an das blaue Meer hinab, in
dessen Fluten Delfine spielten.
Lamia zog eine Pergamentrolle aus den Falten seiner Toga, streckte sich
auf dem Boden aus und begann zu lesen. Plötzlich schreckte ihn der
Zuruf eines Sklaven, der ihn aufforderte, einer vorüberkommenden
Sänfte Platz zu machen, auf. Als die Sänfte näher kam,
sah er auf ihren Kissen einen Greis ruhen. Er hatte den Kopf mit der
mächtigen Adlernase und dem vorspringenden Kinn auf die Hand
gestützt und blickte stolz und finster um sich.
Lamia wußte auf den ersten Blick, daß er dies Gesicht
kannte. Aber des Namens konnte er sich nicht gleich entsinnen. Dann
plötzlich stürzte er voll freudiger Überraschung auf die
Sänfte zu und rief: »Pontius Pilatus, den Göttern sei
Dank, daß sie mir die Gnade gewähren, dich
wiederzusehen.«
Der Greis gab seinen Sklaven ein Zeichen, zu halten, und blickte Lamia durchdringend an.
»Pontius, mein treuer Gastfreund«, fuhr dieser fort,
»haben die zwanzig Jahre mein Haar so gebleicht und meine Wangen
so gefurcht, daß du deinen Aelius Lamia nicht
wiedererkennst?«
Bei diesem Namen stieg Pilatus aus der Sänfte, so rasch es ihm die
Schwerfälligkeit seines Alters erlaubte. Dann küßte er
Lamia zweimal auf die Wange.
»Es ist mir eine große Freude, dich wiederzusehen«,
sagte er. »Ach, dein Anblick erinnert mich an jene längst
vergangenen Zeiten, da ich Statthalter von Judäa war. Es sind
jetzt dreißig Jahre, daß ich dich zum erstenmal in Caesarea
sah. Ich freute mich, dir die Leiden deiner Verbannung etwas
erleichtern zu können, und du, Lamia, folgtest mir aus
Freundschaft in jenes trostlose Jerusalem, wo die Juden mir das Leben
verbitterten. Über zehn Jahre warst du mein Gast, wir sprachen
zusammen von Rom und trösteten einander, ich dich über dein
Unglück, du mich über meine glänzende Stellung.«
Lamia schloß ihn von neuem in die Arme: »Du hast nicht
alles gesagt, Pontius: Du sprichst nicht davon, daß du deinen
Einfluß bei Herodes Antipas zu meinen Gunsten aufbotest und mir
deine Börse freigebig zur Verfügung stelltest.«
»Laß uns davon nicht mehr weiter sprechen«,
entgegnete Pontius, »du sandtest mir später von Rom aus eine
Summe, durch die deine Schuld mit Wucherzinsen getilgt war.«
»Pontius, was du an mir getan hast, kann nicht mit Gold
aufgewogen werden. Aber jetzt sage mir: Haben die Götter deine
Wünsche erfüllt? Ist dir das Glück zuteil geworden, das
du verdienst? Erzähle mir von deiner Familie, deinem
Vermögen, deiner Gesundheit!«
»Ich habe mich auf meine Güter in Sizilien
zurückgezogen, wo ich jetzt Getreide baue und es verkaufe. Meine
älteste Tochter, meine treue Pontia, lebt bei mir, seit sie Witwe
geworden ist, und führt mir den Haushalt. Mein Geist ist immer
noch ungebrochen, den Göttern sei Dank, mein Gedächtnis hat
nicht gelitten. Aber das Alter bringt mancherlei Schmerzen und
Gebrechen mit sich. Eine schmerzhafte Gicht quält mich schon
lange. Deshalb bin ich hierher gekommen, um auf den flegräischen
Feldern Linderung für meine Leiden zu suchen. Die Ärzte
wenigstens behaupten, daß von dieser glühenden Erde scharfe
Schwefeldämpfe aufsteigen, die beruhigend auf die Schmerzen wirken
und den Gliedern ihre Geschmeidigkeit wiedergeben.«
»Mögen sie dich von deinen Leiden befreien, Pontius! Aber
trotz deiner Gicht und ihren qualvollen Beschwerden siehst du kaum
älter aus als ich, obgleich ich in Wirklichkeit um zehn Jahre
jünger bin. Es freut mich, dich so rüstig zu sehen. Aber
warum, du Teurer, hast du vor der Zeit der öffentlichen
Tätigkeit entsagt? Warum hast du dich, nachdem du Judäa
verließest, in diese freiwillige Verbannung auf deine Güter
zurückgezogen? Erzähle mir deine Schicksale von jener Zeit
an, als ich aufhörte, der Zeuge deiner Taten zu sein. Du
bereitetest dich damals darauf vor, einen Aufstand der Samariter zu
unterdrücken. Seitdem habe ich dich nicht wiedergesehen.
Erzähle mir, wie jener Feldzug verlief; mich interessiert alles,
was dich betrifft.«
Pontius Pilatus schüttelte traurig das Haupt.
»Mein angeborenes Pflichtgefühl«, sagte er,
»trieb mich dazu, mein Amt nicht nur mit Fleiß, sondern
auch mit Liebe zu verwalten. Aber der Haß verfolgte mich,
Ränke und Verleumdungen haben mein Leben in der Fülle seiner
Kraft gebrochen und seine Früchte verdorren lassen, ehe sie
gereift waren. Du fragst nach dem Aufstand der Samariter. Komm, wir
wollen uns hier auf den Hügel setzen. Ich will dir alles in kurzen
Worten erzählen. Es steht alles noch so deutlich vor mir, als ob
es gestern gewesen wäre. Ein Mann aus dem Pöbel, der die Gabe
der Rede besaß, die übrigens in Samaria nicht selten ist,
bewog die Samariter, sich bewaffnet auf dem Berge Gazim zu versammeln,
der in diesem Lande für eine geheiligte Stätte gilt. Er
versprach, ihnen die geheiligten Gefäße zu zeigen, die in
alten Zeiten ein Heros oder Halbgott namens Moses hier vergraben haben
sollte. Auf diese Verheißung hin empörten sich die
Samariter. Aber ich war gerade noch zur rechten Zeit benachrichtigt
worden, um ihnen zuvorzukommen, und ließ den Berg von meinen
Soldaten besetzen.
Diese Vorsichtsmaßregel war sehr notwendig, denn die Rebellen
belagerten schon den Flecken Tyrathaba am Fuße des Berges Gazim.
Ich trieb sie auseinander, und damit war der Aufruhr im Entstehen
unterdrückt. Um mit möglichst wenigen Opfern ein Exempel zu
statuieren, ließ ich die Rädelsführer hinrichten. Aber
du weißt ja, Lamia, was für einen Druck Vitellius, der
Prokonsul von Syrien, auf mich ausübte. Er regierte seine Provinz
nicht für Rom, sondern gegen Rom, er war der Ansicht, daß
die Provinzen nur dazu da seien, um von den Tetrarchen ausgenützt
zu werden. Die Samariter beklagten sich bei ihm. Sie sprachen so, als
ob ihnen nichts ferner läge, als dem Caesar nicht gehorchen zu
wollen. Ich hatte sie gereizt, und nur um sich gegen meine
Gewalttätigkeit zu wehren, hatten sie sich bei Tyrathaba
versammelt. Vitellius lieh ihren Klagen sein Ohr, übertrug die
Verwaltung von Judäa seinem Freunde Marcellus und befahl mir, mich
vor dem Kaiser zu rechtfertigen. Mit zorn- und haßerfülltem
Herzen schiffte ich mich ein. Als ich an der italischen Küste
landete, erfuhr ich, daß Tiberius plötzlich auf Kap Misenum
gestorben sei. Ich wandte mich nun an Gaius, seinen Nachfolger. Er war
ein klarer Kopf und kannte die syrischen Angelegenheiten. Aber jetzt,
Lamia, magst du mit mir die hartnäckige Grausamkeit des Schicksals
bewundern, das meinen Untergang beschlossen hatte. Gaius' bester Freund
und beständiger Gefährte, schon von Kindheit an, war der Jude
Agrippa, der immer in seiner Umgebung lebte. Gaius liebte ihn über
alles, und Agrippa begünstigte Vitellius, weil Vitellius der Feind
des Antipcs war, den Agrippa mit seinem Haß verfolgte. Der Kaiser
gehorchte seinem geliebten Ratgeber und weigerte sich sogar, mir
Audienz zu gewähren. Ich bezwang meinen Schmerz und zog mich auf
meine Güter in Sizilien zurück, wo ich gewiß vor Gram
gestorben wäre, wenn meine geliebte Pontia mich nicht
getröstet hätte. Ich habe meine Acker bebaut und das
üppigste Getreide der ganzen Provinz erzeugt. Mein Leben geht zur
Neige. Die Nachwelt wird über mich und Vitellius richten.«
»Pontius«, antwortete Lamia, »ich bin überzeugt,
daß du nach bestem Gewissen und ausschließlich im Interesse
Roms gegen die Samariter vorgegangen bist. Aber hast du dich bei dieser
Gelegenheit nicht vielleicht doch allzu sehr von deinem ungestümen
Tatendrang hinreißen lassen, der dich von jeher beseelte? Du
weißt doch, daß damals in Judäa ich, der Jüngere,
dich oftmals zur Milde und Nachsicht ermahnt habe.«
»Milde gegen die Juden!« rief Pontius Pilatus. »Du
hast lange unter ihnen gelebt, aber du kennst sie dennoch nicht, diese
Feinde der Menschheit. Sie sind stolz und dabei von niederer Gesinnung,
sie verbinden die schmachvollste Feigheit mit einer unbesiegbaren
Hartnäckigkeit, man vermag auf die Länge weder Liebe noch
Haß für sie zu empfinden. Ich habe meinen Geist an den
Grundsätzen des göttlichen Augustus gebildet, Lamia. Ich war
mir über meine Pflichten klar, ich habe mich von Anfang an
bemüht, Weisheit und Mäßigung zu üben. Ich rufe
die Götter zu Zeugen an, daß ich nie in meiner Milde
starrköpfig war. Aber was hat es mir geholfen? Ich schwöre
dir bei den unsterblichen Göttern, während meiner ganzen
Regierung habe ich nicht ein einziges Mal die Gesetze und die
Gerechtigkeit verletzt. Aber jetzt bin ich ein alter Mann. Meine
Feinde, meine Ankläger sind tot. Ich werde ungerächt sterben,
und wer wird mich der Nachwelt gegenüber verteidigen?«
Er schwieg und seufzte tief. Lamia entgegnete: »Was braucht es
uns zu kümmern, was die Menschen von uns denken? Wir haben keine
anderen Zeugen und keine anderen Richter als uns selbst. Pontius
Pilatus, begnüge dich mit dem Zeugnis, das du selbst für dich
ablegst, begnüge dich mit deiner eigenen Achtung und der Achtung
deiner Freunde. Übrigens kann man ein Volk nicht nur durch Milde
beherrschen.«
»Lassen wir jetzt das«, sagte Pontius. »Ich muß
mich beeilen, die Schwefeldämpfe sind nur wirksam, solange die
Erde noch von den Sonnenstrahlen durchwärmt ist. Leb wohl. Aber da
ich nun endlich einen Freund wiedergefunden habe, möchte ich
diesen glücklichen Zufall auch ausnützen. Aelius Lamia,
gewähre mir die Freude, morgen abend mein Gast zu sein. Mein liegt
Haus liegt am äußersten Ende der Stadt am Meeresufer. Du
wirst es leicht an der Säulenhalle erkennen, die mit einem
Gemälde geschmückt ist, welches Orfeus mit seiner Lyra unter
den wilden Tieren des, Waldes darstellt. Also auf morgen, Lamia!«
Damit bestieg er wieder seine Sänfte. »Morgen wollen wir
weiter über Judäa plaudern.«
Am nächsten Tage um die Abendzeit begab sich Lamia zu dem Hause
des Pontius Pilatus. Es waren nur zwei Lagerstätten für das
Gastmahl bereitet. Auf dem Tisch standen silberne Schüsseln mit
gebratenen Vögeln, Austern vom Lukrinersee und Lampreten aus
Sizilien. Beim Essen unterhielten Pontius und Lamia sich über ihre
Krankheiten, deren Symptome sie ausführlich aufzählten, und
über die verschiedenen Heilmittel, die man ihnen empfohlen hatte.
Dann sprachen sie ihre Freude über das Zusammentreffen in Baiae
aus und rühmten die Schönheit des Strandes und die milde
Luft. Lamia war entzückt von der Anmut der Kurtisanen, die mit
langen, gestickten Schleiern und reichem Goldschmuck am Ufer wandelten.
Aber der alte Statthalter beklagte es, daß für diesen eitlen
Prunk und diese von Menschenhand gewirkten Spinnengewebe, die aus den
Ländern der Barbaren kamen, soviel römisches Geld unter
fremde Völker, ja selbst unter die Feinde des Reiches
hinausgeworfen wurde. Dann sprachen sie von den großen Bauten,
die hier in der Gegend aufgeführt worden waren, von der gewaltigen
Brücke, die Gaius zwischen Puteoli und Baiae errichtet, und von
den Kanälen, die Augustus hatte graben lassen, um das Wasser vorn
Meere in den Lukriner- und den Avernersee zu leiten.
»Auch ich«, sagte Pontius seufzend, »auch ich wollte
einmal das Wohl des Landes durch nützliche Bauten fördern.
Als mir zu meinem Unheil die Regierung von Judäa übertragen
wurde, entwarf ich den Plan zu einem Aquädukt von zweihundert
Stadien Länge, der Jerusalem mit reinem Wasser versorgen sollte.
Ich hatte alles berechnet und ausgedacht, die Arbeiter und Architekten
waren schon bestellt, und die Arbeit sollte beginnen. Aber weit
entfernt davon, sich über dieses gewaltige Werk zu freuen, das zur
Gesundung ihrer Stadt beitragen sollte, stießen die Bewohner von
Jerusalem ein entsetzliches Geheul aus. Sie rotteten sich zusammen, sie
erhoben ein großes Geschrei über Gotteslästerung und
Schändung, dann stürzten sie sich auf die Arbeiter und rissen
die eben gelegten Grundsteine wieder auseinander. Hast du, Lamia,
jemals ein Volk von roheren Barbaren gesehen? Und doch gab Vitellius
ihnen recht, und ich mußte das Werk unvollendet lassen.«
»Es ist eine große Frage«, sagte Lamia, »ob man die Menschen zu ihrem Glücke zwingen darf.«
Aber Pontius Pilatus fuhr fort, ohne auf ihn zu hören.
»Einen Aquädukt auszuschlagen – welch eine Torheit.
Aber die Juden verabscheuen alles, was von den Römern
herrührt. Wir gelten in ihren Augen für unreine Wesen, jede
Berührung mit uns betrachten sie wie eine Beschmutzung. Du
weißt ja, sie wagten nicht meine Behausung zu betreten, aus
Angst, sich dadurch zu besudeln, und ich mußte alle gerichtlichen
Handlungen unter freiem Himmel ausüben. Sie fürchten und
verachten uns. Aber ist Rom nicht die Mutter aller Völker, ruhen
sie nicht alle an ihrem Busen wie saugende Kinder? Unsere Adler haben
Frieden und Freiheit bis in die äußersten Enden der Welt
getragen. Wir sehen in den Besiegten nicht unsere Feinde, wir lassen
ihnen ihre Sitten und ihre Gesetze. Ist Syrien nicht erst zu Ruhe und
Wohlstand gelangt, seit Pompeius es unterworfen hat? Die Römer
hätten ihre Wohltaten um Geld verkaufen können; haben sie
aber jemals die Schätze aus den goldstrotzenden Tempeln der
Barbaren fortgeführt? Haben sie etwa den Jupiter in
Marimänien oder Kilikien beraubt oder den Judengott in Jerusalem?
Antiochia und Palmyra brauchen Antiochia und Palmyra brauchen ihre
Schätze nicht mehr vor den Arabern der Wüste zu hüten,
und sie bauen jetzt der göttlichen Majestät des Caesar
Tempel. Nur die Juden hassen uns und trotzen uns. Man muß ihnen
den Tribut gewaltsam entreißen, und sie verweigern den
Heeresdienst.«
»Die Juden«, entgegnete Lamia, »hängen fest an
ihren alten Gebräuchen. Sie vermuteten – ohne allen Grund,
das gebe ich zu –, daß du ihre Gesetze umstoßen und
ihnen andere Sitten aufzwingen wolltest. Wenn es dir auch Schmerz
bereitet, Pontius, daß ich so rede: Aber du hast nicht immer den
rechten Weg eingeschlagen, um diesen unseligen Irrtum von Ihnen zu
nehmen. Ohne daß du es wolltest, hast du mit Vorliebe ihren
Argwohn erregt, mehr als einmal habe ich selbst gesehen, wie schlecht
du deine Verachtung ihrem Glauben und ihren religiösen Zeremonien
gegenüber verbargst. Die Juden haben sich nicht wie wir zu einer
hohen Anschauung der göttlichen Dinge aufgeschwungen, aber man
muß anerkennen, daß etwas Ehrwürdiges in diesen von
Urzeiten herstammenden Mysterien liegt, die sie feiern.«
Pontius Pilatus zuckte die Achseln. »Nein«, sagte er,
»sie haben keine gründliche Kenntnis von dem Wesen der
Götter. Sie beten zu Jupiter, aber ohne ihm Namen oder Gestalt zu
geben. Sie wissen nichts von Apollo, von Neptun, Mars, Pluto oder von
irgendeiner Göttin. Und doch glaube ich, daß sie früher
einmal Venus verehrt haben, denn heute noch bringen die Frauen Tauben
zum Opfer dar, und du weißt ja ebenso gut wie ich, daß die
Verkäufer in den Vorhallen des Tempels solche Vögel paarweise
feilbieten. Man teilte mir sogar einmal mit, daß irgendein
rasender Mensch diese Verkäufer samt ihren Käfigen
umgestoßen habe. Die Priester beklagten sich darüber, wie
über eine Heiligtumsschändung. Ich denke mir, der Brauch,
Turteltauben zu opfern, muß ursprünglich Venus zu Ehren
eingeführt worden sein. Warum lachst du, Lamia?«
»Ich lache«, sagte Lamia, »über eine komische
Idee, die mir eben unwillkürlich durch den Kopf schoß. Ich
dachte, wenn nun dieser Jupiter der Juden eines Tages nach Rom kommen
Und dich mit seinem Haß verfolgen würde! Warum auch nicht?
Wir haben von Asien und Afrika schon viele Götter übernommen.
Es sind in Rom schon Tempel zu Ehren der Isis und des bellenden Anubis
erbaut worden. Und weißt du nicht, daß unter des Tiberius
Regierung ein junger Adliger sich für den gehörnten Jupiter
der Ägypter ausgab und auf diese Weise die Gunst einer vornehmen
Dame gewann, die zu fromm war, um den Göttern irgend etwas zu
verweigern? Wer weiß, Pontius, ob der unsichtbare Jupiter der
Juden nicht eines Tages in Ostia landet.«
Bei dem Gedanken, daß von Judäa ein Gott kommen könnte,
glitt ein flüchtiges Lächeln über die strengen Züge
des Statthalters. Dann antwortete er ernst: »Wie sollten die
Juden es fertigbringen, ihre heiligen Gesetze anderen Völkern
aufzuzwingen, da sie sich doch selbst untereinander um der Auslegung
dieser Gesetze willen zerfleischen. Sie spalten sich in mindestens
zwanzig Sekten; du hast es ja selbst gesehen, Lamia, wie sie sich auf
den öffentlichen Plätzen, jeder mit seiner Schriftrolle in
der Hand, gegenseitig beschimpfen und sich an den Bärten
reißen, oder wie sie irgendeine von profetischem Wahnsinn
ergriffene Jammergestalt umringen und zum Zeichen der Trauer ihre
schmutzigen Kleider zerfetzen. Sie begreifen nicht, daß man in
aller Ruhe über göttliche Dinge disputieren kann, obgleich
sie für uns alle immer dunkel und verhüllt bleiben. Denn das
Wesen der Unsterblichen ist verborgen, und wir vermögen es nicht
zu erkennen. Ich halte es immerhin für weise, an die Vorsehung der
Götter zu glauben. Aber die Juden haben keine Filosofie und dulden
keine andere Meinung. Im Gegenteil, wenn jemand über die Gottheit
eine Ansicht äußert, die nicht mit ihren Gesetzen
übereinstimmt, so verdient er in ihren Augen die
jämmerlichste Todesstrafe, und weil, seit sie unter römischer
Herrschaft stehen, kein Urteil ohne Zustimmung des Prokonsuls oder des
Statthalters vollzogen werden darf, drängen sie den römischen
Magistrat, jeden Augenblick ihre Todesurteile zu unterschreiben, sie
erfüllen das Prätorium mit ihrem blutdürstigen Geschrei.
Hundertmal habe ich sie so gesehen, wie sie sich haufenweise, reich und
arm durcheinander, einmütig um ihre Priester geschart, wie Rasende
um meinen elfenbeinernen Sessel drängten, mich an der Toga oder
nur an den Riemen meiner Sandalen zerrten, um den Tod irgendeines
Unglücklichen von mir zu verlangen, dessen Schuld ich nicht
einsehen konnte und den ich höchstens für ebenso wahnsinnig
hielt wie seine Verfolger. Was sage ich, hundertmal! Jeden Tag kam es
vor, zu allen Stunden. Aber ich mußte ihr Gesetz erfüllen
wie das unsere, denn Rom hatte mich nicht zum Zerstörer, sondern
zum Hüter ihrer Gebräuche eingesetzt. In der ersten Zeit
suchte ich ihnen Vernunft beizubringen, ihre unglücklichen Opfer
dem Tode zu entreißen. Aber meine Milde erbitterte sie nur noch
mehr, sie kämpften um ihre Beute wie hungrige Geier. Ihre Priester
berichteten dem Caesar, daß ich ihre Gesetze verletze, und ihre
Beschwerden, die Vitellius noch unterstützte, zogen mir strenge
Rügen zu. Wie oft habe ich Lust gehabt, wie die Griechen sagen,
Kläger und Angeklagte gemeinschaftlich zu den Raben zu schicken.
Glaube nicht, Lamia, daß meine Gefühle gegen dieses Volk nur
ohnmächtige Rache und greisenhafter Zorn sind. In mir haben sie
Rom und den Frieden besiegt. Ich sehe es kommen, daß wir sie
früher oder später vernichten müssen, weil wir sie nicht
beherrschen können. Glaube mir, sie sind immer noch nicht
unterworfen, der Aufruhr gärt in ihren erhitzten Seelen, und eines
Tages wird ihr Haß gegen uns losbrechen, ein Haß, gegen den
die Wut der Numider und die Drohungen der Parther nur Kinderlaunen
sind. Sie hegen im stillen die unsinnigsten Hoffnungen und grübeln
in ihrer Verblendung darüber nach, wie sie uns verderben
können. Und das wird niemals anders werden, solange sie auf Grund
ihrer Weissagungen an den Fürsten glauben, der aus ihrer Mitte
hervorgehen und die Welt beherrschen soll. Man wird mit diesem Volk
nicht fertig werden, bis es aufhört zu existieren. Jerusalem
muß von Grund auf zerstört werden. Vielleicht wird es mir,
trotz meines Alters, gegeben sein, den Tag zu erleben, da seine Mauern
in Staub sinken, seine Häuser in Flammen aufgehen und Salz
gestreut wird an dem Platz, wo der Tempel gestanden hat. An diesem Tag
werde ich gerechtfertigt dastehen.«
Lamia machte einen Versuch, dem Gespräch eine mildere Wendung zu geben.
»Pontius«, sagte er, »ich verstehe deinen
unauslöschlichen Grimm und deine düsteren Vorahnungen
vollkommen. Gewiß, du hast den Charakter der Juden von seiner
schlimmsten Seite kennengelernt. Aber ich habe als unbefangener
Beobachter in Jerusalem gelebt, mich unter das Volk gemischt, und
glaube mir, ich habe manche Tugenden bei diesen Menschen gefunden, die
dir verborgen geblieben sind. Ich habe milde, gütige Juden
kennengelernt mit schlichten Sitten und gutem Herzen. Ja, du selbst,
Pontius, hast mehr als einmal gesehen, wie einfache Männer aus dem
Volke unter den Knüppeln deiner Soldaten den Geist aufgaben und
wie sie, ohne ihren Namen zu nennen, für eine Sache starben, die
sie für die richtige hielten. Solche Menschen haben unsere
Verachtung nicht verdient. Ich spreche so zu dir, weil ich finde,
daß man in allen Dingen maßhalten soll; aber ich gestehe,
daß ich niemals besondere Sympathie für die Juden empfunden
habe. Die Jüdinnen hingegen gefielen mir sehr. Ich war jung
damals, und die schönen Syrerinnen brachten mein Blut in heftige
Wallung. Ihre roten Lippen, ihre feuchtschimmernden Augen, ihre langen,
verschleierten Blicke durchschauerten mich bis ins Mark. Mit ihrem
gemalten und geschminkten Gesicht, ihrem nach Myrrhe und Narde
duftenden Körper bieten sie den Männern seltene und
köstliche Genüsse.«
Ungeduldig hörte Pontius ihm zu. Dann sagte er: »Ich war
nicht der Mann dazu, in die Netze der Jüdinnen zu geraten,
und da du mich darauf gebracht hast, Lamia – ich habe dein
ausschweifendes Leben niemals gebilligt. Wenn ich es dich damals nicht
fühlen ließ, daß ich dein Vergehen mit der Frau des
Konsulars für eine schwere Schuld ansah, so geschah es nur, weil
du deinen Fehltritt schwer genug büßen mußtest. Die
Ehe gilt bei den Patriziern für heilig, diese Institution ist eine
der wichtigsten Stützen Roms. Was Sklavinnen oder
ausländische Frauen betrifft, so haben die Beziehungen, die man
mit ihnen anknüpft, keine weitere Bedeutung, wenn der Körper
dadurch nicht an eine schmachvolle Weichlichkeit gewöhnt wird. Du
hast zuviel den niederen Priesterinnen der Venus geopfert, Lamia, und
was ich dir vor allem zum Vorwurf mache, ist, daß du nicht nach
dem Gesetz geheiratet und dem Staate Kinder geschenkt hast. Das ist die
Pflicht jedes guten Bürgers.«
Aber der einst Verbannte hörte längst nicht mehr auf den
alten Statthalter. Er leerte den Becher Falernerweines und
lächelte irgendeinem unsichtbaren Bilde zu. Dann sprach er in sehr
gedämpftem Tone, der sich allmählich belebte: »Es liegt
etwas so Schmachtendes in dem Tanz dieser syrischen Frauen. Ich habe in
Jerusalem eine Jüdin gekannt, die in einer elenden Spelunke, beim
Schein einer kleinen qualmenden Lampe, auf einem elenden Teppich
tanzte. Dabei reckte sie die Arme empor, um ihre Zimbeln zu schlagen.
Die Hüften schön geschwungen, den Kopf zurückgeworfen,
gleichsam niedergezogen von der Last des schweren, rötlichen
Haares, den wollustverschleierten Augen, glühend, begehrlich und
schlank, hätte sie Kleopatra selbst vor Neid erblassen machen
können. Ich bewunderte ihre barbarischen Tänze, ihren etwas
rauhen und doch so wohlklingenden Gesang. Sie duftete nach Weihrauch
und schien in einem beständigen Halbschlaf zu leben. Ich folgte
ihr überall hin. Ich mischte mich unter die rohe Menge von
Soldaten, Strolchen und Maklern, die sie zu umringen pflegten. Dann
verschwand sie eines Tages, und ich habe sie nie wiedergesehen. Lange
Zeit suchte ich nach ihr in allen verdächtigen Straßen und
Spelunken. Es war schwerer, sich ihrer zu entwöhnen, als des
griechischen Weins. Ein paar Monate später erfuhr ich
zufällig, daß sie sich einer kleinen Zahl von Männern
und Frauen angeschlossen hatte, die einem jungen Galiläer folgten,
der umherzog und Wunder tat. Er hieß Jesus und war aus Nazareth.
Später wurde er wegen irgendeines Verbrechens gekreuzigt. Ich
weiß nicht mehr, was es war. Erinnerst du dich noch an diesen
Mann, Pontius?«
Pontius Pilatus runzelte die Brauen. Er fuhr mit der Hand über die
Stirn, als ob er sich auf etwas zu besinnen suchte. Dann, nach einer
kurzen Pause, murmelte er: »Jesus? Jesus — aus Nazareth?
— Nein, ich erinnere mich nicht mehr.«