Sinkende Lebenserwartung bei Geringverdienern:
Methodisch unsauber, selbstverschuldet und theoretisch völlig unnötig


Ein Gemeinwesen, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht, führt selbstverständlich auch Buch über die Opfer, die das Leben in Freiheit kostet. In den einschlägigen Statistiken, die die Experten für Soziales dazu erstellen, hat es folgende Entdeckung für zwei Tage in den Rang einer öffentlichen Nachricht gebracht:
"Aufgeschreckt wurden Politiker wie Sozialexperten in dieser Woche durch die Meldung, daß die Unterschiede in der Lebenserwartung gegenwärtig zunehmen... Demnach wäre die Lebenserwartung von Geringverdienern um zwei Jahre gesunken – während sie für die Gesamtbevölkerung weiterhin leicht steigt." (SZ, 16.12.11, daraus auch alle weiteren Zitate, sofern nicht anders vermerkt)
Wer ein Leben lang damit zu tun hat, sich in Notlagen einzuteilen, die ihm der Mangel an Geld beschert, stirbt also auch früher, und das nimmt sogar noch zu. Das überrascht nun niemanden ernsthaft. Mit derart blamablen Wahrheiten über unser Gemeinwesen will man den Menschen allerdings auf keinen Fall allein lassen. Wie hat er sie zu nehmen?

Die Politiker reagieren gelassen. Von wegen »aufgeschreckt« – sie wissen mit solchen Meldungen umzugehen: Daß "die Schere in der Lebenserwartung (bei Arm und Reich) auseinanderklafft", ist längst statistisch erfaßt, die sozialen Härten sind in Zahlenmaterial verwandelt und aufmerksam wird von Sozialpolitikern verfolgt, zu welchen mathematischen Verhältnisbeziehungen es Armut und Todesrate bringen. Streit gibt es "allenfalls darüber, um wie viele Jahre ein Mensch kürzer lebt, wenn er schlecht ausgebildet ist und sein Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt. Sieben Jahre Unterschied wurden und werden für Deutschland postuliert." Gestritten wird also über die methodisch korrekte Auslegung des Datenmaterials; denn daß das Ableben der Armen dank ihrer tatkräftigen Mitwirkung in den letzten zwei Jahren zugenommen hat: das wollen sich die sozialpolitischen Verantwortungsträger keinesfalls nachsagen lassen: "Umgehend wurde Kritik an der Methodik der Datenerhebung laut, das Arbeitsministerium erklärte die Interpretation für falsch."  Es gebe "keinerlei belastbare Anzeichen dafür, daß der grundsätzliche Trend zu einer höheren Lebenserwartung quer durch alle Einkommensgruppen gebrochen wäre", vermeldet der Sprecher des Arbeitsministeriums, "die Zahlen seien weder repräsentativ noch aussagekräftig." (Tagesspiegel, 13.12.11) Im Expertenstreit darüber, aufgrund welcher belastbarer Anzeichen von einer Tatsache als solcher überhaupt geredet werden könne, werden die statistischen Behauptungen über die sinkende Lebenserwartung von Armen für nicht repräsentativ und auf diese Weise für unbedeutend erklärt.

Daß es als Faktum nun einmal zu akzeptieren ist, daß Geldmangel die Lebenszeit reduziert, ist für BLÖD keine Frage. Es weiß auch gleich, wer daran schuld ist, kennt nämlich den Sozialexperten Prof. Bernd Raffelhüschen, der es genau weiß: "Geringverdiener haben eine niedrigere Lebenserwartung, was aber in erster Linie der Lebenshaltung zuzuschreiben ist, zum Beispiel dem Zigaretten- und Alkoholkonsum." (Blöd, 13.12.11).
Wer früher stirbt, ist selber schuld, das ist schnell geklärt und angesichts des ungesunden Lebensstils der Proleten auch kein Wunder. Kurz und bündig bestätigt die Bildzeitung mit der Kompetenz des führenden Presseorgans der niedrigen Stände die gängige Gesundheitsagitation, die ganz egal, welchen gesundheitlichen Schäden die Menschheit tagtäglich ausgesetzt wird, die Betroffenen selbst für ihre Gesundheit verantwortlich erklärt. Der Mensch und insbesondere der Prolet hat sich selbst um seine Gesundheit zu kümmern, und wer sich da nicht die Kompensation der gesundheitlichen Schäden zum Anliegen macht, mit denen er es im Lauf seines Arbeitslebens zu tun bekommt, der wird eben krank und stirbt früher. Ein hoher Wert ist das Leben eben auch in den Fällen, in denen es bloß in der Kunst besteht, sich ein Lebtag lang an materiellen Nöten abzukämpfen, und diesen Hochgenuß nicht fahrlässig aufs Spiel zu setzen, das hat noch der Ärmste selbst in der Hand. Sich im Elend gehen zu lassen, gehört freilich auch zu seinen Freiheitsrechten, sodaß es bei denen, die lang genug geraucht und gesoffen haben, auch irgendwie gerecht ist, wenn sie dann früher sterben.

Die SZ will diese Meldung aus dem kapitalistischen Alltag nicht so stehen lassen. Der Sozial- und Medizinexperte Bartens wendet sich ausdrücklich gegen das Weglügen der Fakten durch die Regierung und die Schuldzuweisungen von Blöd und anderen Experten der Volksgesundheit, und er will auch die in der Medizin übliche Ursachenforschung, die im Verhalten der Leute, in Völlerei, Bewegungsmangel usw., das Hauptrisiko für ihre Gesundheit entdeckt haben will, nicht gelten lassen:
"In Deutschland sind eben nicht die allenthalben angemahnten Risikofaktoren wie Cholesterinanstieg, Bluthochdruck, Fettleibigkeit oder Bewegungsmangel die größten Gefahren für die Gesundheit. Die Zugehörigkeit zu einer niedrigen und bildungsfernen sozialen Schicht stellt vielmehr die heftigste Bedrohung für Leib und Leben dar... Es geht nicht um Lipidstörungen, entgleisten Blutzucker oder schlechte Eisenwerte...Um ungesundes Leben und mangelnde Bewegung geht es längst nicht mehr", denn: "Zwar mögen Geringverdiener die Praxisgebühr scheuen und seltener den Arzt aufsuchen. Die Hauptursache für Leid und frühen Tod ist aber in den Arbeits- und Lebensverhältnissen zu suchen." 

Da springt der Fachmann für Herzkranzgefäße mal über seinen Schatten. Er hält dafür, daß der Grund für die lebensverkürzenden Erkrankungen der »Geringverdiener« ihre Beanspruchung im Arbeitsprozeß ist und daß darüber hinaus die lebenslange Bewährung in einer Welt der Konkurrenz in dieselbe Richtung wirkt. Das weiß er sogar zu belegen:
"Inzwischen zeigen etliche Untersuchungen, wie sehr sich berufliche Unsicherheit, ökonomische Krisen, Existenzangst und finanzielle Not auf die Gesundheit auswirken. Der unzufriedene Arbeiter, der sich müht und dennoch nicht vorankommt, hat ein dreifach höheres Risiko als sein gleichaltriger Fabrikdirektor, einen Herzinfarkt zu erleiden... Rückenleiden sind in statistisch beeindruckendem Umfang hauptsächlich das Leiden der beruflich Unterdrückten und Entwerteten." 
Da beharrt einer darauf, daß die Beanspruchung der Arbeiter und Angestellten und deren Auswirkung auf die Gesundheit deutlich härter ist als bei denen, die den Arbeitsprozeß dirigieren und daran verdienen; er deutet auf die im modernen kapitalistischen Arbeitsleben eingerichteten Sachnotwendigkeiten und deren ruinöse Folgen für die, die für den Dienst an der Rentabilitätsrechnung des Eigentums vorgesehen sind und entsprechend verschlissen werden; er bringt zur Sprache, daß unterschiedliche Sterberaten in einer Klassengesellschaft ihren gesellschaftlichen Grund haben, Arbeit im Kapitalismus systematisch krank macht, in ihr nicht nur das Leben, sondern auch das Sterben eine klassenspezifische Angelegenheit ist und bei denen, die in der Konkurrenz notorisch schlechte Karten haben, berufliche Unsicherheit, Existenzangst und finanzielle Not als Ursachen ihres frühen Ablebens durchschlagen – alles »bittere Wahrheiten«, wie er selbst schreibt.
Und was folgt für ihn daraus? Geht er vielleicht auf Distanz zu einer »Wohlstandsgesellschaft«, in der die Produktion des Reichtums derart brutal auf Kosten derer vonstatten geht, die ihn schaffen? Erteilt der Medizinmann, der die Lügen von der »gesunden Ernährung« und »ausreichenden Bewegung«, mit denen die Armen ihr Elend kompensieren könnten, durchschaut hat, irgendeinem der geltenden gesellschaftlichen Zwecke eine Absage, die er immerhin als »Ursache« ihres vorzeitigen Wegsterbens haftbar macht? Von wegen:
"Zwischen Arm und Reich gibt es keinen biologischen Unterschied. Hier wäre eine totale Angleichung der Lebenserwartung theoretisch möglich, stattdessen sprechen etliche Hinweise und Tendenzen dafür, daß sich die Differenz vergrößert. Sozialpolitisch wäre das eine Hiobsbotschaft." 
Angesichts der bloß »theoretischen« Veränderbarkeit der konstatierten Zustände fällt ihm »praktisch« nur eines ein: da ist die Sozialpolitik gefragt! Kein einziges der herrschenden gesellschaftlichen Interessen, deren ruinöse Folgen ihm bekannt sind, will er antasten. Die Gesellschaft, der er ein derart vernichtendes Zeugnis ausstellt, kann für ihn getrost so bleiben, wie sie ist – nur um die üblen Folgen, die sie zeitigt, möchte man sich bitteschön doch besser kümmern! Als einzig zuständige Adresse für seine sorgenvollen Erwägungen soll ausgerechnet die Sozialpolitik der Nation herhalten, die diese harten Verhältnisse mit herbeiregiert hat und sie bei Bedarf so trocken dementiert. So verwandelt sich eine kritische Bestandsaufnahme in eine verantwortungsvolle Sorge um das Gemeinwesen und verweist das Anliegen, für die Behebung der miesen Zustände zu sorgen, an deren Verursacher zurück, die nicht das Offenkundige bestreiten, sondern sich endlich kümmern sollen, falls sich die Lage – »Hiobsbotschaft!« – demnächst noch weiter verschlimmert! Das Problem, das arme Leute im Kapitalismus mit »beruflicher Unsicherheit, Existenzangst und Not« haben, ist so in zwei Sätzen in eines des politischen Gemeinwesens verwandelt – und aus Kritik an den Verhältnissen, die sie schafft, wird die pure Affirmation der Klassengesellschaft: In Gestalt »unserer« grundguten Sozialpolitik steht alles parat zur Linderung des Übels, an dem man Anstoß nimmt. Nur »theoretisch« zwar, aber auch eine bloß eingebildete Möglichkeit ist in Anbetracht »bitterer Wahrheiten« offenbar besser als gar keine. Die Lebenserwartung der Lüge vom Gegensatz zwischen Elend und Sozialpolitik verlängert sich auf diese Weise jedenfalls ganz bestimmt.

01.05.12

aus: 
Sozialistische Hochschulzeitung (SHZ), Nr. 66, Nürnberg