Die Kurdistanfrage - der Stachel im Fleisch der Türkei - oder:
Die Türken der Türken


Es wäre nicht konsequent, wenn die Kritik des deutschen Nationalismus die Kritik des türkischen (oder eines  sonstigen) Nationalismus ausschlösse. Keiner tut sich selbst etwas Gutes, wenn er als Anhänger eines Staates sich aufführt, von dem er durch die nationale Zugehörigkeit des Orts seiner Geburt (bzw. den seiner Eltern) seine nationale »Identität« erhalten hat und mit ihr die Inanspruchnahme durch den betreffenden Staat. So zeugt es nicht gerade von einem emanzipatorischen Programm, wenn man sich eine solche Inanspruchnahme als persönliche Freiheit vorstellt und sich einen solchen Staat wünscht, solange man ihn nicht hat.

National gesonnene Türken haben am vergangenen Samstag auf dem Augsburger Rathausplatz bei ihrer Demonstration gegen die Kurden und deren nationale Befreiungsbewegung PKK ihre Dummheit in zweifacher Hinsicht zum Ausdruck gebracht: Nicht nur, daß sie sich nichts Schöneres vorstellen können als Anhänger eines Staates mit unübersehbaren imperialistischen* Ansprüchen zu sein

[Inwieweit die Berechnungen der Tayyip-Erdogan-Regierung, seiner AKP und dem Militär (die vor nicht langer Zeit vollzogenen Umbesetzungen an der Militärspitze** haben dem Erfolgsrezept*** Erdogans
Rechnung getragen) aufgehen, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden.]

und gerade deshalb anderen, den Kurden, dieses Gefühl nationalen Selbstbewußtseins vorenthalten zu wollen, indem sie bestreiten, daß das ihnen zustehe und damit ein eigener Staat Kurdistan erst recht.

Es sind übrigens die türkischen Nationalisten, die (hauptsächlich) Parteigänger des Ministerpräsidenten Erdogan und seiner AKP sind, also die, die den Erfolg der Türkei am liebsten in dem hauptsächlich deutsch inspirierten EU-Europa sehen und da bei den zuständigen Herren und Instanzen zu Kreuze kriechen. Während sie andererseits auf die, die sie unter sich wähnen, die sie für minderwertig halten, die Kurden eben, verächtlich herabsehen und sich heuchlerisch entrüsten, wenn die sich das nicht gefallen lassen und, so gut sie eben können, zurückzuschlagen in der Lage sind.

Das aufrührerische Verhalten der Kurden – das sich keineswegs in den militärischen Schlägen der PKK erschöpft, auch wenn man diesbezüglich hierzulande kaum etwas anderes mitbekommt – trifft natürlich den – gemessen an seinem wirklichen Vermögen – einigermaßen größenwahnsinnigen türkischen Staat und seine Anhänger empfindlich. Daß man ein solches Selbstbewußtsein haben muß, haben sie dem deutschen Staat abgeschaut. Und es wird zugleich deutlich, worin der frappante Fehler dieses Lernerfolgs und damit seines »Größenwahns« liegt: Weder ersetzt er die politisch-ökonomisch Grundlage, noch ist er ihre Voraussetzung. Gerade an den Reaktionen aus den europäischen Hauptstädten auf den erneuten türkischen Feldzug gegen die PKK wird deutlich, woran sich die Türkei zu halten hat, daß und wo sie nicht befugt ist, eigenmächtig Pflöcke in internationalen Angelegenheiten – und die Kurdenfrage wird als solche verhandelt! – einzuschlagen.

Die Zurückweisung ihrer eigenen Berechnungen durch die BRD und die EU trifft die Türkei noch viel härter als die Sticheleien der Kurden, die selbstredend vom europäischen Imperialismus insoweit gut benutzt werden können und deshalb auch werden, als die rein privaten Ambitionen der Türkei zurückgewiesen werden sollen.

Es ist im übrigen heuchlerisch, sich darüber deutscherseits zu wundern, daß die Türkei ihren kleinen Trumpf gegen die EU, den sie in der Zypernfrage in der Hand hält, nicht aus der Hand gibt.

(25.10.11)
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* Man kann das, berücksichtigt man die Einbettung der Türkei in das Verteidigungsbündnis NATO, auch als Subimperialismus bezeichnen. Oder als Neo-Osmanismus (Yeni Osmanlıcılık), berücksichtigt man mehr den Blick auf den Nahen Osten und den Balkan.
** 2009/10 wurden die Gegner der Regierung und ihres Erfolgswegs verhaftet und vor Gericht gestellt. Daß es sich dabei um politische Prozesse gehandelt hat, die aufgrund der Resultate der Politik möglich wurden, steht außer Frage: Die Türkeiglaubte sich nun offenbar stark genug, auf jene Hardliner verzichten zu können. Waren sie bislang zur Stabilisierung unverzichtbar, wurde ihnen nun Destabilisierung (Putschpläne etc.) vorgeworfen.
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Es ei auf das Projekt einer an die deutsche CDU angelehnte Staatspartei, die so religiös begründet wie zweckmäßig, doch nicht mehr als politisch nötig, verwiesen. Von diesem Selbstbewußtsein der politischen Führung zeugt die Verfassungsreform von 2010, die sie vom Volk absegnen ließ (ca. 78% der Wähler waren dafür).