Einleitung:
60 Jahre Grundgesetz – alles in bester Verfassung?
Das Grundgesetz begeht im Jahr 2009 seinen 60.
Geburtstag. Die Nation wird aufgerufen zu feiern und sich am
Genuß der Freiheiten zu erfreuen, welche die staatliche Ordnung
ihren Bürgern so großzügig gewährt. Daß im
Reich der Freiheit alle Unternehmungen des Bürgers von der
Arbeitsplatzsuche bis zur Familiengründung unter dem staatlichen
Vorbehalt des Dürfens stehen und selbst die politische
Meinungsäußerung eine Frage der staatlichen Erlaubnis ist,
erscheint niemandem weiter fragwürdig. Vielmehr herrscht eine
grundsätzliche Dankbarkeit, daß man in der freiheitlichsten
aller Gesellschaften leben darf, die jemals auf deutschem Boden
existiert hat. Eine Feststellung, die jede Frage nach dem Nutzen der
staatlich konzessionierten Freiheit verbietet.
Die Frage nach den Vorteilen der staatlichen
Grundordnung wird denn auch von denjenigen, die darunter zu leben
haben, ganz im Sinne der Instanz beantwortet, die alle diese
schönen Freiheiten gewährt. Die vom demokratischen
Rechtsstaat in Kraft gesetzten Zwänge des kapitalistischen
Wirtschaftslebens erscheinen den Bürgern nämlich wie
naturgegebene Lebensbedingungen, die sie als Mittel begreifen, um in
aller Freiheit daraus das Beste für ihr Lebensglück zu
machen. Vom Geld, über den Arbeitsmarkt bis hin zum Sozialstaat
und zur Familie und Schule gelten dementsprechend alle staatlich
unterhaltenen gesellschaftlichen Einrichtungen als eine Welt voller
Chancen für die Verwirklichung der eigenen Anliegen.
Merkwürdig ist freilich nur, daß aus den schönen
Gelegenheiten für die freie Entfaltung der selbstbestimmten
Persönlichkeiten für die große Mehrheit der
Bevölkerung wenig bis gar nichts wird und heutzutage bereits die
Verfügung über einen Arbeitsplatz mit wenig Lohn und
dafür umso mehr Leistung das Optimum dessen bildet, was der
normale Sterbliche im Reich der Freiheit erreichen kann.
Eine objektive Würdigung der Chancen, welche die
wirtschaftlichen und politischen Freiheiten für die
Bedürfnisse der in Freiheit gesetzten und der Betreuung durch den
Sozialstaat überantworteten Subjekte eröffnen, könnte
durchaus die Einsicht vermitteln, daß das System der
grundrechtlichen Freiheiten seinen Grund auch gar nicht in der Mehrung
des Nutzens derjenigen besitzt, die alltäglich von den
gewährten Freiheiten Gebrauch machen (müssen). Stellt sich
der Sachverhalt nicht sogar umgekehrt dar? Ist nicht der staatlich
freigesetzte Privatmaterialismus der Bürger der Erfolgsweg des
Staatswesens, die Dienstbarkeit der abhängig Beschäftigten
für die Zwecke des Wachstums des Geldreichtums und der
(weltweiten) Souveränität der politischen und
militärischen Macht zu organisieren? Es ist nun wirklich kaum zu
übersehen, daß der Dienst an diesen Interessen einen
gewissen Widerspruch zu den Lebensbedürfnissen der
Bevölkerungsmehrheit beinhaltet.
Der Gebrauch der wirtschaftlichen und politischen
»Lebensmittel« der Gesellschaft des Grundgesetzes ist zwar
frei, für die meisten aber wenig bekömmlich bis ruinös.
Davon zeugen nicht nur ein ausgebauter Sozialstaat und die
einschlägigen Statistiken zum Umfang der Erwerbsunfähigkeit
und zum Stand der Umweltzerstörung, sondern ebenso die periodisch
erscheinenden Armutsberichte der Bundesregierung.
Die Wahrnehmungsberechtigten der Grundrechte freilich
verfallen nicht im Entferntesten auf die Idee, daß der Grund
ihres mehrheitlich unausweichlichen Mißerfolges in der
bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft in den besagten Zielsetzungen
von Staat und Ökonomie und deren freiheitlich-demokratischen
Organisationsformen liegen könnte. Eher schon führen sie ihre
schlechte soziale Lage auf ein Fehlmanagement der Inhaber der
politischen Macht bei der Ausübung ihrer
verfassungsmäßigen Aufgaben zurück, die sie dann in
(freudiger) Ausübung des ihnen eingeräumten Wahlrechts durch
die Bestellung einer politischen Alternative abstrafen können,
welche dieselbe souveräne Bestimmungsmacht über sie
ausübt wie die abgewählte Regierungsmannschaft. Womit
glücklich der Gegensatz zwischen ihren Lebensinteressen und den
regierenden Interessen von Staat und Marktwirtschaft in den
konstruktiven Ruf nach einer nützlichen staatlichen Herrschaft
überführt wäre. Die staatliche Geschäftsordnung,
die als Fibel staatlicher Machtausübung nach innen und außen
den Inhalt der in dieser Gesellschaft herrschenden Zwecke kodifiziert,
bleibt bei einer solchen Deutung der systematisch geschädigten
Interessen der Bevölkerungsmehrheit die über alle Zweifel
erhabene gute Grundordnung der Gesellschaft.
Die vorliegende Streitschrift gegen den
Verfassungspatriotismus will dieses Versäumnis der freien und
gleichen Bürger beheben durch die Bilanzierung von Kosten und
Nutzen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Sie prüft die
Leistungen eines politischen Gemeinwesens, das Freiheit, Gleichheit,
Eigentum, Menschenwürde, Demokratie und Sozialstaat auf seine
Fahnen geschrieben hat. Die Antworten auf die Frage nach dem
Gebrauchswert der staatlichen Ordnung fallen freilich ein wenig anders
aus als in den üblichen Festtagsreden. Anders auch als die
gängige linke Gesellschaftskritik, welche die schlechte
Verfassungswirklichkeit des Sozialstaatsabbaus, der ungleichen
Vermögensverteilung oder der menschenverachtenden Praxis des
Asylrechts als Verstoß gegen Buchstaben und Geist der Verfassung
ansieht und alle sozialen Mißstände auf nicht
eingelöste Verfassungsversprechen oder auf ein Zuwenig an
Freiheit, Gleichheit, Sozialstaat und Demokratie
zurückzuführen pfl egt. So wird der indirekte Arbeitszwang
gegen Arbeitslose als Verstoß gegen das Grundrecht der
Berufsfreiheit und die Menschenwürde angeprangert, die Höhe
der Hartz-IV-Regelsätze als gravierende Verletzung des Prinzips
echter Sozialstaatlichkeit. Die linken Kritiker erklären sich die
Benachteiligung der Frauen bei der Höhe der Löhne und
Gehälter und der berufl ichen Aufstiegsmöglichkeiten aus
einer immer noch nicht vollständig verwirklichten
Gleichberechtigung. In der hohen Selektivität des deutschen
Schulsystems erblicken sie einen Verstoß gegen das Prinzip der
Chancengleichheit. Kurzum: Sämtliche für negativ erachtete
Erscheinungsformen der real existierenden freiheitlichen Gesellschaft
werden nicht den Prinzipien der freiheitlich-demokratischen
Grundordnung angelastet.
Stattdessen wird die soziale Wirklichkeit als
Abweichungstatbestand von den ideellen Vorgaben der Verfassung
eingestuft. Die patriotisch-affirmative Leistung eines solchen
Kritikwesens, das die soziale Welt des Grundgesetzes im Namen ihrer
angeblich besseren Möglichkeiten beurteilt, besteht darin, der
staatlichen Grundordnung einen generellen Freispruch für alle
sozialen Skandale zu erteilen, die auf ihrem Boden existieren. Die
Kritik der sozialen Wirklichkeit im Namen des Grundgesetzes stellt die
Verfassung selbst außerhalb jeglicher
Kritik. Diese erscheint umgekehrt als positive Grundlage
fortschrittlich-kapitalismuskritischer sozialer Bewegungen.
Nicht zuletzt deshalb richtet die Studie ihr besonderes
Augenmerk auf die loyalitätsstiftenden und -fördernden
Elemente der Verfassung, die alten und neuen verfassungsrechtlichen
Hoffnungsträger der politischen Linken: die Sozialpflichtigkeit
des Eigentums, die Sozialisierungsklausel, die Staatsaufgaben des
Umwelt- und des Arbeitsschutzes, die Einrichtungen des Sozialstaates
einschließlich der sozialen Grundrechte, die Zulassung der
Gewerkschaften, das allgemeine Wahlrecht und die demokratischen Rechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.