Das demokratische »Durchwursteln« und die demokratischen Bedenken darob

Alles  – bloß keine Kritik am Kapitalismus!


Gleich zu Jahresbeginn rauschten die Deutschen Aktienindices mehrere Prozentpunkte in die Höhe, der DAX selber übersprang locker die 6000-Punkte-Marke. Jeder Beobachter fragt sich, wie denn das? Wo ist denn die Grundlage dafür angesichts einer Krise, deren Ende nicht abzusehen ist? 

Der österreichische Rundfunk konstatiert exemplarisch für die gesamteuropäische Öffentlichkeit:

"Die politische Lähmung innerhalb Europas aber auch in den USA angesichts der Schuldenkrise in der Euro-Zone droht das globale Wirtschaftswachstum über längere Zeit zu bremsen, befürchten Experten. Denn die globale Finanzkrise, die vor vier Jahren begann, hat sich zu einer politischen Krise für die Vereinigten Staaten und Europa ausgewachsen. Die Machtlosigkeit der Regierungen angesichts der wachsenden Schuldenlasten und ihre verzweifelte Suche nach Lösungen schüren nicht nur die Unruhe auf den Märkten, sondern auch die Unzufriedenheit in den Bevölkerungen.
Die politische Krise schoß in diesem Jahr in den Vordergrund, nachdem Wähler in Reaktion darauf, wie die Regierungen auf die 2007/08-Finanzkrise, die globale Rezession und die daraus resultierende Schuldenexplosion reagierten, das Vertrauen in die Politik verloren hatten. Zu dem, was falsch gelaufen ist, gibt es zwei Erzählungen: Die »linke« Erzählart sieht die Banker mit ihrem Streben nach Gewinnmaximierung als Bösewichte, die ungestraft davonkamen. Die »rechte« Erzählung stellt die Regierungen als Schuldige an den Pranger, die zu sehr in die Märkte eingriffen, riesige Rettungspakete und Sozialprogramme schnürten, die das Haushaltsdefizit weiter ausufern ließen.
In beiden Erzählweisen ist es der Bürger, der die Rechnung mit hoher Arbeitslosigkeit und höheren Steuern begleichen muß. Der erfolglose Kampf gegen die wirtschaftliche Unsicherheit läßt das Vertrauen der Bürger in die Regierungen Europas und der USA schrumpfen."
(orf, 06.01.12, hieraus auch die weiteren Zitate)

Zunächst stellt sich hier die Frage, weshalb es auf ein globales Wirtschaftswachstum ankommen soll: Reicht denn eine nationale bzw. supranational-EU-europäische nicht? Zumindest also ein Wirtschaftswachstum in und für die Nation, deren Protagonist und Propagandist man ist?
Im Grunde schon. Doch das »Problem«, das irgendwelche Leute aufgespürt haben, die als Experten an die Front geworfen werden, ist die Verallgemeinerung der Krise: Es scheint ja überhaupt keine nationalen Gewinner mehr zu geben. Das jedenfalls ist unerfrreulich für die Investoren, die Anleger von Kapital, die gar nicht mehr wissen wohin mit ihrem vielen Geld. Eine daher erst richtig ins Rollen kommende Folge ist, daß sie sich Kapital und Anrechtsscheine darauf gegenseitig abjagen, zu immer aberwitzigeren Preisen. Das läßt die Börsenbarometer nach oben schnellen und sie der Krise erst richtig entrücken. Freilich, je höher Kapital bewertet wird, ohne diesen Wert früher oder später auch realisieren zu können, desto jäher fällt es seiner Entwertung anheim.

Diese Schranke der Verwertung von Kapital, auf die das System zutreibt, soll den versammelten Experten des Systems zufolge keine sein! Denn das Interesse aus Kapital mehr Kapital zu machen, ist sakrosankt und zugleich Unterpfand gesamtnationalen Reichtums, also Unterpfand des Erfolgs einer Nation im Wettbewerb mit anderen Nationen. Deshalb also, weil diese Schranke der Kapitalverwertung zu diesem Zweck keine sein soll, stoßen die Betrachter der Malaise auf das »Problem« nationaler Abhängigkeiten, auf das eines (hinkenden) globalen Wirtschaftswachstums. Bekanntlich soll nun das politisch angefeindete China dem »freien Westen« aus seiner kapitalen Beschränktheit heraushelfen. (Die Pseudokommunisten in Beijing sind auch noch dumm genug,  ihnen die volle Konvertibilität des Yuan bis Ende 2015 in Aussicht zu stellen, also die Tür für ihre Spekulationsgeschäfte noch weiter zu öffnen.)

Es stellt sich zweitens die Frage, warum den Staaten in Form ihrer nationalen Regierungen eine Machtlosigkeit bescheinigt wird. Sie sind doch wohl qua ihrer Gewalt die Subjekte schlechthin, die ihre Interessen an einem (möglichst hohen) Wirtschaftswachstum exekutieren: Zum einen durch die dafür für nötig befundene nationale Kreditschöpfung wie zum anderen mit den einhergehenden Maßnahmen, die unter dem Begriff »Deregulierung« die Freiheiten des Kapitals schier uferlos erweitern.
Wenn das Kapital nun so tut, als wäre der Staat Ursache seiner Entwertung, dann ist damit zwar ein Feindbild vorstellig gemacht, sachlich freilich hilft ihm das nicht weiter. Schließlich ist das Kapital selber immer noch Ursache seiner eigenen Entwertung*, wie kapitalfreundlich der Klassenstaat seiner Lieblingsklasse gegenüber auch immer sich geben mag.

Das ist die Dummheit jener Klasse, die es wie selbstverständlich als ihr (Vor-)Recht betrachtet, vom System zu profitieren. Die andere Klasse, die das System nichtsdestoweniger als das beste aller möglichen betrachten soll, weil sie ebenso dessen Nutznießer sein soll, wenn nicht gleich, so doch irgendwann, diese Klasse hat die Kosten für den Vorrang der anderen zu tragen. So wird sie Tag für Tag ent-täuscht und von Jahr zu Jahr immer mehr.**

Ja, das Gejammere der Klassen, so gegensätzlich ihr Grund auch ist, schreit nach einer Führung und gibt vor allem neuen Politikern Futter. Politische Führung ist gefragt. So findet zum Beispiel Heather Conley, Ex-US-Staatssekretärin für europäische Angelegenheiten:

"[Sie] glaubt, daß der Weg aus der Krise nur über ein großes Umdenken führen kann: »Ohne eindeutige Richtung und Führung treten wir auf der Stelle oder wursteln uns durch, unsicher, welcher Weg zu nehmen ist«, so Conley. »Ich befürchte, nur ein externer Schock kann uns dazu zwingen, den unsicheren (neuen) Weg einzuschlagen. Oder wir werden so frustriert, daß sich der Westen Anführern zuwendet, die uns in eine radikale neue Richtung lenken. ..."

Radikal entweder in Sachen Freiheit des Kapitals oder eben in einer bedingungslosen Unterordnung des Kapitals unter staatliche Belange, wie es in letzter Instanz der Faschismus durchgesetzt hat.
[– Nebenbei bemerkt wird die mangelnde Bereitschaft des Staates, sich dem Kapitalinteressen zu widersetzen, oft fälschlicherweise links verortet: Wie man an der deutschen Linkspartei anschaulich studieren kann, ist selbst die grundsätzlich national orientiert, die Nation ihre große und größte Sorge. –]
Zwischen den beiden Extremen, der uferlosen Freiheit des Kapitals einerseits und der bedingungslosen nationalen Unterordnung, seine Einordnung in eine deutsche Arbeitsfront, andrerseits, gilt die (amtierende) Politik als eine des "»Stillstands« oder des »Durchwurstelns«" ( Überschrift des orf-Artikels). Die Erfolglosigkeit wird dieser so apostrofierten Politik zur Last gelegt. In einer Gesellschaft, der der Erfolg schlechthin zum Fetisch geworden ist. Denn über seinen Inhalt ist kein Wort zu verlieren, sein Ziel und Zweck ist unterstellt, gebilligt und geadelt.

Da mögen die nationalen Anführer noch so unerbittlich auftreten, "die Suche nach Wegen aus der europäischen Krise hat schon in mehreren Ländern Politikern den Kopf gekostet."

Wenn schon der Rubel nicht mehr so rollt wie er soll, dann rollen wenigstens ein paar Köpfe. So schön kann Kapitalismus doch auch sein!

(09.01.12)
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* Den Nachweis dessen hat ein gewisser Karl Marx in einem auf drei Bände angelegten Werk namens »Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie« erbracht:


Kapital - Karl Marx
(Marx-Engels-Werke Band 23 · 24 · 25)

Das Kapital Band 1:
Der Produktionsprozeß des Kapitals


Das Kapital Band 2:
Der Zirkulationsprozeß des Kapital
s


Das Kapital Band 3:
Der Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion


Kritik der Mehrwerttheorien MEW Band 26.1 · 26.2 · 26.3


** Leider ist auch diese Klasse, welche für die Nöte des Kapitals haftbar gemacht wird, nicht vor Dummheiten gefeit: So schüren gerade die, die sich als Vertreter der Lohnarbeiter aufspielen und doch nichts anderes als Vertreter der Lohnarbeit sind, die Gewerkschaften, die Illusionen der Arbeiter in die Lohnarbeit. So wenig sich das System für die Lohnsarbeiter auszahlt, so sehr pochen die Vertreter der Lohnarbeit auf  ihren Anteil am Mehrwert! Obwohl sie nicht wirklich arbeiten, werden bekanntlich Betriebs- und gewerkschaftlicherseits gestellte Aufsichtsräte vom Kapital bezahlt. So lästig das sein mag, es weiß schon, warum: Es wäre ja noch schöner, wenn die Arbeiter die Entwertung des Kapitals vorantrieben....