Klaus Barbie – Der Schlächter von Lyon:
Wie er nach Augsburg kam und von dort wieder weg mußte



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Im Frühjahr 1947 nahm Barbie seine Arbeit für das CIC auf. Als er am 18. April in der Kleinstadt Memmingen in Bayerisch-Schwaben zu seinem ersten Kontaktgespräch antrat, stand er einer Mitarbeit noch zögernd gegenüber. Und auch der CIC-Agent Robert Taylor, der erste Amerikaner, der Barbie eine formelle Anstellung verschaffte, war zunächst nicht allzu begeistert. Er wußte, daß Barbie ein ehemaliger Gestapo-Offizier war und daher automatisch auf der Liste der festzunehmenden Personen stand. Wie Taylor selbst zugibt, war ihm auch von Anfang an klar, daß er mit Barbie »eine der Schlüsselfiguren« von der Fahndungsliste der CIC-Operation »Selection Board« vor sich hatte.
Barbie hatte ihm als erste Bewerbungsunterlage die Kopie eines langen Artikels eingereicht, der in einer deutschen Zeitung über Rene Hardy erschienen war. Um seine Wichtigkeit zu belegen, hatte er zusätzlich auf fünf Schreibmaschinenseiten einen zusammenfassenden Bericht über seine persönliche Beteiligung an Hardys Verhaftung und über die Ergebnisse seiner erfolgreichen Vernehmungstätigkeit verfaßt. Aber Taylor brauchte man gar nicht groß zu überreden. Er mag seine persönlichen Vorbehalte gehabt haben, aber letztlich verließ er sich ganz auf den deutschen Kollegen, der ihm Barbie angebracht hatte. Und auch ihr Vorgesetzter in der Münchener Zentrale der CIC-Region IV hatte offenbar keinerlei Bedenken, den Neuling einzustellen. Keiner von beiden hielt es zu diesem Zeitpunkt für notwendig, der CIC-Zentrale in Frankfurt mitzuteilen, daß Taylor mit Barbie nicht nur Kontakt aufgenommen hatte, sondern sogar ernsthaft über ein Einstellungsangebot nachdachte.
Für Taylor war es nicht irgendein Interview. Noch vor einem Jahr wäre der neue Bewerber als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt worden. Inzwischen hatte sich die Teilung Europas verfestigt. Der Kalte Krieg hatte begonnen und die letzten Reste einer ambivalenten Haltung der Amerikaner gegenüber den Kommunisten schlichtweg zum Verschwinden gebracht. Die ehemaligen Verbündeten waren zu Feinden, die Feinde, die man als Verbrecher gejagt hatte, waren zu Freunden geworden. Der vordringlichste Auftrag an alle Geheimdienste der Westalliierten lautete neuerdings: die sowjetischen Pläne aufzudecken und eine kommunistische Infizierung Westdeutschlands zu verhindern. Das personelle und organisatorische Chaos, das bei den vielen untereinander rivalisierenden Geheimdiensten herrschte, führte freilich auch zu Entscheidungen, die die Verantwortlichen 25 Jahre danach nicht mehr so leicht begründen können. Taylor zum Beispiel meint heute, ihm sei nicht mehr gegenwärtig, ob er auch ehemalige Gestapo-Agenten angeheuert hat. Er kann sich nicht einmal erinnern, daß er Barbie gegenübersaß. Der Kandidat müsse für ihn damals einer der vielen Deutschen »mit schmutziger Vergangenheit« gewesen sein. Aber die dokumentarischen Beweise für seine Zusammenarbeit mit Barbie will er durchaus gelten lassen.
Taylor hatte eine typische CIC-Karriere gemacht. Er war aus einer kämpfenden Einheit zum Geheimdienst abgestellt worden, weil er deutsch sprach und als ehemaliger Journalist im Verdacht stand, Leute gut ausfragen zu können. Eine besondere Ausbildung in der CIC-Zentrale in Fort Holabird hat er nie genossen, aber er hatte unmittelbare praktische Erfahrungen mit einer CIC-Einheit gesammelt, die an der Spitze der amerikanischen Truppen den Vorstoß über den Rhein und bis zur Elbe mitgemacht hatte. Taylor fühlte sich, wie die meisten CIC-Offiziere, als Angehöriger einer Eliteeinheit (in deren Reihen z. B. Henry Kissinger und der Schriftsteller J. D. Salinger zu finden waren). Mit all ihren Sonderrechten und Privilegien stand die CIC-Truppe in der Geschichte der amerikanischen Armee ohne Vorbild da. Ihr Auftrag lautete, unter Einsatz unbegrenzter Machtbefugnisse den Geist des Nazismus aus Deutschland auszutreiben. Das CIC hatte Befehl, jeden Deutschen zu verhaften, der für die alliierte Besatzung eine Gefahr darstellen könnte; das hieß praktisch, alle Funktionäre der NSDAP und alle Mitglieder von paramilitärischen Formationen des Naziregimes festzunehmen, und alle Personen, die das Dritte Reich unterstützt oder von seinem Regime profitiert hatten, aus öffentlichen Ämtern zu entfernen. Die Aufgabe überstieg alle Vorstellungen, ihre Erfüllung war von Anfang an gefährdet.
Ende 1945 beantragten viele unter den fähigeren CIC-Offizieren ihre Entlassung, um nach Kriegsende endlich nach Hause zurückzukehren. »Der Andrang war so groß«, erinnert sich einer der zuständigen Beamten, »daß die amerikanische Militärmaschine wie Butter in der Sonne zusammenschmolz.« Zurückblieben vor allem die weniger fähigen CIC-Mitglieder, die zu Hause praktisch vor dem Nichts gestanden hätten und sich als Mitglieder einer Besatzungsarmee eine bessere Perspektive ausrechneten. Die Neulinge, die jetzt zum CIC-Korps stießen, zeichneten sich — im Gegensatz zu der ursprünglichen Kerntruppe — durch Unwissenheit und Faulheit aus, durch fehlende Deutschkenntnisse, mangelndes Verständnis für die deutschen Verhältnisse und unzureichende Vorbildung. Dafür waren sie aber um so leichter zu korrumpieren. Diese Leute waren entsprechend weniger gewillt, die belasteten Nazis aus einflußreichen oder gewinnträchtigen Positionen zu entfernen.
Earl Browning gehörte zu den CIC-Offizieren der ersten Stunde. Er hatte sich beim Vormarsch der Amerikaner stets unmittelbar hinter der Front aufgehalten und als einer der ersten Amerikaner das Konzentrationslager Dachau betreten. Als er seinen Entlassungsantrag stellte und im September 1945 Europa den Rücken kehrte, hatte er nach eigenen Aussagen »genug gesehen, um sich überzeugen zu lassen, daß viele Deutsche keine sehr angenehmen Menschen waren. Ich war entsetzt über die Dinge, die ich gesehen hatte. Dachau war ein großer Schock gewesen.« Anfang 1946 erhielt Browning vom CIC ein erneutes Angebot, als hochrangiger Offizier nach Deutschland zurückzugehen. Im April 1946 wurde er als Regionalchef des CIC in Bremen eingesetzt.
Die Atmosfäre hatte sich deutlich gewandelt: »Die Deutschen waren nicht mehr unsere Feinde. Die Entnazifizierung war nicht mehr so wichtig. Das Mißtrauen gegenüber den Russen war stärker geworden.« Trotz alledem teilte das Bremer CIC, wie Browning zu seiner Verblüffung feststellte, seine Diensträume mit der örtlichen Kommunistischen Partei. Browning ließ es zunächst bei dieser Regelung, die sich bis dahin gütlich bewährt hatte — und ihm zudem die einmalige Gelegenheit gab, den Kommunisten bei der Arbeit zuzusehen. Aber als er beobachtete, wie sich russische Reparations-Kommissionen in Bremen umsahen, kam er zu dem Schluß, daß die alten Weltkriegsverbündeten auch auf Spionage aus waren. Browning kündigte den Kommunisten die Bürogemeinschaft auf und legte im Juni 1946 bei der Frankfurter CIC-Zentrale den Antrag vor, die Bremer Kommunistische Partei ausforschen zu dürfen. Aber General Burriss, der Chef der nachrichtendienstlichen Abteilung der US-Armee (G 2), hielt nichts von dieser Idee. Für Browning verkörperte Burriss bloß die typische Arglosigkeit, die man im US-Hauptquartier gegenüber den Plänen der Kommunisten an den Tag legte. Er begann, mehr Informationen zu sammeln, um sein Vorhaben besser begründen zu können.
Sehr bestürzt war Browning damals über die Art und Weise, wie mit russischen Überläufern verfahren wurde. Viele von ihnen brachten wertvolle nachrichtendienstliche Informationen mit, durch die sie sich den Empfang zu versüßen und das Recht auf Asyl zu sichern hofften. Ihre Rechnung ging mitnichten auf. Browning sah sich gezwungen, das zwischen General Clay und seinem russischen Partner General Sokolowski unterzeichnete Abkommen zu halten, wonach Überläufer als Deserteure an die Russen überstellt werden mußten. »Ich wußte, daß sie nach der Auslieferung hingerichtet wurden, und das war eine schreckliche Sache.« Aber bevor er sie nach Rußland zurückschickte, wertete er immerhin noch ihre Spionageberichte aus, um mit Hilfe dieses Materials seine Vorgesetzten doch noch davon zu überzeugen, daß die Kommunisten »aggressive Pläne gegen die USA« im Schilde führten.
Mit dieser Ansicht rannte er jetzt in Frankfurt allerdings offene Türen ein. Die Russen hatten die ständigen Viermächte-Verhandlungen in Berlin völlig blockiert und die Wahlen zum Berliner Stadtparlament torpediert. Und über eine weitere Entwicklung zeigten sich die westlichen Regierungen ebenfalls alarmiert: die Sozialdemokratische Partei in der sowjetischen Zone hatte sich mit den Kommunisten vereinigt, bzw. war, aus westlicher Sicht, geschluckt worden. Die neugebildete SED stand unter sowjetischer Kontrolle, und wenn die Kommunisten in den Westzonen ebenso vorgehen würden, könnte sich für die Sicherheit der Alliierten eine erhebliche Bedrohung ergeben. Das amerikanische Oberkommando hatte zur damaligen Zeit keinerlei verläßliche »Erkenntnisse« über die kommunistischen Absichten und Aktivitäten im gesamten sowjetisch besetzten Teil Europas und in ihrer eigenen Zone. In dieser Lage war den Amerikanern jede handfeste Information — selbst von der niedrigsten Provinzebene – als wertvolle Ergänzung willkommen.
Die »Operation Sunrise« – wie Browning die Unterwanderung der Bremer Kommunistischen Partei taufte — begann im September 1946. Browning geht davon aus, daß es das erste derartige Unternehmen im Bereich der US-Zone war. Seine besten Spitzel rekrutierte er unter denjenigen KP-Mitgliedern, über deren schwach ausgeprägte Parteitreue er informiert war. »Wir bekamen nicht viel heraus, aber angesichts unserer totalen Ignoranz war das besser als gar nichts.« Nach einigen Wochen weitete er seine Operation aus und überredete seine Informanten, sich der SED in der sowjetischen Zone anzuschließen. Auch hier blieb der Ertrag freilich bescheiden.
Browning erinnert sich noch heute, daß er im Herbst 1946 aus der Frankfurter Zentrale ein Fernschreiben bekam, in dem alle CIC-Abteilungen informiert wurden, daß ein hoher Gestapo-Offizier, der wegen vieler Kriegsverbrechen gesucht wurde, in der amerikanischen Zone aufgetaucht war. Die Anordnung lautete, den Mann zu verhaften. Sein Name war Klaus Barbie.
Am 1. März 1947 wurde Dale Garvey, der dieses Fernschreiben abgeschickt hatte, als Einsatzleiter für die gesamte Region 7970 des CIC abgelöst und durch Browning selbst ersetzt. Garvey, der gerade die »Operation Selection Board« abgeschlossen hatte, wurde nach München versetzt. Sein offizieller Auftrag lautete, die CIC Region IV, also Bayern, zu »reorganisieren«, in Wirklichkeit sollte er vor allem der wüsten Korruption unter den amerikanischen Offizieren ein Ende machen, die den Ruf der amerikanischen Militärregierung ernsthaft in Gefahr brachte.
In Frankfurt mußte Browning feststellen, daß Garvey ihm ein hoffnungsloses Chaos hinterlassen hatte: Die 700 CIC-Agenten arbeiteten ohne hinreichende Kontrolle, ihre Informationen waren oftmals ohne jeden Wert. Deutsche Zuträger konnten dieselben Falschinformationen der Reihe nach an verschiedene CIC-Agenten verkaufen, weil in der Zentrale niemand ihren Inhalt und ihre Herkunft überprüfte. Die schwerwiegende Folge war, daß dieselben Informationen, da sie scheinbar aus verschiedenen Quellen stammten, sich gegenseitig bestätigen konnten.
Browning machte sich zuerst an die Reorganisation der zentralen Kartei. Er wies alle Regionen an, eine vollständige Namensliste aller von ihnen beschäftigten Informanten nach Frankfurt zu liefern, um sie zentral zu erfassen und mit Kodenamen zu versehen. Verantwortlich für diese Informantenkartei — im CIC-Jargon auch »Tech Spec« genannt — war der CIC-Offizier Joe Vidal, der seine Karriere später beim CIA fortsetzte. Auf seinem Schreibtisch landete im September 1947 auch die von Garvey eingereichte Liste aus München. Sie enthielt u. a. die Mitarbeiter-Namen der Augsburger Abteilung, deren Memminger Büro für das südliche Bayern bis hinunter zur österreichischen Grenze zuständig war. Vidal stellte fest, daß nicht alle Mitarbeiter der Region IV mit den geltenden Kriterien vereinbar waren und schickte die Liste an Browning weiter. Der kann sich an den Vorgang noch genau erinnern:
»Ich saß in meinem Büro, als mein Stellvertreter Jim Ratliffe mit einem Papier in der Hand hereinkam. Es war das Verzeichnis der Informanten der Region IV, die wir von Garvey erhalten hatten. Ich las die Liste durch und sah den Namen Klaus Barbie. Ich konnte es kaum fassen. Ich erinnerte mich sehr deutlich, daß das derselbe Deutsche war, von dem uns Garvey, als ich noch in Bremen saß, mitgeteilt hatte, daß wir ihn verhaften sollten. Und hier beschäftigte er ihn als Mitarbeiter. Ratliffe lief erregt im Zimmer umher und schrie, der Garvey wolle uns reinlegen. Ich schickte Garvey sofort den Befehl, Barbie zu verhaften.«
Das war der Beginn einer erbitterten Fehde zwischen Browning und der Region IV. Die Münchener waren fest entschlossen, ihren Ex-Gestapochef, der inzwischen angeblich zu einem ihrer besten Agenten geworden war, gegen die eigene Zentrale abzuschirmen. Also meldeten sie jetzt nach oben, Barbie sei »verschwunden«.
Garvey behauptet heute steif und fest, er könne sich weder an Barbie noch an den ganzen Vorgang erinnern; aber auch er beugt sich den dokumentarischen Beweisen. Er verweist darauf, daß er sich die ganze Zeit mit »organisatorischen Problemen« herumschlagen mußte und daß er, obwohl sein Name im Schriftverkehr mehrmals auftaucht, immer nur »abgezeichnet« habe, was andere verfaßt hatten. Keiner der Mitarbeiter in der Münchener CIC-Zentrale kann oder will sich noch an Barbie erinnern. Bei den CIC-Leuten, die in der Augsburger Filiale beschäftigt waren, sieht es hingegen ganz anders aus. Für sie war Barbie zu einer ausgesprochen exquisiten Informationsquelle geworden, auf die sie zunehmend stolz waren.
Auch Taylor kann sich nach einem Blick in seine alten Akten auf einmal sehr deutlich erinnern, wer ihm im April 1947 Barbie in seine Memminger Diensträume gebracht hat. Es war Joseph »Kurt« Merk, ein ehemaliger Offizier der deutschen Abwehr, der während des Krieges in Dijon gewirkt hatte. Merk und Barbie hatten damals die »Operation Technica«, eine der erfolgreichsten Unterwanderungsaktionen im besetzten Frankreich inszeniert. Merk hatte über einen längeren Zeitraum seine französische Freundin Andre Rives als Spitzel auf deren Onkel Charles Merlen angesetzt und auf diese Weise die Pläne der Résistance-Führung von Dijon auskundschaften können.
Taylor hatte Merk im April 1946 als Mitarbeiter gewonnen. Obwohl Offiziere der Abwehr damals noch immer auf der Liste der automatisch zu verhaftenden Personen standen, erregte ihre Anstellung kaum noch größeren Anstoß. Schon während des Krieges hatte sich zwischen den Geheimdiensten der Westalliierten und der Deutschen eine Art gegenseitiger Respekt entwickelt. Bereits kurz nach der deutschen Kapitulation hatte Reinhard Gehlen, der Chef der Abteilung »Fremde Heere Ost« beim deutschen Generalstab (die sich mit Hilfe von Erkenntnissen der Abwehr auf Osteuropa spezialisiert hatte), mit dem amerikanischen Geheimdienstoffizier General Edwin Sibert die Übereinkunft getroffen, seine sämtlichen unschätzbar wertvollen Unterlagen an die Amerikaner zu übergeben. In gezielter Vorbereitung eines solchen Nachkriegs-Handels hatte Gehlen seinen Schatz — in Fässern verstaute Mikrofilme und Photokopien — auf einem abgelegenen bayerischen Bauernhof vergraben. Im Sommer 1945 war Siberts Argwohn gegenüber den Russen in amerikanischen Kreisen noch keine Mehrheitsstimmung. Noch am 10. Dezember 1945, nachdem Gehlen in Washington schon vier Monate lang über den Inhalt seiner Archive referiert hatte, lehnte das Kriegsministerium einen Antrag Siberts ab, der zur Beschaffung von Informationen über die Russen auch Deutsche einsetzen wollte. Sibert hat diese Anweisung schlichtweg ignoriert. Die US-Armee in Europa ging bereits davon aus, daß sie geheimdienstliches Material brauchte, und daß sie es nur von einschlägig erfahrenen Deutschen bekommen konnte. Unter anderem von Leuten wie Merk.
Taylor hat Merk als einen ehrgeizigen, total in seiner Arbeit aufgehenden Geheimdienstler in Erinnerung, der seine bescheidene Rolle in Augsburg als außerordentlich einengend empfand. In einem Bericht an die Frankfurter CIC-Zentrale beschrieb er Merk als »einen der besten Gegenspionage-Spezialisten in Frankreich während der deutschen Besatzung«. Merk hatte sich seine Informanten in den Flüchtlingslagern, unter entlassenen Soldaten und ehemaligen SS-Offizieren, aber auch in den Gasthäusern und Kaufläden der umliegenden Dörfer zusammengesucht. Diese Leute versorgten ihn mit den neuesten Kostproben ihrer Beobachtungen und Kommentare: was sie von den Alliierten und von ihren eigenen Politikern hielten, was sich auf dem wild ins Kraut schießenden Schwarzmarkt tat und was sie gerade von ihren Freunden und Verwandten oder von Neuankömmlingen aus der russischen Zone aufgeschnappt hatten. Diese Zufallsinformationen verarbeitete Merk zu seinen wöchentlichen Berichten an Taylor, der ihn dafür in der damals üblichen Währung, also in Zigaretten, Schokolade und anderen Nahrungsmitteln auszahlte. Damit verschaffte sich Merk ein angenehmes Leben, das er immer noch mit Andre Rives teilte, die aus Angst vor ihrer Hinrichtung als Kollaborateurin zusammen mit ihrer Mutter mit Merk nach Deutschland gezogen war und jetzt unter dem Namen Annemarie Richter mit ihm zusammenlebte.
Merk hatte seinen alten Kameraden aus purem Zufall im Februar 1947 wiedergetroffen. Auf einer seiner Dienstfahrten mit dem Zug sah er Barbie irgendwo einsam und verloren auf einem Bahnsteig stehen. Nachdem sie sich gegenseitig zum Überleben des Krieges gratuliert hatten, enthüllte Merk, wer sein neuer Arbeitgeber war und schlug Barbie gleich vor, doch auch bei dieser Firma einzusteigen. Barbie reizte der Gedanke. Er hatte es satt, sich in der trüben Unterwelt durchzuschlagen, und versuchte im Grunde verzweifelt, erneut in eine »respektable« Position aufzurücken. Andererseits war ihm klar, daß er im Gegensatz zu Merk bei einer Auslieferung an die Franzosen der sicheren Todesstrafe entgegensah. Aber Merk redete ihm gut zu. Die Zeiten hätten sich geändert, und die Amerikaner würden sich für das Thema Kriegsverbrechen inzwischen kaum mehr interessieren.
Diese Auskunft entsprach nicht ganz der Wahrheit. Als Gehlen nach seiner triumfalen Rückkehr aus den USA daranging, einige der berüchtigsten alten SS-Offiziere für seinen neuen Geheimdienst zu rekrutieren, hatten sich dagegen die CIC-Offiziere gewehrt, bei denen die neuen Kollegen als international gesuchte Kriegsverbrecher auf den Listen standen. Aber sie bildeten innerhalb des CIC eine rasch schwindende Minderheit. Denn mittlerweile war das Vorhaben amerikanischer Kriegsverbrecher-Prozesse total in Verruf geraten. Die Ermittlungen über das Massaker von Malmedy waren zum Angriffsziel einer ungeheuerlichen, bösartigen politischen Kampagne geworden, die darauf zielte, die Nazis von jeglicher Schuld an irgendwelchen Verbrechen freizusprechen. Viele amerikanische Offiziere waren dagegen — zumal, wenn sie nicht im Krieg gekämpft hatten —, daß sich die Amerikaner weiter an der Verfolgung deutscher Verbrechen gegen Nicht-Amerikaner beteiligten: in einer Situation, da Europa auf eine neue Konfrontation zusteuere, sei das politisch einfach nicht mehr angebracht. Straight und die Ermittlungsbehörden der JAG hatten Anweisung bekommen, die Kriegsverbrecherprozesse unverzüglich einzustellen und möglichst viele Tatverdächtige — selbst bei einer überwältigenden Beweislast — ohne Prozeß auf freien Fuß zu setzen. Mit dieser Entwicklung im Auge ließ sich Barbie zu einem Treffen mit Taylor überreden.
Merk hatte längst herausgefunden, daß seine amerikanischen Arbeitgeber keine besonders anspruchsvollen Maßstäbe hatten. Taylors Vorgesetzter, Captain George Spiller, hatte sich für seine herausragende Tapferkeit im Italien-Feldzug zweimal die Silberstern-Medaille verdient, aber auch einen Lungendurchschuß und eine weitere schwere Verletzung erlitten, die ihn für den aktiven Dienst untauglich machten. Die Leitung einer kleinen CIC-Filiale in der tiefsten bayerischen Provinz bot sich als idealer Posten an, und Spiller war das gerade recht. Die Geheimdienst-Arbeit interessierte ihn nicht und er hielt sich aus den laufenden Geschäften heraus. Sein eigener Wochenablauf gestaltete sich in der Regel so: am Donnerstag nachmittag erhob er sich von seinem Schreibtisch, holte seine deutsche Freundin ab und widmete sich für ein verlängertes Wochenende der Jagd, der Liebe und dem gepflegten Essen. Dies Leben finanzierte er aus den Gewinnen, die er durch Schwarzhandel mit amerikanischen PX-Waren verdiente. Am Dienstag morgen tauchte er wieder im Büro auf, machte seinen Mitarbeitern kräftig Dampf und leitete ihre gesammelten Berichte kommentarlos an die Zentrale nach München weiter. Dort nahm Fürs erste niemand an dem Material aus Memmingen Anstoß.

Nach Barbies Schilderung muß das Vorstellungsgespräch bei Taylor recht angenehm verlaufen sein. Taylor versicherte ihm, er habe »nichts zu befürchten« und man werde ihn nicht verhaften. Die Amerikaner wollten sich lediglich kurz mit ihm über seine Vergangenheit unterhalten. Das Lügengebräu, das Barbie ihm daraufhin auftischte, nahm er anstandslos zur Kenntnis. Insbesondere konfrontierte er ihn weder mit der im SHAEF registrierten Funktion Barbies als Gestapochef von Lyon noch mit der Tatsache, daß er auf der CROWCASS-Liste als gesuchter Mörder auftauchte. Er sah in dem Deutschen nur den aufrechten und redlichen Geheimdienstler und bot ihm gleich — vorbehaltlich der Zustimmung seines Vorgesetzten — eine Stelle und ein Zimmer im Memminger Bahnhofs-Hotel an. Nach acht Tagen kam von oben grünes Licht. Die Amerikaner stellten nur eine Bedingung: Barbie mußte versprechen, alle Kontakte »mit anderen SS-Leuten oder Mitarbeitern deutscher Geheimdienste« abzubrechen, es sei denn, sie wurden direkt vom CIC angeordnet. Ohne Zögern ging Barbie auf diese Bedingung ein — um sein Versprechen sehr rasch wieder zu brechen.
Taylor ließ sich von dem Gespann Merk & Barbie einreden, daß sie ihm auf drei Gebieten zu wichtigen Informationen verhelfen könnten. Erstens würden ihre Erfahrungen aus dem Kampf gegen den kommunistischen Widerstand in Frankreich den Amerikanern bei der Ausforschung der deutschen KP und der Entlarvung sowjetischer Agenten zugute kommen. Das war kein besonders zugkräftiges Argument, denn die französische KP war in Lyon äußerst schwach vertreten gewesen, und die deutschen Kommunisten führten schließlich keinen Untergrundkrieg; mit der französischen Partei hatten sie ohnehin nicht viel gemeinsam. Aber für die beiden Deutschen und die Amerikaner handelte es sich um ein- und denselben Feind.
 Zweitens behaupteten sie, die Amerikaner mit Informationen über Ereignisse und Entwicklungen in der benachbarten französischen Zone bedienen zu können. Diese verlangten dringend »Erkenntnisse« über die kommunistische »Unterwanderung« der französischen Geheimdienste, über die französische KI', über die Aktivitäten der deutschen KP in der französischen Zone und über die Tätigkeit der französischen Geheimdienste in der amerikanischen Zone. Daß sich Barbie und Merk zur Informationsbeschaffung tatsächlich in die französische Zone hinüberwagten, klingt äußerst unwahrscheinlich, und fraglich ist .1 'ich, ob sie dort über verläßliche Quellen verfügten. Aber ihren amerikanischen Führungsoffizieren vermittelten sie ganz entschieden den Eindruck, sie hätten Spitzel im Oberkommando der Franzosen in Baden-Baden sitzen und könnten erstklassige französische Geheimdienstquellen anzapfen. Komischerweise war sich offenbar niemand in der CIC-Region IV darüber im klaren, daß es streng verboten war, die eigenen Verbündeten auszuspionieren.
Drittens ließ sich Taylor von Merk einreden, daß sie Zugang zu einem gigantischen Agentennetz hätten, das sich von Lissabon bis zur russischen Grenze quer durch Europa spannte. Diese Behauptung war zwar übertrieben, in der Situation von 1946/47 aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Merk hatte seine aus der Kriegszeit stammenden Kontakte zu Agenten der Abwehr weitergepflegt und neue Kontakte von befreundeten Offizieren »geerbt«, die sich speziell mit dem Balkan und Osteuropa beschäftigt hatten. Mit Hilfe dieser Informanten begann er »Erkenntnisse« aller Art anzuliefern: über die Verfolgung deutscher Minderheiten, über den noch immer vorhandenen anti-russischen Widerstand, über die allgemeine politische Entwicklung in den osteuropäischen Ländern und in den anderen Zonen Deutschlands. Die Amerikaner waren über ihre eigene Unkenntnis so frustriert und über jedes erhältliche Stückchen Information dermaßen glücklich, daß sie sich in keiner Weise daran störten, die Korrektheit von Merks »Informationen« nicht überprüfen zu können.
Barbies Beitrag zu diesem Nachrichtengeschäft bestand in seinem bevorzugten Zugang zu den »alten Kameraden«. Zunächst hörte er sich nach ehemaligen SS-Offizieren um, die in Osteuropa Dienst getan hatten. Die Kenntnisse, die sie in ihren Archiven und in ihren Köpfen gespeichert hatten, konnten bei sorgfältiger Auswertung— und ergänzt durch die Informationen, die mit der Flüchtlingsflut angeschwemmt wurden — einige wichtige Stücke des politischen Puzzle-Bildes liefern. Die Münchener CIC-Leute gewannen jedenfalls den Eindruck, daß sie endlich ein bedeutendes Team beieinander hatten — eine Vorstellung, die ihnen Spiller und Garvey mit Wohlgefallen abnahmen. Unter Spillers nachsichtigem Regime nahm Taylor dankbar alle Informationen entgegen, die Merk mit Hilfe seines Agentennetzes an Land ziehen konnte. Damit hatten sie sich allerdings auf eine Operation eingelassen, die dem offiziellen Auftrag des CIC völlig entgegenstand. Denn der sah lediglich Gegenspionage vor, also Ermittlungen über Aktivitäten, die eine Gefahr Für die amerikanische Besatzungsmacht darstellten. Von seinem Memminger Büro in der Kaiserpromenade 36 aus lenkte Barbie seine Informanten mit Hingabe und fester Hand. Seine Agenten und seine Zahlmeister entwickelten für die treuen Dienste, die er dem Dritten Reich geleistet hatte, automatisch eine Art unausgesprochenes Verständnis. Barbie begann sich nach unten wie nach oben Respekt zu verschaffen. Nach seiner eigenen Darstellung lieferten ihm seine Informanten mündliche und schriftliche Berichte ab, die er umformulierte und an Taylor weiterleitete. Merk bekam für den Unterhalt seines ganzen Informationsnetzes monatlich 10 000 bis 15 000 Reichsmark, plus Nahrungsmittel und Zigaretten. Die meisten seiner Mitarbeiter — auch Barbie — bezogen pro Monat 500 Reichsmark (das entsprach damals etwa 50 Dollar) sowie Kaffee, Zigaretten und andere knappe und daher wertvolle Konsumartikel. Taylor hat die beruflichen Leistungen Merks nicht ein einziges Mal in Frage gestellt, sondern stets nur in höchsten Tönen gepriesen. Der Amerikaner und sein Zuarbeiter verbrachten ihre Wochenenden regelmäßig gemeinsam im malerischen Marktoberdorf in Bayern.
Die Anstellung Barbies wäre der Frankfurter CIC-Zentrale, wie im Falle so vieler anderer SS-Offiziere, völlig entgangen, hätte nicht am 22. Mai 1947 ein Captain Robert Frazier aufgrund der Lektüre eines routinemäßigen Berichts der Region IV genauere Informationen über einen gewissen Emil Hoffmann angefordert – jenen Spitzel in britischen Diensten, der im Januar 1947 Barbie für die Engländer anwerben wollte. Fraziers Nachforschungen brachten Taylor in eine peinliche Lage. Bis dahin hatte er sämtliche Informationen Barbies selbst weitergeleitet und Merk als Quelle angegeben. Jetzt fühlte er sich nicht mehr wohl in seiner Haut und wollte Barbies Existenz lieber formell zur Kenntnis geben, zugleich aber auch die Zentrale davon überzeugen, welch wertvolle Dienste der neue Mitarbeiter für die alliierte Spionage leisten konnte. Taylor übersandte Frankfurt eine offensichtlich ganz ehrlich gemeinte Beurteilung:
»Barbie hat diesen Agenten (d. h. Taylor) als intellektuell wie charakterlich aufrichtiger Mensch beeindruckt, der absolut keine Nerven oder Ängste kennt. Er ist entschieden anti-kommunistisch eingestellt und ein idealistischer Nazi, der glaubt, daß er und seine Ideale von den Nazis an der Macht verraten wurden. Seit Barbie für diesen Agenten arbeitet, hat er umfangreiche Verbindungen zu in der US-Zone tätigen französischen Geheimdiensten, zu deutschen Kreisen, zu hochrangigen rumänischen Kreisen und zu wichtigen russischen Gruppen in der US-Zone geknüpft.«
Nachdem er Barbie derart zum wichtigen Mitarbeiter aufgebaut hatte, plädierte Taylor dafür, ihn auf freiem Fuß zu lassen: »Wir haben hier den Eindruck, daß sein Wert als Informant unendlich viel größer ist als jeder denkbare Nutzen, den er im Gefängnis haben könnte. Barbies Aktivitäten sind eindeutig unter Kontrolle ... Die hier vorgetragene Meinung beruht auf dem persönlichen Kontakt dieses Agenten mit Barbie und auf dem Vertrauen, das ihm Barbie entgegenbringt.« Die Zentrale der Region IV in München schloß sich Taylors Begründung an und betonte nochmals ausdrücklich, »daß der Wert, den besagte Person als Informant für uns hat, keinesfalls übersehen werden darf«. Auf diesen Vorstoß der Region IV hin trat in Frankfurt ein unerklärliches Schweigen ein. Ohne weitere Instruktionen abzuwarten, ließ Taylor jetzt Merks Agentennetz (das unter der Deckadresse »Büro Petersen« arbeitete) von 15 auf mindestens 65 bezahlte Mitarbeiter anwachsen. Als Taylor im August 1947 in die USA zurückkehrte, konnte sein Nachfolger Special Agent Camille Hadju auf den ersten Blick diagnostizieren, daß sein Vorgänger die Kontrolle über seine beiden deutschen Spitzenkräfte verloren hatte. Vor allem stieß er sich an der »Busenfreundschaft« zwischen Taylor und Merk, die sich für die Region IV allmählich zu einer peinlichen Geschichte ausgewachsen hatte, nicht zuletzt auch deshalb, weil Merk bei Taylors Hochzeit als Trauzeuge aufgetreten war. Aber auch Hadju war zunächst glücklich, daß überhaupt Informationen geliefert wurden, und die stammten — wie auch er zugeben mußte — zu 90 Prozent von Merks Informantenstamm.
Browning hingegen, der in der Frankfurter Zentrale alle Operationen zu koordinieren hatte, war keineswegs glücklich, als er sich zum zweiten Mal mit dem Namen Barbie konfrontiert sah. Der »verschwundene« Mitarbeiter war offenbar wieder aufgetaucht, und Browning war auch jetzt nicht bereit, seine weitere Beschäftigung hinzunehmen. Er forderte eine offizielle Erklärung an. Am 17. Oktober mußte Garvey zugeben, daß Barbie in seiner Region eingestellt war, und wollte wissen, wie mit ihm »weiter zu verfahren« sei. Browning antwortete zwölf Tage später, Barbie sei umgehend zu verhaften. Heute behauptet Browning, der einzige Grund für diesen Befehl sei Barbies Gestapo-Mitgliedschaft gewesen. Zwar habe er in Bremen selbst »Gestapo-Typen« verwendet, aber diese hätten unmittelbare Erfahrungen mit der deutschen KP vorzuweisen gehabt, da sie — im Gegensatz zu Barbie — während des Krieges in Deutschland eingesetzt waren.
Browning wollte Barbies weitere Verwendung von einer unabhängigen Untersuchung abhängig machen. Garvey erhielt Anweisung, seinen Schützling zu einer »ausführlichen Vernehmung« ins Vernehmungszentrum des US-Oberkommandos in Europa, das European Command Interrogation Center (ECIC), nach Oberursel zu schicken. Oberursel war eine Einrichtung des G 2, des Geheimdienstes der US-Armee, der unabhängig vom CIC arbeitete. Browning hoffte, die unparteiischen und geschulten Vernehmungsexperten von Oberursel könnten endlich vollständige und aufrichtige Angaben über Barbies Lebenslauf, und vor allem über seine Nachkriegskontakte mit Nazigruppen zutage fördern. Aber Garvey und Hadju reagierten gereizt und fingen an, Ausflüchte zu erfinden. Hadju hob immer wieder hervor, was für »außerordentlich gutes Material« ihnen Barbie verschaffe, wie »ungeheuer erfolgreich« er arbeite und daß seine Verhaftung »das Vertrauen von Informanten in diese Organisation erheblich erschüttern« würde. Schließlich wollte er Barbie nicht festnehmen, sondern lediglich vor Ort und informell durch CIC-Agenten ausfragen lassen. Und er fügte die rührende Versicherung hinzu, bei einem solchen Vorgehen werde Barbie auch bereitwillig kooperieren.
Im November wurde Garvey durch Oberstleutnant Ellington Golden ersetzt. Dieser trat noch entschiedener dafür ein, daß Barbie — wenn man ihn schon verhaften müßte — für die Zeit seiner Vernehmung zumindest »eine Art Vorzugsbehandlung« genießen sollte. Hadju war damals besorgt, daß Barbie bei falscher Behandlung womöglich zum britischen Geheimdienst überlaufen könnte. Und Golden war ebenso besorgt, daß das CIC seine wertvollste Informationsquelle über Vorgänge in der französischen Zone einbüßen könnte.
Browning und Vidal nahmen diese ganzen Einwände aus der Region IV ausgesprochen verärgert zur Kenntnis. Vor allem Vidal sah Barbies Aktivitäten in der französischen Zone als äußerst fragwürdige Sache an — als unerlaubte Extratour, die deutlich machte, daß die beiden Deutschen nur ihren Krieg unter anderen Vorzeichen fortführen wollten. Am 1. Dezember lehnte Browning die von Golden angeregte Vorzugsbehandlung ab und ordnete Barbies umgehende Verhaftung an. Da geriet seine Position urplötzlich ins Wanken.
Golden hatte von der Haltung Brownings inzwischen die Nase voll und wandte sich direkt an den obersten CIC-Chef Colonel David Erskine. Bei ihm fand er ein offenes Ohr. Erskine war der Ansicht, die Region IV könnte sich den Verlust eines wichtigen Agenten angesichts ihrer schwierigen Aufgaben nicht leisten. Der gedemütigte Browning mußte in seinen endgültigen Haftbefehl die Zusicherung an Golden aufnehmen, daß Barbie »nach Beendigung der Vernehmung und unter der Voraussetzung, daß sich daraus keine Erkenntnisse ergeben, die die Inhaftierung besagter Person erforderlich machen, mit Instruktionen bezüglich seiner Weiterverwendung wieder Ihrer Obhut übergeben wird«.
Rückblickend stellt Browning heute fest: »Alle wußten, daß er bei der Gestapo gewesen war. Einzig die Region IV wollte davor eben die Augen verschließen.« Wenn diese Aussage richtig ist, müssen die nun folgenden Vernehmungen, denen sich Barbie ab Mitte Dezember in Oberursel zu unterziehen hatte, für Browning eine bittere Enttäuschung gewesen sein.
Nach Barbies eigenem Bericht wurde er gleich nach seiner Ankunft in grobe Gefängniskleidung gesteckt und in eine Einzelzelle gesperrt. Wenige Stunden später sei ein Vernehmungsbeamter erschienen, den er schlicht ignoriert habe. Der Beamte sei wieder gegangen, aber am nächsten Tag mit einer Schreibmaschine wiedergekommen. Dann befahl er Barbie, einen Bericht über seine Tätigkeiten während des Krieges zu verfassen. Die folgenden Wochen blieb er allein in seine Zelle gesperrt und geriet, wie er selbst gesteht, in eine verzweifelte und depressive Stimmung. Er konnte sich mit nichts anderem beschäftigen, als mit einer auf dem Zellenboden herumliegenden Münze zu knobeln, und will zwei Selbstmordversuche unternommen haben. Aber schließlich begann er doch zu schreiben, weil er Angst bekam, man könnte ihn sonst an die Franzosen oder die Engländer ausliefern. 1979 behauptete er: »Sie haben nur anderthalb Seiten aus mir herausgeholt.« In Wirklichkeit waren es mehr — aber deshalb noch längst nicht die ganze Wahrheit.
Seine Vernehmung dauerte bis zum 28. Januar 1948 und blieb alles in allem ergebnislos. Barbie lieferte einen völlig vagen Bericht über den ehemaligen SS-Offizier, der ihm im Februar 1946 angeboten hatte, für den sowjetischen Geheimdienst zu arbeiten. Er habe abgelehnt — und damit war seine Geschichte auch schon zu Ende. Aber sie reichte aus, um seine Vernehmungsbeamten in Ehrfurcht erstarren zu lassen. Brownings Hoffnung, ein Profi könne aus Barbie die endgültige Wahrheit herausbringen, erlitt völligen Schiffbruch. Nach der unwahren Feststellung, Barbie sei Hauptmann der Waffen-SS gewesen, kam der Vernehmungsexperte in seinem Protokoll zu dem Schluß, seiner Überzeugung nach habe Barbie keine Informationen »absichtlich zurückgehalten« und im übrigen »bereitwillig kooperiert«.
Zur Belohnung für diese Kooperationsbereitschaft durfte Barbie die Gefängnisbücherei benutzen. Die war zu seiner Verblüffung noch »eine rein nationalsozialistische Bibliothek«, mit denselben Büchern, die im Kriege den in Oberursel gefangengehaltenen englischen und amerikanischen Piloten geboten worden waren. Nach 1945 hatte niemand die nazistischen Bände entfernt.
Um Vidals wachsender Unzufriedenheit mit dem Agentenring Merk & Barbie Rechnung zu tragen, hatte George Eckman, der Nachfolger Goldens als Chef der Region IV, einen neuen, detaillierteren Fragenkatalog nach Oberursel geschickt. Er zielte direkt auf Barbies Arbeit für die eigene Region und enthielt auch Fragen über das ominöse Angebot Hoffmanns, Barbie beim englischen Geheimdienst unterzubringen.
In zwei der drei Vernehmungsprotokolle vom 15. April 1948 werden denn auch ausführlich Hoffmanns Rekrutierungsversuche und Barbies Verhaftung und Flucht aus dem britischen Kellergefängnis geschildert. Aus ihnen geht hervor, wie wichtig es für Vidal war, daß das CIC über die notwendigen Informationen verfügte, falls die britischen Verbündeten ihm wegen der Abschirmung Barbies ein Doppelspiel vorwerfen sollten. Barbie betonte zur großen Genugtuung des CIC, daß er — schon aufgrund der üblen Behandlung in Hamburg — niemals für die Engländer arbeiten würde. Völlig unaufgefordert gab Barbie zusätzlich zu Protokoll, wie glücklich er sei, in amerikanischen Diensten zu stehen, und daß er hoffe, nach Memmingen auf seinen Posten zurückkehren zu dürfen. Das Bekenntnis konnte man ihm getrost abnehmen, denn als Alternative zu einem privilegierten Agentenleben blühte ihm unweigerlich die Verhaftung.
Das dritte Protokoll gibt Barbies eigene Aussagen über seine Karriere im Dritten Reich wieder. Unwidersprochen konnte er hier seine ganze Vertuschungsgeschichte loswerden. Angeblich hatte er den ganzen Krieg über der Abteilung VI des SD angehört — womit er seine Mitgliedschaft bei der Gestapo verheimlichte. Lyon erwähnte er überhaupt nicht, dafür erfand er eine ganze Latte angeblicher Einsatzorte in Italien. Und wieder machten die Vernehmungsoffiziere deutlich, wie unerfahren und ahnungslos sie waren: Barbie begegnete nicht einmal dem Vorhalt, daß er auf einer Fahndungsliste des CROWCASS wegen Mordes in Lyon gesucht wurde. Die Abschlußempfehlungen lauteten entsprechend:
»Angesichts der Tätigkeiten, die Barbie während des Jahres 1947 bei der Region IV des CIC ausgeübt hat, halten wir es nicht für angebracht, ihn wegen seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS zu internieren. Seine Kenntnisse über die Aufgaben des CIC, über dessen Agenten, Unteragenten, Finanzen usw. sind zu umfassend. Würde man Barbie internieren, so würde er nach Meinung des Vernehmenden nach seiner Entlassung oder Flucht . . . mit dem französischen oder britischen Geheimdienst in Kontakt treten und für sie aktiv werden.«
Damit gaben die Amerikaner zu, daß ihr Agent die Macht hatte, sie zu erpressen. Am 10. Mai erklärten sie den Fall Barbie hinsichtlich des Verdachts auf Gegenspionage für abgeschlossen und schickten ihn wieder an seinen Arbeitsplatz in die Region IV zurück.
Für Browning bedeutete das eine Niederlage, die er allerdings teilweise, wie er selbst zugibt, seiner eigenen Person zuschreiben mußte, weil er die ECIC-Vernehmer nicht über Barbies Gestapo-Karriere ins Bild gesetzt hatte. Aber noch wichtiger war, daß er gegen Colonel Erskines Schützenhilfe für die Region IV nichts ausrichten konnte. Browning meint heute: »Ich hatte eben meine Befehle zu befolgen.« Aber er behauptet auch, Barbies zukünftiger Einsatz in der Region IV sei mit »strikten Auflagen« versehen worden. Insbesondere hätte man seine weitere Anstellung alle drei Monate neu überprüfen und seine Aktivitäten streng überwachen und Berichte über sie anfertigen lassen.
Anfang 1948 hatte die Verwendung »belasteter« Deutscher überhaupt nichts Außergewöhnliches mehr an sich. Die Alliierten hatten bereits abgesegnet, daß die alten Nazis auf breiter Front wieder in ihre alten Positionen einrückten. Lehrer, die im Unterricht die Rassenlehren der Nazis gepriesen hatten, lehrten wieder an Schulen und Universitäten. Richter, die an den berüchtigten Volksgerichtshöfen für Bagatellvergehen Todesurteile verhängt hatten, konnten wieder über Recht und Unrecht befinden. Ärzte, die wissentlich Euthanasie-Programme vertreten und betrieben hatten, durften erneut als Mediziner tätig werden. Regierungsbeamte, die während des dritten Reiches aus freien Stücken die schlimmsten Nazi-Maßnahmen durchgeführt hatten, rückten wieder in bürokratische Machtpositionen. Industrielle, die während des Krieges Sklavenarbeiter eingesetzt und dafür riesige Profite eingestrichen hatten, standen schon wieder im Begriff, Macht und Besitz anzuhäufen. Vor diesem Hintergrund war der Einsatz irgendeines kleinen Gestapo-Offiziers, der seinen Teil zur Abwehr der kommunistischen Gefahr beitragen konnte, in den Augen vieler Menschen völlig in Ordnung.
Frankreich erlebte damals eine Serie kommunistisch inspirierter Streiks, die den schwierigen Prozeß der Rückkehr zu demokratischen Verhältnissen zu gefährden drohten. In höchster Alarmstimmung setzten die amerikanischen Geheimdienste jetzt auch noch die französische KP auf die Liste zu observierender Zielgruppen. Das schloß die kommunistischen Aktivitäten in der französisch besetzten Zone Deutschlands ein, und Barbie war unschwer davon zu überzeugen, daß er für diese Aufgabe genau der richtige Mann war. Nach dem positiven Ergebnis seiner Durchleuchtung in Oberursel ging Barbie davon aus, daß die Amerikaner ihn unter allen Umständen schützen würden — und sei es nur, um sich selber Peinlichkeiten zu ersparen.
Als er auf seinen Posten zurückkehrte, war der Stern seines Kompagnons Merk in der Zwischenzeit unaufhaltsam gesunken. Mit seinem neuen CIC-Führungsoffizier Hadju hatte Merk kein ähnlich intimes Verhältnis entwickeln können wie mit dessen Vorgänger Taylor. Hadju störte sich an Merks anmaßendem Auftreten ebenso wie an dessen politisch anstößigen Aktivitäten, die dieser zunehmend auf eigene Faust unternahm. Und er stand auch nicht allein mit dem starken Verdacht, daß ein Großteil des von Merk beschafften Materials keinerlei Informationswert besaß.
Im Mai 1948 erhielt Hadju den Befehl, Merk nach München zu begleiten und ihn dort von zwei französischen Geheimdienstoffizieren vernehmen zu lassen, die im Zusammenhang mit einem Résistance-Prozeß in Dijon hinter Andree Rives her waren. Merk beteuerte, von deren Verbleib nichts zu wissen, aber dem im Hintergrund zuhörenden Hadju wurde plötzlich klar, wie sich Merks Privatleben zusammenreimte. Auf der Rückfahrt nach Memmingen mußte ihm Merk die ganze Geschichte beichten. Mit Hilfe dieses Wissens konnte Hadju jetzt die Exzesse seines Agenten bequem unter Kontrolle halten.
Kurz vor Barbies Rückkehr aus Oberursel war Hadju allerdings versetzt worden. Zu seinem Nachfolger als »Tech Spec« der Region IV wurde Dick Lavoie — der Mann im Jeep, dem Barbie 1946 in Marburg entkommen war. Da Lavoie sich mächtig ins Zeug legte und die von seinem Vorgänger hinterlassenen Quellen ausbeuten wollte, weigerte er sich, Hadjus Skepsis gegenüber den Leistungen Merks zu übernehmen.
Barbie bekam nach seiner Rückkehr eine neue Aufgabe zugewiesen. Spiller hatte Anweisung erhalten, seinem Spitzenteam einen neuen Führungsoffizier und eine neue Unterkunft zu besorgen, denn ihr »Büro Petersen« in Memmingen war inzwischen enttarnt worden. Zum neuen Vorgesetzten seiner deutschen Mitarbeiter bestimmte er den 31jährigen Eberhard Dabringhaus, der erst im März 1948 aus den USA eingetroffen war.
Auf dem Papier schien Dabringhaus für diese Aufgabe wie geschaffen. Er war in Essen geboren und mit seinen Eltern 1930 nach den USA ausgewandert. Im Krieg war er als hauptamtlicher, ausgebildeter Vernehmungsoffizier mit der 1. Infanteriedivision nach Europa zurückgekehrt. 1946 war er aus dem Militärdienst ausgeschieden, hatte sich aber Ende 1947 erneut beworben und wurde zum Special Agent im Zivildienst des CIC ernannt. Am 1. März 1948 meldete er sich bei Spiller zum Einsatz. Nach vier Wochen erhielt er den Auftrag, zwei deutschen Agenten beim Umzug von Memmingen in ihr neues Augsburger Domizil zur Hand zu gehen.
Am 15. Juni fuhr Dabringhaus mit einem kleinen Laster der US-Army in der Schillerstraße 7 vor. Man hatte ihm Merk und Barbie als wichtige Mitarbeiter angekündigt, und so half er ihnen, ihre Sachen aus dem Haus zu tragen. Beim Umzug dabei waren auch Andree Rives und deren Mutter sowie ein gewisser Dr. Emil Augsburg — der ehemalige Eichmann-Mitarbeiter, der Anfang 1947 noch Barbie für seine eigene Organisation gewinnen wollte und der inzwischen zu einem der wichtigsten Zuträger im Agentenring von Merk und Barbie geworden war. Dabringhaus fuhr die ganze Umzugspartie zu dem großen Eckhaus Mozartstraße 10 in Stadtbergen, einem freundlichen, im Grünen gelegenen Augsburger Vorort.
Bald nach dem Einzug der neuen Mieter beschwerten sich die deutschen Nachbarn bei den örtlichen Behörden, die das Haus beschlagnahmt hatten. Die alten Mieter — eine anti-nazistische Familie — waren davon ausgegangen, daß das Haus von Amerikanern bezogen würde. Selbstredend stieß der Protest auf taube Ohren. Merk richtete sich mit seiner Freundin im Erdgeschoß ein, die Familie Barbie zog ins Obergeschoß, aber die Barbie-Kinder konnte man oft auch im Garten spielen sehen. Dabringhaus befand sich gegenüber Barbie in einer sehr seltsamen Lage. Zwei Deutsche — beide aus dem Rheinland und beide in beinahe demselben Alter — die im Krieg gegeneinander gekämpft hatten, sollten im Dienste einer Besatzungsmacht gemeinsam ihre Landsleute ausspionieren. Von vornherein war klar, wer bei dieser Konstellation das Sagen hatte: Barbie war ein ausgefuchster, völlig skrupelloser Geheimdienstler; Dabringhaus hatte nur als Vernehmungsoffizier bei der Truppe gedient. Der amerikanische Führungsoffizier konnte seinem Agenten eigentlich immer nur zuarbeiten. Ihre persönliche Beziehung blieb infolgedessen die ganze Zeit über spröde.
Zunächst erhielt Dabringhaus den Auftrag, das Informantennetz von Merk organisatorisch in den Griff zu bekommen. Die Ziele wurden dabei eindeutig von Lavoie vorgegeben. Sie sollten nicht nur über die Aktivitäten von bayerischen Kommunisten und sowjetischen Agenten berichten, sondern auch die Überwachung und Infiltration des französischen Geheimdienstes weiter betreiben, und zwar in der amerikanischen wie in der französischen Zone. Barbie — alias Becker, Behrends, Speer und Mertens — wurde zum verantwortlichen Leiter aller anti-französischen Aktivitäten. Er mußte wahrhaftig den Eindruck haben, der Krieg sei niemals zu Ende gegangen. Die Amerikaner richteten den beiden Deutschen im ersten Stock ihrer Militärverwaltung, direkt neben dem städtischen Schwimmbad, ein reguläres Büro ein. Als Sekretärin durften sie sich die Witwe eines in Rußland umgekommenen SS-Offiziers mitbringen, der sie den seltenen Luxus einer eigenen Schreibmaschine bieten konnten. Jeden Vormittag um neun Uhr setzten sich die vier in ihrem Büro zusammen und sprachen ihre täglichen Unternehmungen durch. Dabringhaus ist noch heute davon überzeugt, daß Barbies Netz aus 65 bis 100 Informanten in ganz West- und Osteuropa bestand, und er rechnet es sich als Verdienst an, es auf 25 Mitglieder zurechtgestutzt zu haben: »Vom Rest bekamen wir nämlich nichts geliefert, und wir waren auch noch so blöd, sie dafür zu bezahlen.« Nach seiner Aussage war die Münchener Zentrale gegen sein Vorgehen, weil man dort nicht weniger, sondern mehr Informationen haben wollte. Aber nach Dabringhaus sind Barbie und Merk damals »weit über ihren ursprünglichen Auftrag hinausgegangen, nur die französische Zone, den französischen Geheimdienst und die französische KP auszuforschen. Statt dessen hatten sie Unteragenten in der Tschechoslowakei, in Jugoslawien und in Rumänien. Und sie bezogen Informationen von dem SS-General Gunther Bernau, der in Stuttgart saß und Material verkaufte, das ihm von 125 Ex-SS-Offizieren zugeliefert wurde.« Aus solchen Quellen bezogen seine deutschen Mitarbeiter etwa die wertvolle Erkenntnis, daß in der Tschechoslowakei Uran abgebaut wurde — was alle Welt bereits vor dem Kriege gewußt hatte — oder Berichte über die wirtschaftlichen Zustände in Rumänien. Nach Angaben des dänischen Journalisten Christian Zarp, der sich im Auftrag der SS speziell mit Fragen der rumänischen Wirtschaft beschäftigt hatte, hat er selbst und Emil Augsburg dieses Material von durchaus zweifelhaftem Wert an Barbie geliefert.
Am Ende der ersten dreimonatigen Probezeit, im November 1948, setzte sich nur noch der Operationschef der Region IV, Captain Max Etkin, für eine weitere Verwendung der beiden Deutschen ein. In der Frankfurter Zentrale war man überzeugt, daß das Netz zu groß und zu teuer war und daß es nicht nur in den Augen der Engländer und Franzosen, sondern auch in den Augen der alten Nazi-Kameraden endgültig in Verruf gekommen war. In seiner Verteidigung der beiden deutschen Abschußkandidaten verlegte sich Etkin auf Rückzugsgefechte. Die Augsburger Filiale, so argumentierte er, sei auf sechs Mann zusammengeschmolzen und beschäftige sich nur noch mit lokalen Überwachungsaufgaben. Barbie und Merk, schrieb Etkin treuherzig an seine Vorgesetzten, würden sich bestimmt an die neuen Spielregeln halten, weil sie Angst davor hätten, eines Tages im Regen zu stehen. Sie seien im übrigen »fest davon überzeugt, daß die US-Behörden ihnen bei allen auftauchenden Schwierigkeiten helfen werden, wie sie es auch in der Vergangenheit getan haben.« Etkin gab mit diesen Sätzen nur wieder, was er in einem Memorandum eines seiner Agenten gelesen hatte: »Barbie macht sich Sorgen über die Franzosen und ist sich darüber im klaren, daß er hingerichtet wird, wenn er ihnen jemals in die Hände fallen sollte.« Über die Art von Barbies Kriegskarriere herrschten bei den Amerikanern also wahrlich keine Zweifel mehr.
Trotz der rührenden Argumente Etkins trat Browning erneut dafür ein, das deutsche Team fallenzulassen, zumal Barbie und Merk — wie er richtig vermutete — entgegen aller Versprechungen ihren Kontakt zu ihren »alten Kameraden« niemals abbrechen würden. Aber Browning mußte sich wieder einmal zu einem Kompromiß bereitfinden und einer weiteren dreimonatigen Probezeit zustimmen.
Über die Tätigkeit seiner deutschen Mitarbeiter weiß Dabringhaus zu berichten: »Seinen größten Coup landete Merk, als er zwei Doppelagenten präsentierte, die ihm anvertrauten, daß die Franzosen den US-Geheimdienst und seine Aktivitäten auszuforschen versuchten. Deshalb haben wir dann auch das Vertrauen in die Franzosen verloren.« Diese Aussage ist reichlich merkwürdig, vor allem wenn man Barbies Rolle bedenkt, der ja bei den Franzosen schon die ganze Zeit dasselbe versuchte. Sie zeugt auch von den ungeheuer naiven Vorstellungen, die in diesen Geheimdienstkreisen vorherrschten und damals auch schon Barbie aufgefallen waren. Das galt besonders für ihre Anschauungen über die Kommunisten. Barbie nahm Dabringhaus mehrmals zu örtlichen Parteiversammlungen mit. Auf diese Weise konnte der Amerikaner — der bei solchen Ausflügen der Unauffälligkeit halber deutsche Kleidung trug — eindrucksvolle Augenzeugenberichte über kommunistische Agitationsveranstaltungen liefern, die freilich, wie er heute durchaus zugibt, kaum mehr waren als Protestversammlungen unterbezahlter Arbeiter.
Es lag in der Natur der Dinge — sowohl des ganzen amerikanischen Unternehmens als auch der Rolle, die Dabringhaus darin spielte — daß letzterer genau wie seine Münchener Vorgesetzten Barbies Geschichten unbesehen glaubte. Dabringhaus räumt heute ein, daß er nicht mehr als ein Dutzend von Barbies bezahlten Agenten mit Namen kannte und nur selten einen von ihnen persönlich kennenlernte. Dafür belieferte er Barbie fleißig mit gefälschten Personalausweisen — bis zu zwölf auf einmal — und übergab ihm stets pünktlich einen gelben Briefumschlag mit seinem Gehalt und seinen Spesengeldern. Seine ursprünglichen Angaben, der Umschlag habe jeden Monat 1700 Dollar enthalten, hat er neuerdings auf 500 Dollar heruntergeschraubt. Alle anderen CIC-Offiziere haben diese Angaben für lächerlich erklärt: sie hätten niemals richtige US-Dollar, sondern immer nur das übliche Besatzungsgeld ausgezahlt. Aber in Wirklichkeit haben Merk und Barbie damals schon Informationen an andere amerikanische Agenturen geliefert, denen der Einsatz von Original-Dollar nicht untersagt war. Merk beklagte sich dennoch fortwährend über zu wenig Geld. So beschwerte er sich bei Dabringhaus einmal, er könnte mit seinen 8000 DM (damals 2000 Dollar) im Monat sein Informantennetz nicht mehr unterhalten. Dabringhaus, der den Deutschen nachgerade aus der Hand fraß, gab diese Klage an Dick Lavoie weiter, der sie wiederum an Browning in die inzwischen nach Stuttgart übergesiedelte CIC-Zentrale weiterreichte. Aber Browning fühlte sich nur in seiner Ansicht bestätigt, daß das ganze Netz sein Geld nicht mehr wert war.

In seinem Interview von 1979 hat sich Barbie erstaunlicherweise über seine Arbeit für die Amerikaner ausgeschwiegen. Dagegen hat er voller Stolz herausgestrichen, daß er in seiner Position mit Hilfe von offiziell ausgestellten Ausweisen und Geld vielen SS-Leuten zur Flucht aus Deutschland verhelfen konnte. Das war nur eines von Barbies vielen dunklen Nebengeschäften, auf die er immer wieder anspielte, wenn er vor Dabringhaus damit protzte, wie leicht sich doch die Alliierten an der Nase herumführen ließen.
Wenn Dabringhaus heute behauptet, er sei über Barbies Vergangenheit erschüttert gewesen, läßt sich dafür in zeitgenössischen Dokumenten keinerlei Anhaltspunkt finden. Nach fünf Monaten wurde er plötzlich von Augsburg wegversetzt. Sein Nachfolger war der 28jährige Herbert Bechtold, der ebenfalls aus dem Rheinland stammte und 1935 nach den USA ausgewandert war. Bechtold hatte zunächst in Nordafrika gekämpft und dann den amerikanischen Vormarsch in Europa von der Landung in der Normandie bis zum Rhein und anschließend bis Berlin mitgemacht. Eine Zeitlang hatte er in der Kriegsverbrechens-Ermittlungsbehörde der US-Armee gearbeitet, war dann aber entlassen worden. 1948 nahm man ihn wieder auf, und er bekam einen Posten in München. Nach Bechtolds eigenen Angaben war er seinem Vorgesetzten dadurch aufgefallen, daß er einen Homosexuellen-Ring aufgedeckt hatte. Dieser Ring war von einem US-Soldaten aufgezogen, den er gleichzeitig als sowjetischen Spion entlarvt haben will. Zur Belohnung wurde der Armeeleutnant Bechtold im September 1948 zum CIA-Agenten in Augsburg befördert.
Dort gewann er nach den ersten Instruktionen den deutlichen Eindruck, daß er die beiden Spitzenagenten der Region IV zu betreuen hatte, die momentan nicht bei bester Laune waren: »Eine heikle Aufgabe, die Takt, Geduld, diplomatisches Fingerspitzengefühl und Geschick erforderte«, erinnert sich Bechtold heute. »Als erstes mußte ich mir über ihre Probleme klar werden, und etwas für ihre Stimmung tun.«
Innerhalb von zwei Tagen hatten sich die beiden Rheinländer angefreundet. Nach Bechtolds Eindruck muß Barbie dabei sofort gespürt haben, daß er es mit keinem der üblichen, großspurig auftretenden Amerikaner zu tun hatte. So konnte sich eine echte Männerfreundschaft entwickeln. Bechtold ist noch heute gerührt, wenn er sich an die Szene in einem Augsburger Nachtlokal erinnert, die das Eis zwischen ihnen zum Schmelzen brachte. Die Band spielte, Mädchen schwirrten um sie herum, es wurde getanzt. Und dann bestellte Bechtold eine Flasche Champagner, und sie stießen auf ihr beiderseitiges Wohl und auf ihre zukünftige gemeinsame Arbeit an. »Er begann, von sich und seinem persönlichen Leben zu erzählen. Er hatte Vertrauen gefaßt und hat dann angefangen, von anderen Anlässen zu reden, bei denen er Champagner getrunken hatte.« Vor allem schwärmte er von dem echten Champagner, der damals, »in den guten alten Zeiten« in Frankreich, von perfekten Obern serviert wurde . . . Aber zunächst mußte Bechtold Barbies Problem lösen, und das verkörperte sich, wie er bald herausfand, in der Person Spillers.
Die ständigen Geldklagen hatten zu Nachforschungen geführt, und die hatten ergeben, daß Spiller seine Geldmittel für Währungsgeschäfte mit dem Ehemann seiner deutschen Freundin zweckentfremdet einsetzte. Bechtold berichtet: »Spiller war nur an seinem Vergnügen und am Profit interessiert. Stuttgart war mit seinen Berichten nie zufrieden, und das bekamen dann die Mitarbeiter zu spüren.« Stuttgart drängte damals vor allem auf Informationen über die Tätigkeit des Generals Friedrich Paulus, der nach der Schlacht um Stalingrad in Gefangenschaft geraten war und dann im Rahmen des »Nationalkomitees Freies Deutschland« mit den Russen zusammenarbeitete. Man wollte mehr über die Rolle seiner 6. Armee wissen, und man wollte mehr Informationen von Flüchtlingen aus Osteuropa. Aber »Spiller hatte von der Arbeit eben einfach keine Ahnung und war unwiderruflich erledigt«. Er wurde seines Postens enthoben und kehrte kurz darauf in die USA zurück.
An seine Stelle trat ab Anfang 1949 Major George Riggins, dem nach kurzer Zeit mit Eugene Kolb auch ein neuer Operationsleiter zur Seite gestellt wurde. Damit begann die in den Augen der Amerikaner erfolgreichste, aber auch heikelste Tätigkeit des CIC-Agenten Klaus Barbie: die Überwachung der kommunistischen Aktivitäten in Bayern. Seinen höchsten Vorgesetzten in Stuttgart war durchaus bewußt, daß er inzwischen über den amerikanischen Geheimdienst besser Bescheid wußte als die meisten amerikanischen CIC-Mitarbeiter. Der US-Armee blieb also nichts anderes übrig, als ihn vor dem Zugriff der Franzosen zu schützen.
Für diesen Schutz war zunächst Eugene Kolb zuständig, der die Arbeit der Augsburger Abteilung organisierte und leitete. Kolb war in Süddeutschland geboren und im Alter von sieben Jahren in die USA ausgewandert. Der Krieg endete für ihn an der Elbe; er wurde einer Sondereinheit zugeteilt, die nach Nazis und belastenden Dokumenten suchen sollte — eine Arbeit, die ihm nach eigenen Aussagen gar nicht behagte. Weit glücklicher fühlte er sich, als von oben der Befehl kam, der Geheimdienst habe sich vor allem um die Absichten und Tätigkeiten der Kommunisten zu kümmern. Kolb sieht sich im Rückblick in erster Linie als professioneller Geheimdienst-Offizier, dem die nachrichtendienstlichen Prioritäten während der ersten Nachkriegsmonate ein Dorn im Auge waren. Die maßlos übertriebene Wahrnehmung der Gefahren einer Nazi-Verschwörung seien später unversehens in eine hysterische Angst vor einer kommunistischen Verschwörung umgeschlagen. Seine Beziehung zu Barbie sieht er durch gegenseitigen Respekt und Verständnis zusammengehalten, also durch eine Art »psychologischer Interessengemeinschaft« zwischen zwei Geheimdienst-Profis. Kolb denkt noch heute mit Wehmut an den »Gleichklang zweier Seelen« zurück: Barbie und er hätten damals beide die kommunistische Gefahr erkannt, sich zugleich aber auch über die Kollegen lustig gemacht, die hinter jeder Ecke eine kommunistische Verschwörung lauern sahen.
Kolbs erster Auftrag lautete, die Leistungsbilanz der Augsburger Abteilung einzuschätzen. Nachdem er alle Akten durchforscht hatte, kam er in seinem zehnseitigen Memorandum zu dem Schluß, daß Merks Agentennetz teuer und nutzlos geworden war: »Auf allen Ebenen dämmerte es jetzt den Leuten, daß die immer bloß Schrott geliefert hatten. Sein ganzes System existierte eigentlich gar nicht. Wir kriegten falsche Informationen — die benutzten uns doch bloß als Papiermühle.« Kolb kam zu der Empfehlung, das CIC sollte das ganze Netz auflösen, zugleich aber ein paar der Aktivposten behalten, zu denen er auch Barbie zählte. Im April 1949 ordnete Browning endgültig die Auflösung an. Nur Barbie sollte bleiben und für die Anwerbung neuer Informanten sorgen. Der Auftrag an Augsburg wurde offiziell auf strikte Gegenspionage beschränkt. Zusätzlich beschloß die Zentrale, daß für die Leitung eines Informantennetzes nur noch amerikanische CIC-Agenten und nicht mehr die Deutschen in Frage kämen. Das hatte, wie beabsichtigt, eine strengere Aufsicht zur Folge, zugleich aber mußten sich Bechtold und Kolb auch viel intimer auf Barbies Aktivitäten einlassen. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, kurz vor Beendigung der russischen Blockade Berlins, konnte von einem Verhältnis zwischen Sieger und Besiegten oder zwischen Dienstherrn und Angestellten absolut keine Rede mehr sein. Alle zusammen waren sie zu gleichberechtigten Partnern in einem gemeinsamen Kampf geworden. Zwar behauptete Earl Browning, die Stuttgarter CIC-Centrale hätte Barbies Einsätze sowohl in ihrer geografischen Reichweite wie in ihrer politischen Tragweite drastisch ringeschränkt. Aber in München stießen diese Direktiven auf Ablehnung, und für Kolb haben sie nie existiert.
Barbies Verbrechen während des Krieges haben weder Kolb noch Bechtold in irgendeiner moralischen oder rechtlichen Hinsicht Kopfschmerzen bereitet. Bechtold gibt unverblümt zu, daß er sich mit Barbie im Laufe der eineinhalb Jahre, in denen sie zu ragen Freunden wurden, bei vielen Gelegenheiten über dessen brutale Methoden unterhalten haben. Nach wie vor bewundert er Barbie als Geheimdienstexperten, und was in Lyon geschah, läßt ihn heute noch kalt: »Er hat das so erklärt, daß sie eben keine Zeit verlieren durften, wenn sie die Résistance-Leute auf frischer Tat ertappt hatten. Sie mußten dann schnell die Namen der anderen rauskriegen, und im Krieg ist eben alles erlaubt.«
Kolb hingegen weist die Vorstellung weit von sich, daß irgend jemand von Barbies Kriegsverbrechen überhaupt Kenntnis hatte: »Wenn wir das gewußt hätten, wäre er nicht eingestellt worden.« Aber er gibt zu, daß man über Barbies Mitgliedschaft in der Gestapo Bescheid wußte: »Man muß eben scharf zwischen dem Kampf gegen die Résistance und der Sache mit den Juden unterscheiden. Die Deportation der Juden war ein Kriegsverbrechen und davon haben wir nichts gewußt. Und auch die Franzosen haben es niemals erwähnt.« Kolb berichtet auch, Barbie habe ihn gerade als ein Vernehmungsexperte beeindruckt, der ohne Foltermethoden auskam: »Er hat mir einmal andeutungsweise gesagt, er sei Anhänger der Theorie, die eigentlich alle guten Vernehmungsleute vertreten, wonach man nicht mit Folter arbeiten soll. Ein oder zweimal haben wir wohl den Verdacht gehabt, er hätte mit der Gummischlauch-Technik gearbeitet, aber er hat das alles abgestritten. Und die französischen Anschuldigungen habe ich, ehrlich gesagt, sogar mit Skepsis betrachtet.« Eigenartigerweise will Kolb nicht einmal gewußt haben, daß Barbie auf einer CROWCASS-Liste stand. Hingegen kann er ganz nüchtern auseinandersetzen, welche Rechnung das CIC damals bei der Weiterbeschäftigung Barbies aufgemacht hat: Kosten minimal — Nutzen ganz enorm.
Ihre Hochachtung vor Barbie rührte auch daher, daß sie zu Zeugen seiner Vernehmungsmethoden wurden. Wie Lehrlinge, die dem Meister seines Faches bei der Arbeit zusehen, haben sie damals bestaunt, wenn Barbie »eine Quelle gemolken hat« (wie es Kolb ausdrückt). Wenn Barbie und Kolb bei ihren regelmäßigen Konferenzen in einer ihrer getarnten Wohnungen einen Bericht durchgesprochen hatten, gerieten sie immer wieder in Diskussionen über Verhörtechniken. Kolb hatte, wie viele Amerikaner, einen entsprechenden Kurs bei den Engländern in den Cotswolds Hills hinter sich und fühlte sich durchaus als Fachmann. »Aber Barbie konnte man überhaupt nichts vormachen. Er war gerissen, außerordentlich intelligent und gut im Manipulieren von Menschen — ich würde sagen, schon zu gut.« Wenn Kolb bei einer Vernehmung einmal nicht vorankam, zog er Barbie zu Rate: »In einem Fall war ich überzeugt, daß der Verdächtige ein kommunistischer Agent war. Barbie war der Meinung, daß ich falsch liege. Natürlich habe ich dann sein Urteil akzeptiert. Er hat immer gesagt: arbeitet mit List und nicht mit Druck ... außer wenn es ohne Druck nicht mehr geht.«
Hinter dieser Verehrung für den alten Profi steckten bei den beiden Deutsch-Amerikanern ohne Zweifel gewisse verwandtschaftliche Gefühle für Barbie, und auch der geheime Wunsch, Verständnis für die alte Heimat zu entwickeln. Wenn Bechtold in Barbies Haus, in Gegenwart der Familie mitsamt der Mutter, zu abend aß, lauschte er begierig dessen Berichten über das Leben in der Nazizeit, seine Bewunderung für Kaltenbrunner und die Probleme beim Kampf gegen die Résistance. Und dennoch glaubte er, daß sich Barbie ursprünglich nur für den Polizeidienst beworben habe und dann aus reinem Zufall in den »Sicherheitsdienst« geraten sei. Das Wort Gestapo nimmt Bechtold nicht ein einziges Mal in den Mund. Was Kolb betrifft, so sieht er in Barbie weder einen Antisemiten noch einen glühenden Nazi, sondern lediglich einen »Mitläufer«.
Unter Kolb veränderte sich Barbies Aufgabenbereich ganz entscheidend. Das CIC sollte sich jetzt ausschließlich auf die Ausforschung extremistischer Parteien in der amerikanischen Zone verlegen — was im Klartext hieß: auf die Bespitzelung der Kommunistischen Partei. Nach Kolbs Aussagen war es den Agenten zwar verboten, die Grenzen zu anderen Sektoren zu oberqueren, aber wenn die »operationellen Erfordernisse« es geboten, wurde diese Vorschrift einfach vergessen. Das lag in der Konsequenz der neuen »positiven nachrichtendienstlichen« Strategie, die das CIC seit 1947 eingeschlagen hatte. Im Sinne dieser aggressiveren Richtung wurde das 7970 CIC (der US-Zone) jetzt auch in 66. Intelligence Group umbenannt, und das Augsburger Büro avancierte von einer Filiale der Münchener Regionalzentrale zur Zentrale der eigenständigen Region XII. Die neuen Anweisungen erforderten auch andere taktische Mittel. Mit Hilfe von Erpressung, Bestechung, sexueller Verführung, und unter Ausnutzung des menschlichen Bereicherungsdrangs streckte Barbie unter den bewundernden Augen Kolbs seine Fühler nach möglichen Spitzeln innerhalb der bayerischen KP aus. Kolb drängte auf eine weitere taktische Änderung und setzte Barbie gezielt auf ganz bestimmte Personen an, um sie als Informanten zu gewinnen. Da es für Merk keine Verwendungsmöglichkeiten mehr gab, bestand das neue Team nur noch aus Barbie und Bechtold. Ihr Sekretär war ein früherer Gestapo-Offizier namens Hans Müller, der von der deutschen Polizei wegen Mordes an Hans und Sophie Scholl gesucht wurde, deren Aufrufe zum Widerstand viele Deutsche der Nachkriegsgeneration so stark beeindruckt hatten.
Laut Bechtold hatte Müller den großen Vorzug, daß er ihre Arbeit übernehmen konnte, wenn sie woanders zu tun hatten, und daß er »ausgezeichnete Kontakte mit der örtlichen Polizei unterhielt und immer dafür sorgen konnte, daß die uns weiterhalf«.
Bechtold entdeckte bald, daß zu Barbies wichtigstem Erbe seine Kontakte zu »alten Kameraden« gehörten. Mit dem kläglichen Scheitern der Entnazifizierung waren hochrangige Nazis wieder in fast allen höheren Positionen zu finden, vor allem bei der deutschen Polizei und den Sicherheitsorganen. Ab und zu konnte Bechtold nur fassungslos stehen und staunen, wie Barbie scheinbar Unmögliches möglich machte, indem er sich einfach an einen ehemaligen SS-Offizier wandte. Zum Beispiel war es für die beiden angesichts der strengeren Kontrolle der Paßbehörden und Einwohnermeldeämter immer schwieriger geworden, mit falschen Papieren durch Bayern zu reisen. Aber Barbie machte rasch einen ehemaligen SS-Kameraden ausfindig, der es wieder zum Leiter einer örtlichen Polizeidienststelle gebracht hatte und der ihnen mit Leichtigkeit alles Notwendige verschaffen konnte: einen Satz Personalpapiere, die sie als Angestellte eines Forschungsinstituts auswiesen, und einen zweiten Satz, mit deren Hilfe sie sich bei führenden Politikern als Journalisten einführten. Bei diesen Besuchen verwickelte Barbie die Politiker vor den Augen des staunenden Bechtold in weitschweifige, artig geführte Unterhaltungen, in deren Verlauf er den Interviewten ihre detaillierten - und keineswegs für die Öffentlichkeit bestimmten - Absichten und Pläne entlockte. Angesichts des damals herrschenden Vakuums an »Erkenntnissen« verschaffte Barbie den Amerikanern damit einzigartige Informationen, die in den obersten Etagen der Frankfurter Militärregierung hochwillkommen waren. Auch dort machte man sich nie darüber Gedanken, daß diese ganzen Unternehmungen auf SS- und Gestapo-Offiziere angewiesen waren, die persönlich und unmittelbar in die entsetzlichsten Verbrechen verwickelt waren.
Über Barbies Machtposition und Einfluß gibt Bechtold ganz unverblümt Auskunft. Wenn er selber zu entscheiden hatte, ob ein früherer SS-Mann ungeachtet seiner Vergangenheit herangezogen werden sollte oder nicht, verließ er sich ganz auf Barbies Urteil. Schließlich war der ein qualifizierter Ausforschungsprofi, der nach Bechtolds Meinung in Frankreich seinen »letzten Schliff« bekommen hatte. In der Welt der Geheimdienste sind moralische Maßstäbe eben nicht gefragt. Letztlich zählt immer nur die unmittelbare Aufgabe. Wie meint Bechtold doch so treffend über Barbie: »Er war ein Mann, der zu echten menschlichen Gefühlen fähig war, solange sie ihm bei seinem Auftrag nicht in die Quere kamen.« Für diese Hierarchie der Gefühle hatte der CIC-Mann Bechtold durchaus Verständnis übrig - noch heute meint er über seine damalige Rolle: »Als ich mit Barbie zusammenarbeitete, befolgte ich doch nur meine Befehle.«
Ihren größten gemeinsamen Erfolg erzielten sie beim Bespitzeln der bayerischen KP-Zentrale. Kolb meint zwar, sie hätten nur dir relativ niedrige Ebene von Sekretärinnen, Chauffeuren und Büroangestellten angezapft. Aber Bechtold behauptet, Barbie habe seine Informationen aus den höchsten Kreisen der Partei bezogen. In Augsburg fand Barbie heraus, daß die Sekretärin eines leitenden Funktionärs unglücklich verheiratet, persönlich unzufrieden und auch noch in finanziellen Nöten war. Mit Bechtolds Beistand brachte er die Frau dazu, daß sie ihnen regelmäßig die Protokolle der wöchentlichen Sitzungen des Parteiausschusses lieferte, die auch die Weisungen aus der Frankfurter KPD-Zentrale enthielten. Die Frau deponierte die Papiere in einem Umschlag in einem toten Briefkasten, den Barbie anschließend leerte. Zur Enttäuschung aller enthüllten die Protokolle nicht viel mehr, als man realistischerweise erwarten konnte: Anweisungen für die Aufmärsche zum 1. Mai, Wahlaufrufe sowie die Forderung nach dem Abzug der Amerikaner aus Deutschland. Aber da nur wenige CIC-Agenten überhaupt etwas anlieferten, gewann Barbie in Daniel Benjamin, dem Chef der Abteilung für »kommunistische Angelegenheiten« in Stuttgart, einen weiteren Fürsprecher.
Das nächste Operationsstadium erbrachte nach Bechtolds Erinnerung die wichtigsten gemeinsamen Erfolgserlebnisse. Um sicherzugehen, daß einer ihrer Informanten kein Doppelagent war, wollte Barbie die Quelle vor Ort in Berlin überprüfen lassen. Offiziell durfte das CIC die amerikanische Zonengrenze nicht überschreiten, aber diese Anordnung mußte in diesem Fall leider mißachtet werden. Barbie betraute »Laib«, einen von den Norwegern als Kriegsverbrecher gesuchten SS-Offizier, mit der Durchführung dieses Auftrags. Bei seiner Rückkehr konnte »Laib« nicht nur die Vertrauenswürdigkeit der eigenen Quelle bestätigen, sondern auch noch ein zusätzliches Mitbringsel präsentieren: Angaben über einen in Bayern tätigen tschechischen Agenten. Fasziniert und neiderfüllt zugleich beobachtete Bechtold, wie Barbie den Tschechen verhörte und sein Opfer dabei genüßlich und kunstvoll in ein Netz unauflöslicher Widersprüche verwickelte, bis dieser völlig verwirrt und erschöpft ein Geständnis ablegte und sich bereiterklärte, als Doppelagent zu arbeiten. Aber auch diese Episode fand ein enttäuschendes Ende, denn der Tscheche entpuppte sich als Dreifach-Agent und versuchte alsbald, sie auf tschechoslowakisches Territorium zu locken.
Andere Unternehmungen gingen auf spektakulärere Weise ins Auge. Barbie machte sich z. B. an einen höheren KPD-Funktionär heran und drohte ihm an, wenn er die Zusammenarbeit mit den Amerikanern verweigere, werde das die Veröffentlichung dokumentarischer Beweise zur Folge haben, wonach er während des Krieges ein Gestapo-Spitzel gewesen sei. Es war nur einer von vielen schmutzigen Tricks, mit denen die amerikanischen Geheimdienste damals herumoperierten. Drei Tage später machte die örtliche kommunistische Zeitung den Erpressungsversuch publik, und der Funktionär wurde kurz darauf aus dem Verkehr gezogen.
Vidal und Lavoie in der Frankfurter »Tech Spec«-Abteilung waren inzwischen der festen Überzeugung, daß Barbie sein Geld tatsächlich wert sei. Sie wollten deshalb den wachsenden französischen Druck im Hinblick auf Barbies Kriegsverbrechen einfach ignorieren. Wie andere Amerikaner hatten auch sie mehr mit der Zukunft im Sinn als mit der Vergangenheit. In ihren Augen konnte das verbohrte Beharren der Europäer auf derart belanglosen Gefühlsduseleien nur die Sicherheit des Westens gefährden. Gehlens neuer deutscher Bundesnachrichtendienst (BND) hatte ganz schamlos damit begonnen, ehemalige SS-Offiziere zu rekrutieren, die noch als Massenmörder gesucht wurden; Washington hatte seinen Segen dazu gegeben. Einer unter vielen war jener General Bömelburg, der während des Krieges zu den höchsten Gestapo-Offizieren in Paris gehört hatte. Aber im Gegensatz zu Barbie hatten er und die meisten seiner Kameraden ihre Verbrechen — deren Opfer in vielen Fällen ebenfalls Juden waren — fast ausnahmslos in Ländern begangen, in denen jetzt Kommunisten regierten. Und ein zweiter Unterschied fiel noch entscheidender ins Gewicht: Keiner von ihnen hatte Jean Moulin auf dem Gewissen. Frankreich war ein wichtiger Verbündeter der Amerikaner. Zu Beginn des Jahres 1950 mußte die Regierung in Paris dem wachsenden politischen Druck nachgeben und ihrer Forderung auf Auslieferung Barbies endlich stärkeren Nachdruck verleihen.
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entnommen aus: Tom Bower: Klaus Barbie. Lyon, Augsburg, La Paz. Karriere eines Gestapo-Chefs. Berlin 1984, S. 152-183. Erstausgabe: Klaus Barbie, the Butcher of Lyons; London: Michael Joseph Ltd., 1984.