Arbeitskämpfe in der kasachischen Steppe
von Régis Genté
Tausende Arbeiter der Ölbranche (nieftianiki) begannen
im Mai 2011 im Westen von Kasachstan den größten Streik seit
der Unabhängigkeit der Landes 1991. Sie forderten einen größeren
Anteil an den erheblichen Erträgen, die aus den Bodenschätzen
Kasachstans gewonnen werden. Sieben Monate später, am 16.
Dezember, eröffnete die Polizei in der Kleinstadt Schangaösen (150
Kilometer östlich der am Kaspischen Meer gelegenen Provinzhauptstadt
Aktau) ohne Vorwarnung das Feuer auf eine Menschenmenge. Nach
offiziellen Angaben starben siebzehn Menschen, ausnahmslos
Zivilisten. Lokale Quellen sprachen von vierzig Toten.
Obwohl sie unter Druck gesetzt wurden und trotz der willkürlichen
Entlassung von 2 500 Arbeitern, blieben die Streikaktionen der
Nieftianiki friedlich. Ihr Arbeitskampf sollte »trocken« (ohne
Alkohol) und sauber sein: Der Marktplatz von Schangaösen, wo sie
seit dem Sommer ihre Versammlungen abhielten, wurde jeden Abend
gefegt … Inzwischen hat sich das Regime auf Verhandlungen über die
Entlassungen und die Lohnforderungen eingelassen, allerdings sind die
Streikenden nach dem Blutvergießen auch eingeschüchtert.
Die Staatsform in der früheren Sowjetrepublik
läßt sich – um
einen Begriff der Politologin Marlène Laruelle zu verwenden
– als »konsultativer Autoritarismus« bezeichnen. Die
nach der Tragödie
vom 16. Dezember versprochenen sozialen und wirtschaftlichen
Hilfsprogramme machen jedoch deutlich, daß sich das Regime in
Astana
um einen gewissen Rückhalt unter den 16 Millionen Kasachen
bemüht.
Ob diese Programme jemals umgesetzt werden, weiß allerdings
niemand.
Die Nieftianiki hatten darauf gehofft, daß ausländische
Regierungen das Blutbad von Schangaösen verurteilen und das
kasachische Regime zur Korruptionsbekämpfung und zu einem weniger
autoritären Regierungsstil drängen würden – und sei es nur aus
Sorge um die Stabilität des zentralasiatischen Landes oder um die
Sicherheit der eigenen Investitionen. Doch davon war nicht viel zu
spüren. Die westlichen Energiekonzerne (Total, ExxonMobil, ENI und
andere) und Bergbauunternehmen (Areva, Arcelor-Mittal und andere),
die in der kasachischen Steppe im Geschäft sind, vermeiden jede
Kritik an dem seit 1989 regierenden 72-jährigen Präsidenten
Nursultan Nasarbajew. Am 18. Januar 2012, drei Tage nach den
Parlamentswahlen, von OSZE-Beobachtern als »unsauber« kritisiert,
zitierte die Tageszeitung Kasachstanskaja Prawda den
französischen Senatsabgeordneten Ayméri de Montesquiou (Union
Centriste), der auf Nasarbajews Wunsch als Wahlbeobachter nach
Schangaösen entsandt worden war: »Wo immer ich während der Wahlen
hinkam, in jedem Wahllokal, alles verlief vorschriftsmäßig.«
Die Tragödie in Schangaösen geschah am 20. Jahrestag der
Unabhängigkeit Kasachstans. Um jede Störung der
Feierlichkeiten zu vermeiden, versuchten die lokalen
Sicherheitskräfte, die Demonstranten vom Marktplatz zu vertreiben.
Damit war die Eskalation vorprogrammiert. Bereits im August hatte die
Polizei den Streikenden verboten, auf dem Platz Zelte zu errichten.
Die Stadtverwaltung von Schangaösen durfte dagegen ihre Jurten
aufbauen. In den Augen der Streikenden war das eine für den
kasachischen Machtapparat typische Provokation.
Orak Sarbopejew, der Bürgermeister von Schangaösen, sah das
natürlich anders: »Ich wollte, daß das ganze Land an diesem Tag
gute Laune hat«, versicherte er gegenüber einem russischen
Journalisten. »Wir hatten schon viel Geld für die Vorbereitungen
ausgegeben. Nie zuvor hatten wir Jurten aufgebaut, deshalb bat ich
die Streikenden, das zuzulassen, damit wir den Menschen eine kleine
Freude machen können. Sie hatten den Platz doch schon sieben Monate
besetzt.« [1]
Den Nieftianiki in Mangystau geht es vor allem um Lohnerhöhungen.
In dieser Gegend liegt ein großer Teil der Rohölvorkommen des
Landes – bis 2020 könnte Kasachstan zu den zehn
bedeutendsten Erdölförderländern der Welt gehören. Der staatliche
Ölkonzern Ozenmunaigas (OMG), wo die Proteste begannen, gehört zu
KMG EP, der für Erschließung und Förderung zuständigen
Tochterfirma der ebenfalls staatlichen Öl- und Gasgesellschaft
Kazmunaigas (KMG). Der Ausstand fing als Solidaritätsstreik mit den
Arbeitern von Karaschanbasmunai (KBM) an, einem weiteren
Ölunternehmen in der Region, das je zur Hälfte KMG EP und – seit
2007 – dem staatlichen chinesischen Investmentunternehmen Citic
gehört. Dort waren die Löhne noch niedriger als bei OMG.
Dem Streik war ein monatelanger Streit zwischen Arbeitern und
Unternehmensführung um einen regionalen und einen
branchenspezifischen Faktor bei der Festsetzung der Löhne
vorausgegangen. Der noch aus Sowjetzeiten stammende Regionalzuschlag
war 1999 abgeschafft, aber von einigen Unternehmen weitergezahlt
worden – er erschien nur nicht mehr auf der Lohnabrechnung. Als die
Regierung beide Zulagen 2009 wieder einführte, begann der Streit um
die Berechnung ihrer Höhe. Mit Verweis auf das Arbeitsrecht erklärt
ein Mitarbeiter der Personalverwaltung von KMG EP, die Arbeiter
hätten »nicht verstanden, wie diese Faktoren anzuwenden sind«.
Zugleich räumt er aber auch »Kommunikationsfehler« seitens der
Geschäftsführung ein.
Die Arbeiter dagegen verdächtigen die Unternehmensführung der
Unterschlagung. Alexander Piastolow, ein Rentner, der sich im
Selbststudium juristisches Rüstzeug angeeignet hat, machte sich zu
ihrem Sprecher. Er war zunächst der Einzige, der für die
Streikenden vor Gericht auftrat. Kein Anwalt wollte diese Fälle
übernehmen, weil Druck von oben befürchtet oder bereits ausgeübt
wurde. Piastolow ist überzeugt, daß »die Erdölfirmen die
Vorschriften über die Zuschläge falsch auslegen. So wird jemandem
zum Beispiel offiziell ein Lohn von 250 000 Tenge gezahlt (1.250
Euro), tatsächlich bekommt er aber nur 130 000 Tenge (650 Euro).
Die Differenz verschwindet vermutlich in den Taschen irgendwelcher
Leute in der Unternehmensspitze. Wir können das nicht hieb- und
stichfest beweisen, aber wir haben Unterlagen, die belegen, daß in
diesen Unternehmen die als Lohnkosten aufgeführten Summen nicht mit
den tatsächlich ausgezahlten Löhnen übereinstimmen.«
Es gibt Vorschriften, aber niemand kennt sie
Natalia Sokolowa ist studierte Juristin. Bevor sie bei der
Gewerkschaft angefangen hat, arbeitete sie jahrelang in den
Personalabteilungen der großen Erdölfirmen dieser Gegend, zuletzt
bei Karaschanbasmunai (KBM). Sie kennt sich also gut aus im Labyrinth
der Lohnpolitik und hat versucht, den Arbeitern klarzumachen, daß
die Unternehmen sich nicht an die gesetzliche Zulagenregelung halten.
Einer ihrer früheren Kollegen bei KBM äußert sich eher
skeptisch über sie: »Mit ihrer falschen Interpretation der
Zulagenberechnung hat sie die Arbeiter belogen – vielleicht wollte
sie sich nur an KBM rächen, weil man ihren Vertrag nicht verlängert
hat.« Wegen »Aufwiegelung zum sozialen Unfrieden« wurde
Sokolowa zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, kam aber
erstaunlicherweise schon am 8. März 2012 wieder frei, nachdem das
Strafmaß in eine dreijährige Bewährungsstrafe umgewandelt worden
war.
Sokolowa hatte die Finanzaufsicht, den Generalstaatsanwalt und den
Finanzminister angeschrieben und um Auskunft über die korrekte
Berechnung der Zulagen gebeten, aber es kam keine Antwort. Das
bestärkte sie in ihrem Verdacht, daß sowohl die Unternehmen als
auch die staatlichen Institutionen die Vorgaben bewußt mißachten.
Während des gesamten Ausstands waren die Streikenden Repressionen
ausgesetzt. Im Frühjahr 2011 legten auch die Beschäftigten der
Ersai Caspian Contractor Company, eines staatlichen Dienstleisters in
der Ölbranche, an dem die italienische ENI mit 43 Prozent beteiligt
ist, die Arbeit nieder. Ihnen ging es nicht um die Höhe der Zulagen,
sondern um neue Tarifverträge und vor allem um die gleiche Bezahlung
von einheimischen und ausländischen Arbeitskräften. Die
Firmenleitung bestellte jeden Arbeiter, der sich für den Streik
einsetzte, zum Einzelgespräch – eine ungesetzliche Maßnahme, die
eindeutig als Drohung gemeint war. »Zumal auch immer die Polizei
dabei war«, erklärt Mihra Rittmann von Human Rights Watch.
Als die Gewerkschaft im Mai 2011 ihre Experten für die vor jedem
genehmigten Streik obligatorische Schlichtungskommission benannte,
lehnte die Unternehmensführung die Aufstellung von Natalia Sokolowa
ab. »Sie haben den damaligen Gewerkschaftsvorsitzenden Erbosin
Kossarchanow gedrängt, Natalia von der Expertenliste zu streichen«,
erinnert sich Ehemann Wassili voller Empörung. Viele Arbeiter und
Gewerkschafter sind überzeugt, daß Kossarchanow damals gekauft
wurde. »Bis 2005 hatten wir hier einen Provinzgouverneur, der für
das Funktionieren der Ausschüsse sorgte, in denen Behörden,
Unternehmer und Beschäftigte zusammenkamen«, meint der
Gewerkschaftsführer Kenschegali Sujeow. »Aber sein Nachfolger hat
die Aufgaben der Ausschüsse beschränkt, und seither gibt es ständig
Probleme.«
Die unternehmerfreundlichen Vorschriften in Kasachstan,
die
die Durchführung von Streiks erschweren, widersprechen dem
Übereinkommen Nr. 87 der Internationalen Arbeitsorganisation
(ILO): »Die Organisationen der Arbeitnehmer … haben das
Recht …, ihre
Vertreter frei zu wählen, ihre Geschäftsführung und
Tätigkeit zu
regeln und ihr Programm aufzustellen. Die Behörden haben sich
jedes
Eingriffs zu enthalten, der geeignet wäre, dieses Recht zu
beschränken oder dessen rechtmäßige Ausübung zu
behindern.« [2]
Bei den Streiks von 2011 wurden Betriebsräte, seit Sowjetzeiten
Profsojus genannt, unterwandert und ihre Mitglieder bedroht. Bezahlte
kriminelle Banden terrorisierten Arbeiter und Gewerkschafter, die als
aufsässig galten. Am 2. August 2011 wurde Jaksilik Turbajew
ermordet, ein junger Nieftianik, der für den Betriebsratsvorsitz bei
der OMG-Tochter Munaifiltraservice kandidiert hatte. Die Mörder
wurden nie gefaßt, obwohl es Hinweise gab – seit Wochen hatten die
Streikenden per SMS furchtbare Drohungen erhalten. Damals wurde auch
die Tochter eines Streikführers vergewaltigt und ermordet, ein
Zusammenhang mit dem Engagement des Vaters war nicht nachzuweisen.
Ein Gericht erklärte den Streik bei KBM für illegal, was
angesichts des Rufs, den die kasachische Justiz genießt, nicht viel
zu bedeuten hat. Die konservative US-amerikanische NGO Freedom House
gab ihr auf einer Skala von 1 bis 7 gerade mal 6,25 Punkte –
7 bedeutet, daß ein Justizsystem vollständig von der Exekutive
kontrolliert wird. Die Gerichtsentscheidung erlaubte es den
Unternehmen, auf einen Schlag ihre aufmüpfigen Mitarbeiter
loszuwerden: Im Sommer 2011 gab es bei KBM und bei OMG jeweils rund
tausend Entlassungen, 500 bei Ersai. Die Zahl der Streikenden (bei
OMG waren es im Mai 2011 noch 7 500 von 9 500 Beschäftigten)
ging daraufhin schnell zurück – aber innerhalb der Bewegung
wuchsen Zorn und Entschlossenheit.
Bei diesem Ausmaß an Unterdrückung und Demütigung ist es nicht
verwunderlich, daß sich manche Streikende schnell radikalisierten,
meint Galym Ageleulow, Präsident der NGO »Freiheit«, »einige
haben sogar einen Hungerstreik begonnen«. Sieben Monate lang fanden
die Nieftianiki weder bei den Behörden noch bei den Unternehmen
Gehör.
»Glauben Sie an Zauberei?«, fragte im Oktober 2011 der
OMG-Chef Kiikbay Eschmanow im Interview mit einer
BBC-Korrespondentin. »Ich glaube wirklich, die Leute hier auf dem
Platz sind hypnotisiert worden. Wir haben ihre Löhne in den letzten
Jahren sechsmal erhöht.«[3] Die Löhne der Nieftianiki liegen
tatsächlich deutlich über dem Landesdurchschnitt von knapp 65 000
Tenge (325 Euro) – vielleicht steht bei diesen Streiks eben nicht
das wirtschaftliche Elend im Vordergrund.
Ein Fahrer bei OMG, nennen wir ihn Murat, verdiente bis Mai
vergangenen Jahres 130 000 Tenge (665 Euro), etwa ein Drittel mehr
als seine Kollegen in anderen Städten. »Davon kann man in
Kasachstan leben«, räumt er ein. »Aber nur mit Mühe,
weil das Leben in Schangaösen sehr teuer ist. Die Stadt ist sehr
abgelegen, und die guten Gehälter der höheren Angestellten treiben
die Preise in die Höhe.« Murat hat uns in die bescheidene Küche
seiner Wohnung eingeladen, im dritten Stock eines Chruschtschowki
(das sind die vier- bis fünfstöckigen Plattenbauten aus der Zeit
des Kremlführers Chruschtschow). Auf dem Weg dorthin durften wir
nicht auffallen, überall sind Polizeistreifen unterwegs. Es herrscht
Ausnahmezustand in Schangaösen.
Wie konnte sich eine derart radikale Bewegung entwickeln? In
Regierungskreisen heißt es, der Oligarch Muchtar Abliasow, der seit
2009 im Londoner Exil lebt und ein Gegner von Präsident Nasarbajew
ist, habe die Streikenden bezahlt. Doch dafür gibt keine Beweise.
Der Streik ist auch nicht ideologisch motiviert, und niemand fordert
den Sturz Nasarbajews. Einige der Nieftianiki bezeichnen sich als
Sozialisten oder Kommunisten, andere definieren sich vor allem über
ihre Zugehörigkeit zum Volk der Adai, das Anfang des
20. Jahrhunderts den Kampf gegen die Bolschewiki aufnahm. »Aber
Formeln wie ’wir Adai gegen die anderen‘ sind nur eine Art, die
eigene Unzufriedenheit auszudrücken und möglichst viele Leute zu
mobilisieren«, meint der Politologe Edward Schatz. [4]
Der schwedische Ökonom Anders Aslund, ein Experte für die
ehemaligen Sowjetrepubliken, ist überzeugt, daß es um die soziale
Frage geht: »Ich halte das für einen Klassenkonflikt. Obwohl
Kasachstan ein reiches Land ist, sterben hier 29 von 1 000
Kindern, bevor sie das fünfte Lebensjahr erreichen. In Bulgarien
oder Lettland, Ländern mit ähnlicher Wirtschaftsleistung, liegt
diese Zahl bei 10 beziehungsweise 8. Kasachstan bleibt damit
auf dem Niveau seiner wesentlich ärmeren Nachbarländer Kirgisien
und Usbekistan, und das ist kein Zufall: Nur 2,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts werden für das Gesundheitswesen aufgewendet;
in Bulgarien sind es 4,2 und in Lettland 3,6 Prozent.«
»Ich bin jetzt fünfzig und muß meinen Kindern jeden Tag
erklären, daß das Geld nicht reicht«, schimpft Murat. »Wann
werde ich denn ein vernünftiges Auskommen haben? In zwanzig Jahren
vielleicht, wie es die Regierung verspricht? Man behandelt uns wie
Schafe, nicht wie Menschen.« Er zieht den Vorhang zur Seite: »Sehen
Sie sich diese häßliche Stadt an. Alles ist grau, die Häuser sind
alt und die Schulen heruntergekommen! Noch vor ein paar Monaten
hatten wir nur vier Stunden am Tag Wasser.«
Noch empörender findet er, daß seit Anfang 2012 der Preis für
ein Barrel Rohöl deutlich über 100 US-Dollar liegt. Die Machthaber
schwimmen also im Geld und geben Unsummen für den Aufbau der neuen
Hauptstadt Astana aus, die im Nirgendwo aus dem Boden gestampft wird.
Überall an den Straßen in Mangystau künden Plakate von der
futuristischen Schönheit Astanas – als wolle man den Nieftianiki
von OMG und KBM noch einmal vor Augen führen, was mit den
Petrodollars gemacht wird, zu deren Erwirtschaftung sie beitragen.
Die schicke Aktau City, aber keine anständige
Kanalisation
»Für die existieren wir gar nicht. Unsere
Führung lebt mit
ihren Milliarden auf einem anderen Stern«, sagt Nurijash
Abdraimowa, Ehefrau eines Nieftianik und überzeugte Kommunistin.
»Jetzt wollen sie hier die neue ’Aktau City‘ bauen,
todschick,
ein neues Dubai, aber leider so teuer, daß man sich keine Wohnung
leisten kann. Sie sollten uns erst mal eine anständige
Kanalisation
bauen!«
Eine andere Frau, die sich auch am Streik beteiligt
hat, meint: »Unsere Führer stopfen sich doch nur die eigenen
Taschen voll, wie
Kulibajew, der Schwiegersohn des Präsidenten: Der ist
Milliardär,
und jeder weiß, woher sein Vermögen stammt. Ausgerechnet der
wagt
es, uns vorzuwerfen, das Land habe unseretwegen hunderte Millionen
verloren!« Tatsächlich hat Timur Kulibajew, der
mutmaßlich
korrupte »Ölprinz«, der mit einer Tochter von
Nasarbajew
verheiratet ist, die Oralman (nach der Unabhängigkeit
zurückgekehrte
ethnische Kasachen) als Anstifter der dauernden Streiks ausgemacht.
Unter den 37 Angeklagten, die seit März 2012 wegen
»Störung der
öffentlichen Ordnung, Gewalttaten und Brandstiftung« vor
Gericht
stehen, sind zwanzig Oralman.
Im Zentrum von Schangaösen, vor dem Firmensitz von OMG, der am
16. Dezember in Brand gesteckt wurde, steht eine weiße,
orientalisch anmutende Gedenksäule mit der etwas ausgebleichten
roten Inschrift: »17. Juni 1989«. An dem Tag starben dutzende von
Menschen bei ethnischen Zusammenstößen, vor allem Tschetschenen und
Aseris. Sie standen als Fachkräfte bei einem Unternehmen unter
Vertrag, das ein Ölfeld in der Nähe von Schangaösen ausbeutete –
und wurden wesentlich besser bezahlt als die kasachischen Arbeiter.
Schon damals nahm der Streit über Einkommensunterschiede und
ungleiche Lebensbedingungen in dieser fast vergessenen Stadt mitten
in der Steppe einen tödlichen Ausgang. 2006 kam es beim riesigen
Ölfeld von Tengiz – das vorwiegend von den US-Konzernen Chevron
(50 Prozent) und ExxonMobil (25 Prozent) ausgebeutet wird – zu
einem ähnlichen Konflikt. Diesmal gingen Kasachen und Türken
aufeinander los: Die Türken waren bei einem Subunternehmer
angestellt, der besser zahlte als die kasachischen Firmen.
In einer Studie zur Lage in Schangaösen, die das kasachische
Institut für politische Lösungen im Dezember 2009 durchführte,
gaben 40,7 Prozent der Befragten an, daß ihr Einkommen nicht reiche,
um die Basisdienstleistungen (Strom, Gas et cetera) und Lebensmittel
zu bezahlen. 32 Prozent waren der Ansicht, daß die Erfolge
radikalislamischer Gruppen auf soziale Probleme zurückzuführen
seien. Zwei Jahre später, ab Mai 2011, erlebte Kasachstan
eine Welle islamistischer Gewaltakte und Anschläge auf Vertreter der
Staatsmacht.
Wenige Tage nach dem Blutbad von Schangaösen im Dezember 2011
übte Staatschef Nasarbajew scharfe Kritik an den Verantwortlichen
der Erdölbranche und entließ praktisch die gesamte Führungsriege –
allen voran seinen Schwiegersohn Kulibajew, den manche bereits als
seinen Nachfolger gehandelt hatten. Bis Ende Dezember war Kulibajew
noch Aufsichtsratsvorsitzender von Samruk-Kazyna, einer Holding, zu
der sämtliche staatlichen Erdölunternehmen gehören. Hat Nasarbajew
so viele Köpfe rollen lassen, nur um den Volkszorn zu besänftigen?
Geklaute Tanklaster voller Rohöl
Natürlich weiß der Präsident über die Korruption in der
Erdölbranche Bescheid. Tanklaster voller Rohöl wurden einfach
gestohlen, manche Mitglieder der Öldynastien im Westen des Landes
kauften Beteiligungen an KMG-Töchtern, die nur gegründet wurden, um
Gewinne abzuzweigen. [5] In Kasachstan ist die Korruption System.
Es gibt zwar ein paar theoretisch vernünftige Regelungen, wie die
Vorschriften über den »lokalen Anteil«, die ausländische
Unternehmen verpflichten, Aufträge an lokale Firmen zu vergeben und
lokale Arbeitskräfte einzustellen. Aber gerade die ausländischen
Geschäftsleute erzählen davon, wie Vetternwirtschaft und Korruption
jeden politischen Ansatz zur Schaffung lokaler Industriestrukturen
scheitern lassen.
Wird Kasachstan aus den Ereignissen in Schangaösen etwas
lernen? Bauyrschan Muchamedschanow, der neue Gouverneur der Region,
räumt ein, daß »Arbeitsplätze und Wohnungen knapp sind und die
Korruption ein Problem darstellt«. Staatschef Nasarbajew hat eine
Kommission einberufen, die die sozialen und wirtschaftlichen
Problemen in Schangaösen lösen soll, und er hat den staatlichen
Erdölunternehmen Führungskräfte verordnet, die als sensibel im
Umgang mit sozialen Fragen gelten – etwa Alik Aidarbajew, den neuen
Chef von KMG EP.
Zugleich forderte Nasarbajew, man müsse die
»Hooligans«
dingfest machen, die den Aufstand vom 16. Dezember angezettelt
hätten. Polizei, Geheimdienste und Staatsanwaltschaft, die vor
allem
darum bemüht waren, ihre eigenen Fehler zu vertuschen, verstanden
das als Freibrief zur Anwendung der »guten alten Methoden«:
»Streikführer wurden ohne begründeten Verdacht
festgenommen, und
leider besteht Anlaß zu der Vermutung, daß nach dem 16.
Dezember
auch Folterungen vorkamen«, berichtet Mihra Rittmann von Human
Rights Watch. »Oppositionspolitiker wie Wladimir Koslow wurden
unter dem Vorwand verhaftet, daß sie die Arbeiter zur Fortsetzung
des Ausstands ermutigt hätten – eine Einschränkung des
Grundrechts auf freie Meinungsäußerung.«
Letztlich verläßt sich das kasachische Regime auf das bewährte
Rezept von Zuckerbrot und Peitsche. Um die Streikbewegung in Schach
zu halten und ihre Ausbreitung auf andere Branchen und Landesteile zu
verhindern, hat es ein Klima der Angst geschaffen – durch
willkürliche Verhaftungen und einen Schauprozeß gegen die 37
Arbeiter, die als Rädelsführer galten. Dagegen wurden nur sieben
Polizisten wegen ihrer Beteiligung am Blutbad des 16. Dezember zur
Verantwortung gezogen. Keiner der 2 500 entlassenen Arbeiter hat
seinen Job wiederbekommen. Aber man hat ihnen – angekündigtes
Zuckerbrot – Arbeitsplätze in einer neuen Firma versprochen, die
bald entstehen soll.
__________________________________________________
(1) Nowaja Gaseta (Moskau)
vom 20. Dezember 2011.
(2) Siehe Artikel 3 des
Übereinkommens über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des
Vereinigungsrechts, ILO (1948), von Kasachstan im Dezember
2000 ratifiziert.
(3) »Deadlock in Kazakhstan as oil
workers strike«, BBC News Asia-Pacific, 25. Oktober 2011;
www.bbc.co.uk/news/world-asia-pacific-15426533.
(4) Edward Schatz, »Modern Clan Politics: The Power of
’Blood‘ in Kazakhstan and Beyond«, Seattle und London
(University of Washington Press) 2004.
(5) Siehe Wojciech
Ostrowski, »Politics and Oil in Kazakhstan«, London (Routledge)
2009.
Aus dem Französischen von Edgar Peinelt
__________________________________________________
Le Monde diplomatique Nr. 9799 vom 11.5.2012
KoKa bedankt sich für die freundliche Genehmigung der online (Erst-)Veröffentlichung