Der Traum von einem widerspruchsfreien Kapitalismus:
Das Handelsblatt entdeckt einen »Angriff auf die Marktwirtschaft«
Angesichts einer fortschreitenden ökonomischen Krise können
es die Vertreter des Kapitalismus nicht leiden, wenn –
ausgerechnet aus ihren eigenen Reihen Abweichler sich vernehmen lassen,
die eine soziale Ader im System der etablierten und weit
fortgeschrittenen Klassengesellschaft vermissen. Diese gleich als
»Feinde der Marktwirtschaft« zu titulieren, ist zwar
übertrieben, doch Ideologen neigen allenthalben zur
Übertreibung, erhoffen sie sich doch so mindestens die gleiche
Aufmerksamkeit zu erregen, die ihre (vermeintlichen) Gegner –
ihrem Geschmack nach viel zu stark – erhalten haben.
Das erste, was der Ideologe der Marktwirtschaft in seinem HB-Artikel
vorzubringen weiß, ist die Reklamation der Sachlichkeit für
seine Sache: Die anderen seien ihrem Gemüt verhaftet und das helfe
bekanntlich nicht weiter. Was er dann allerdings zu der Sache der
Marktwirtschaft vorzutragen hat, ist nicht minder billigster
(Aus-)Verkauf an Ideologie.
Demokratie retten?
Zunächst wirft der HB-Mann [im folgenden einfachkeitshalber HBM, seit 2010 Chefredakteur, kam vom Spiegel] seinen Gegner vor, die Demokratie retten zu wollen. Die behaupteten nämlich: "Die Demokratie – siehe die angekündigte und wieder abgesagte Volksbefragung in Griechenland – sei auf den Hund gekommen." (Alle Zitate, so nicht anderes vermerkt, aus dem HB-Artikel vom 07.11.11)
So ideologisch das von denen auch gedacht wird – eine wirkliche
Rettungsaktion ist weder notwendig noch ernsthaft geplant –, es
ist weder ein Angriff auf die Marktwirtschaft noch ist es als solcher
gedacht. Es ist vielmehr eine, ja die ideologische Ehrenrettung
des Kapitalismus anvisiert, indem Bedenken darüber
geäußert werden, daß er seine Ehre verlieren
könnte. Doch er kommt bekanntlich auch ganz gut ohne Ehre aus. Das
beweist HBM dann auch:
"Die These von der Kollektivschuld erfährt... ihre
zeitgemäße, weil ökonomische Interpretation. Die
Märkte sind schuld. Sie erpressen, sie entmündigen, sie
deformieren. Das neue Böse sieht aus wie ein Investmentbanker.
So kommt es zur Umdeutung der für das Funktionieren der
Marktwirtschaft zentralen Kategorien. Leistungswille wird mit Gier
übersetzt, Erfolg mit Unbarmherzigkeit, die Fortschrittsgeschichte
der Marktwirtschaft, die aus Aufstieg und Fall, aus Versuch und Irrtum
besteht und immer bestanden hat, wird umgeschrieben in eine
Bedrohungssaga. Der Nihilist Friedrich Nietzsche erscheint nun als
Seher, denn er hat es schließlich schon immer gewußt.
»Wo Geld klingelt, da herrscht die Hure.«"
Abgesehen davon, daß es schon seltsam ist, Nietzsche als
Nihilisten zu bezeichnen und ihn dann mit einem
(höher-)moralischen Urteil zu zitieren – offenbar ist ihm
zum Geld, dem Inbegriff des Systems nicht viel Besseres
eingefallen –, ist allzu deutlich, worauf HBM hinauswill:
Das Kapital soll als Opferlamm dastehen. Er bestreitet in der Tat das
bloße Faktum, daß das Kapital erpreßt, wo immer es
geht, das ist ja seine nicht zugegebene Profitgrundlage. Jeder Arbeiter
ist erpreßbar, weil er nicht über Reichtum verfügt, so
daß er seine Arbeitskraft zu Markte tragen muß, einerlei,
ob er will oder nicht, will er denn weiterhin sein Dasein fristen. Das
Kapital kann und will sich auf eigenes Gedeih und Verderb keine
Barmherzigkeiten erlauben. Das ist schon die ganze Leistung des
Kapitals: Die Abgebrühtheit, die es braucht, um Kapitaleigner zu
sein, ist berufsnotwendig. HBM ventiliert vorzugsweise die Seite des
Kapitals, die, die positiv bewertet werden soll, aber allzuhäufig
eben gar nicht positiv bewertet werden kann, weil es nämlich
über Leichen geht. Diese der Moralideologie entgegengesetzte, kaum
minder moralische Ideologie unterfüttert er mit der Schwere der
Aufgabe, der sich die Eigentümer von Kapital unterziehen. Sie
müssen es nicht, aber sie müssen es, wollen sie
Eigentümer bleiben und nicht zum Proletarier herabsinken. Deshalb
salbadert HBM von einem »Verfahren der Annäherung« als
Merkmal der »Marktwirtschaft«. Nein, der Markt ist nicht
das Subjekt, das Subjekt ist das Kapital, aber davon will HBM partout
nichts wissen, wenn es um seine Art der ideologischen Verklärung
geht. Er meint nämlich, das Kapital sei ein Opfer der
Märkte, so daß man sich fragen muß: Wer bestellt denn
die Märkte? Schließlich schafft doch das Kapital mit seinen
(auch: Finanz-)Produkten die Nachfrage und findet sie nicht einfach
vor.
Verlierer, aber nicht für immer!
Ja, HBM stellt in Abrede, daß Marktwirtschaft nichts als ein
ideologischer und schönfärberischer Begriff für den
Kapitalismus ist. Eben deshalb, weil er ihn verdammt gut findet. Er
schiebt dem Kapitalismus all das moralisch Negative in die Schuhe, von
der er bezüglich der Marktwirtschaft nichts wissen will. Er wirft
seinen ideologischen Gegner also eine Indifferenz in der
Begrifflichkeit vor. Das folgendermaßen:
"Auch die Marktwirtschaft [also nicht bloß der böse Kapitalismus, der keinen Staat kennen mag]
läßt Verlierer zu, wie jedermann bestätigen wird, der
die Wohn- und Schlafstätten des Prekariats besucht hat [hier gibt er dicke an, was er für ein sozialer Wicht ist, also genau mit dem, was er seinen Gegnern vorwirft es zu sein!]. Aber sie tut es in der festen Absicht, die Marginalisierten [in diesem Falle sind nicht die Kapitaleigentümer gemeint!]
und Verlorenen in der nächsten Runde wieder am Spiel zu
beteiligen. Schon aus Gründen der ökonomischen Existenz will
sie aus jedem Almosenempfänger einen Steuerzahler machen."
Gekonnt flicht er den klassenneutralen Begriff
»Steuerzahler« hier ein. HBM hält also den Einspruch
sozial Bewegter schlichtweg für gegenstandslos, wenn doch
bloß in der Begrifflichkeit Klarheit herrschen würde!
Als würde nicht gerade der Ruf nach Freiheit, der Freiheit vom
Staat, das Kapital charakterisieren und damit den Kapitalismus als
System kennzeichnen, in dem der Staat dem Kapital seine
maßgebende Rolle zukommen läßt und befördert,
weil er das selber als seinen Erfolgsweg begreift, der ihm die
nötigen Mittel seiner Gewalt verschafft, als würde das also
nicht der springende Punkt des Systems also sein, trumpft HBM auf und
sagt, nein, die Marktwirtschaft sei das und nicht Kapitalismus.
Kapitalismus sei eine schnöde Unterordnung des Kapitals mittels
Regulierungen zahlreichster Art:
"Die unsichtbare Hand des Marktes [an diesem ideologischen Unfug hat er einen Narren gefressen],
diese das vergangene Jahrhundert prägende Metafer des Adam Smith,
wird durch die stählerne Hand des Staates ersetzt. Die soll
richten, was die andere angerichtet hat. ... Regulierung heißt
das Codewort, das sich die Gegner der Marktwirtschaft zuraunen.
Wer nun glaubt, die Feinde der Marktwirtschaft säßen vor
allem auf der Linken, täuscht sich. Da sitzen sie auch. Aber sie
sind weitgehend als Romantiker enttarnt. Die wirklichen Feinde der
Marktwirtschaft sind jene, die sich als ihre Freunde ausgeben."
Im »Mehrwert« liegt die Kraft!
Da ist man aber gespannt, wie er das begründet und siehe da, ihm
gelingt ein veritabler Kunstgriff. Der oben auf die Nazizeit bezogenen,
von ihm verwendete Begriff der »Kollektivschuld« –
gegen den man sich, das hat er in seiner letzten Redaktion gelernt, als
guter Deutscher natürlich wehren muß! – erfährt
eine merkwürdige Drehung. Und zwar geißelt er jetzt das
Finanzkapital als dasjenige Subjekt, welches diesen Vorwurf über
das Kapital im allgemeinen gebracht haben solle:
"Aus ihrem Innersten heraus haben sie [die rechten Feinde der Marktwirtschaft]
ein größenwahnsinniges Projekt gestartet, das sich mit der
Überschrift »Geld schafft Geld« betiteln
läßt. Der alte Zusammenhang, daß sich Geld in einer
Art chemischen Reaktion durch den Zusatz von »Arbeit« und »Rohstoff«
in eine Ware verwandelt, bevor diese ihren Mehrwert in einem Grande
Finale wieder in Geld ausdrückt, sollte verkürzt werden. Die
Geldindustrie versuchte, Geld aus Geld zu schöpfen, und hat damit
der Marktwirtschaft den bisher empfindlichsten Schlag versetzt."
Ja, das klingt ein wenig wie Robert Kurz, nach dem das Kapital,
gemessen an seinen Resultaten, dem Kapital selber der ärgste Feind
sei. Es klingt aber noch viel mehr wie die Ideologie, die das
schaffende gegen das raffende Kapital retten will, als gäbe es
dafür keinen und schon gleich keinerlei notwendigen Zusammenhang.
Die Frage, ob denn und wenn ja warum, immer wieder und jedesmal mehr
Geld für die Fortführung der Warenproduktion nötig ist,
ist für einen Ideologen keine, dem die unsichtbare Hand des Marktes
ans Hirn greift. Daß es die oft erwähnten und viel gelobten
Investmentbanker sind, die diese »chemische Reaktion«
fortspinnen und aus der Dienstleistung des Kredits für die
Warenproduktion selber ein Geschäft zu machen verstehen, ein
gigantisches zumal, insofern sie die Spekulation von eben dieser
Warenproduktion längst emanzipiert haben, das wird ein eingefleischter Ideologe der Marktwirtschaft nicht so sehen können, weil es so nicht sehen wollen.
Eigentlich ging das Argument gegen seine Gegner somit in die Hose, aber
egal, man braucht ja bloß zuzugeben, daß sich die verehrten
Eigentümer von Kapital selber ein bißchen an die Nase fassen
müssen und sich die zurückzuweisende Kritik selber ein ganzes
Stück weit eingebrockt haben.
"Unübersehbar sind die Zeichen der Entartung. Das Treiben
auf den Finanzmärkten dient, wie ja unschwer zu erkennen ist,
nicht dem Wohlstand der Nationen."
Der geneigte Leser muß zur Kenntnis nehmen, daß die
Lieblingsbegriffe HBMs dem Faschismus sowie Adam Smith entlehnt sind.
Da kann also niemand behaupten, er sei nicht ausgewogen unterrichtet.
Allerdings stimmt es doch bedenklich, wenn der Chefredakteur des
größten nationalen Wirtschaftsblattes die Mehrwerttheorie
seines Lieblingsökonomen nicht kennt. [Vgl. hierzu: Karl Marx: Adam Smith, MEW 26.1, S. 40ff bzw. speziell zum Mehrwert: S. 48ff.]
Ein Staat, der's nicht blickt!
Sodann räsoniert HBM laut ein wenig über das Verhältnis
von Staat und Kapital und wirft dem Staat Undankbarkeit vor, wenn der
übersehe, wo er seine Quellen findet. Dabei finanziere er
völlig falsche Dinge, anstatt endlich mal an das liebe Kapital,
pardon: die Märkte zu denken, wo einzig das Geld, das er ausgibt,
gut aufgehoben wäre.
"Er [der Staat] ist süchtig nach Anerkennung. Aber
er ist zu feige, wenn es darum geht, die Quellen der
Großzügigkeit offenzulegen. So erst kam der Kapitalmarkt ins
Spiel. Er ist heute der große Ermöglicher von Politik. Und
die Politik ist die heimliche Geliebte der Investoren. Auf die Staat
nach mehr Kredit ist Verlaß. Je schwieriger die Zeiten, desto
gieriger der Staat."
Ah, so denkt HBM sich die Sache zusammen! Das produktive
Kapital ist supergut. Das Finanzkapital kam durch den Staat ins Spiel
und ist also superzweifelhaft. Mit Hilfe des Finanzkapitals kann der
Staat nun dem produktiven Kapital Schwierigkeiten machen, es
ideologisch unterbuttern und das System insgesamt in Frage stellen.
Eine schöne Verschwörungstheorie, die sich HBM da ausgedacht
und zusammengereimt hat.
Das bestätigt er noch selber, indem er es seinen Gegnern vorwirft:
"Die großzügige Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte [Hartz IV, 1-Euro-Jobs, Leiharbeit oder was?]
und die Exzesse an den Finanzmärkten sind zwei Seiten der einen
Medaille. Der Gebe-Politiker und die »giergesteuerten
Netzwerke« (Peter Sloterdijk) der Banken bilden eine Art
Geheimloge, deren Raffinesse darin besteht, daß man Hand in Hand
arbeitet, ohne daß die Hände sich jemals berühren."
Die gegenseitige Abhängigkeit von Staat und Kapital ist für
einen Ideologen natürlich nicht anders begründ- und
begreifbar als eben so. Aber wenn man die »Marktwirtschaft«
als Opfer ihrer selbst vorstellig machen will, dann geht das wohl auch
nicht anders. Es ist nämlich für einen Kapitaleigner, egal in
welcher Form sein Kapital existiert, ob als Ware, Geld, Immobilien oder
Rohstoffen, völlig einerlei, womit er ein Geschäft macht. Es
kommt ihm nämlich auf den Profit an und nicht auf den Mehrwert,
von dem der große HB-Mann sowieso keinerlei Begriff
wissenschaftlichen Anspruchs hat, wie das weiter oben stehende Zitat
beweist. Er beklagt ja nichts anderes, als daß der Erfolg beim
Profite-Machen zu wünschen übrig läßt
und daß damit eine gesamtgesellschaftliche Rechnung, wie er
sie aufmacht, nicht aufgeht, nachdem sie gerade in der deutschen
Nachkriegszeit so lange widerspruchslos aufzugehen schien.
Hätte er einen Begriff davon, woher der Profit eine abgeleitete
Größe ist, dann wüßte er, daß sich
Finanzkapital, Handelskapital und produktives Kapital (soweit
man das heutzutage auf der erreichten Stufe kapitalistischen
Fortschritts so generell überhaupt trennen kann) sich nämlich
um den in der Ware steckenden Mehrwert streiten. So sehr, daß nur
ein Teil des Mehrwerts überhaupt als Profit übrigbleibt; so
sehr, daß das produktive Kapital seinen Kreditbedarf ausweiten
muß, um überhaupt in der Konkurrenz erfolgreich bestehen zu
können; so, daß daran wieder die
Dienstleistungsgeschäfte der Kreditgeber geknüpft sind; und
schließlich, daß der Staat allenthalben im eigenen
Interesse sauviel Verständnis für die Nöte des Kapitals
im allgemeinen wie im besonderen aufbringt, die von so Schlaumeiern wie
dem Mann aus Düsseldorf nicht gewürdigt werden, weil dessen
Ansprüche an ein Funktionieren der »Marktwirtschaft«
einfach so uferlos idealistisch sind (bzw. aufgrund früherer
deutscher Politik unter den Kanzlern Hitler, Adenauer, Erhard und
Brandt gar nicht so erscheinen), daß sie auf der erreichten Stufe
des Kapitalismus keinen Maßstab für politische Kredit- und
private Investitionsentscheidungen abgeben können.
Wie stellt HBM sich also einen Idealstaat mit Marktwirtschaft vor? Etwa so:
"Die ... Wirtschaft ist einerseits keine Staatswirtschaft, d.h. keine
Wirtschaft, die vom Staat als Ganzes verwaltet wird. Sie ist
andrerseits keine gesellschaftliche Interessenwirtschaft, die in einer
vom Staat völlig losgelösten Selbständigkeit nur den
höchsten individuellen Nutzen erstrebt. Sie ist vielmehr
gleichzeitig gebunden und frei. Gebunden ist die Wirtschaft, weil sie
... Lebensinteressen vorbehaltlos verpflichtet ist. Frei ist die
Wirtschaft, weil sie persönliche Schöpferkraft und Leistung
in ihr sich voll entfalten kann." (Hermann Messerschmidt, Das Reich im Nationalsozialistischen Weltbild, in der Reihe: Neugestaltung von Recht und Wirtschaft, Heft 1, Leipzig 1940 [5. Aufl.] S. 94)
Die Pünktchen sind mit dem Begriff »völkisch« zu
füllen, doch das empfände HBM möglicherweise als
antiquiert, obwohl?: Den Begriff »Entartung« hält er
offenbar ja keineswegs für antiquiert.
05.12.11
p.s. Der HB-Artikel hat online bislang rund zweihundert, fast
ausschließlich positive oder sehr positive Reaktionen erhalten.
