Johann Most
Die Vegetarianer
Eine kleine Sekte komischer Schwärmer läßt hie und da
ihr Lichtlein leuchten, um der armen verirrten Menschheit den Weg zu
zeigen, der dahin führt, wo Kulis und Hindus schon lange
angekommen sind; und um der Sache auch einen gelehrten Anstrich zu
geben, nennen sich ihre Gläubigen »Vegetarianer«.
Es fällt mir nun durchaus nicht ein, diese sonderbaren
Kostgänger eines Besseren belehren zu wollen, denn dies ist ganz
unmöglich, weil Leute, welche solch naturwidrigen Extravaganzen
huldigen, unstreitig an einer unheilbaren fixen Idee leiden; was ich
beabsichtige, ist lediglich präventiver Natur, läuft auf eine
Warnung an all diejenigen hinaus, welche von der Krankheit der
freiwilligen Asketik noch nicht erfaßt, wohl aber der Gefahr
ausgesetzt sind, dieselbe eingeimpft zu bekommen.
Manche der Herren Pflanzenesser betreiben die Sache mehr oder weniger
als Spielerei und wissen ihre fleischlose Tafel recht mannigfaltig und
einladend mit anderweiten Leckereien auszustatten. Wer mit der
höheren Gastronomie vertraut ist, weiß, daß die Zahl
der feinen Mehlspeisen und Bäckereien Legion ist, daß sich
aus den verschiedenen einheimischen und fremden Obstarten eine Anzahl
schmackhafter Gerichte bereiten läßt, wie auch, daß es
der edleren Gemüsesorten gleichfalls nicht wenige gibt. Zudem
verachten solche, die nicht gerade zu den orthodoxen Vegetarianern
gehören, auch Milch- und Eierspeisen nicht. Ein derartiger
Vegetarianismus ginge am Ende – wenn man lediglich den
Genuß im Auge hat – noch an; nur schade, daß Leute
mit kurzem Geldbeutel nicht mittun können.
Andere Fleischverächter aber treiben den Pflanzenfraß
dagegen sehr ernst. Sie verdammen auch Eier, Milch und Fett und lassen
nur die in Wasser gekochte oder roh aufgetischte Pflanzenkost gelten,
ja, man kann gar nicht wissen, ob diese Leute nicht bald bei der reinen
Wurzel- und Kräuterfütterung der mythischen Waldmenschen
anlangen werden. Solange es nun diese Sonderlinge bei der Fröhnung
ihres an sich höchst unschuldigen Hanges bewenden lassen, hat man
sich in diese ihre Privatangelegenheit auch nicht einzumischen, sobald
sie jedoch das Wurzel- und Kräuterevangelium förmlich
predigen oder sich gar vermessen, den Vegetarianismus als Mittel zur
Lösung der sozialen Frage in Vorschlag zu bringen, muß ihnen
kräftigst entgegengetreten werden.
Bisher haben sich zwar im allgemeinen die Arbeiter den Vegetarianismus
– soweit ihnen nicht die Not denselben aufzwang – standhaft
vom Leibe gehalten, jedoch ist die Möglichkeit immerhin nicht
ausgeschlossen, daß am Ende aus der Not eine Tugend und die
Wassersuppe zur obligatorischen Arbeiterspeise gemacht wird. Dies ist
eine Gefahr, die von ihrer Größe nichts verliert, wenn sie
auch noch so fern liegt, und die man deshalb bekämpfen muß,
wo sie sich immer zeigen mag. Und sie zeigt sich da und dort; hat mir
doch erst vor kurzem ein (wie er glaubt, sozialistisch gesinnter)
Arbeiter allen Ernstes zu beweisen gesucht, daß es die
größte Torheit sei, etwas anderes als in Wasser gekochte
Pflanzen genießen zu wollen, daß man auch recht wohl von
Wasser und Brot leben könne und daß der Genuß von
Fleischspeisen, geistigen Getränken u. dgl. ebenso unnütz und
sogar schädlich sei wie das Tabakrauchen. Was will man mehr?
–
Um das Irrige solcher Anschauungen zu beweisen, will ich mich nicht auf
weitläufige chemische Deduktionen einlassen, vielmehr halte ich es
für ausreichend, wenn ich auf die Natur selbst verweise.
In tropischen Gegenden benötigt der Mensch nur eines kleinen
Quantums Kohlenstoff, braucht also nur wenige fetthaltige Substanzen zu
genießen, weil es die dortigen klimatischen Verhältnisse gar
nicht erheischen, daß die durch Kohlenstoff erzeugt werdende
animalische Wärme in bedeutenderem Maßstake stetig erneuert
wird. Aus diesem Grunde ist daselbst in der Regel die vegetabilische
Nahrung die beliebtere, obgleich daneben (von den Vegetarianern aus
Religiosität abgesehen) auch dort Fleischspeisen nicht
verschmäht werden. Im hohen Norden hingegen spielt das Fett die
Hauptrolle unter den Nahrungsmitteln, weil hier die
Körperwärme durch Zuführung von Kohlenstoff
fortwährend erneuert werden muß, will der Mensch den
Einflüssen des kalten Klimas nicht erliegen.
In den gemäßigten Zonen wird demnach die Nahrungsweise der
Menschen den Mittelweg zu gehen haben, und sie hat auch in der Tat von
jeher diesen Mittelweg eingehalten, ohne daß irgendwelche
Vegetarianer oder Animalisten (Fleischesser) oder sonstwer denselben
angebahnt hätte. Je südlicher ein Volk wohnt, desto mehr
hält es sich an die Pflanzenkost, je nördlicher es seinen
Sitz hat, desto mehr hat es ein Bedürfnis nach Fleischspeisen. Es
handelt sich da nicht, wie die Vegetarianer sich ausdrücken, um
ein althergebrachtes Vorurteil, um einen blinden Glauben, sondern
einfach um ein Befolgen der Naturgebote, denen man sich auf die Dauer
nicht ungestraft widersetzen kann.
Ventiliert man aber die wirtschaftliche Seite der
Vegetarianismusfrage, dann stößt man noch auf ganz andere
Dinge. Angenommen, die Arbeiter gewönnen eines schönen Tages
die Überzeugung, daß all ihr bisheriges Ringen nach Freiheit
und Gleichheit ein vergebliches war und daß nur der
Vegetarianismus zum Ziele führen könne – wie lange
glaubt wohl der eingefleischte Vegetarianer, daß diese Illusion
vorhielte? Doch wir wollen keinem großes Kopfzerbrechen
verursachen, sondern gleich ganz kurz und glatt die Antwort
beifügen. Diese Illusion könnte nicht länger anhalten,
als bis die Arbeiter am ökonomischen Lohngesetze sich die
Köpfe anstießen; und dies müßte gar bald
geschehen. Können die Arbeiter billiger leben als bisher, so
muß auch ihr Lohn gerade um den Differenzialbetrag sinken. Wer
dies nicht sofort all den fünf Fingern sich abzählen kann,
trotzdem er in einer Gesellschaft mit freier Konkurrenz lebt, der lasse
sich die Wirkung dieser Konkurrenz und überhaupt das Wesen des
wirtschaftlichen Gesetzes, durch welches sich der Lohn bestimmt, von
irgendeinem halbwegs vernünftigen Arbeiter erklären, denn so
lange man darüber nicht im klaren ist, muß man über
Dinge, welche die soziale Frage berühren, gar nicht reden wollen.
Übrigens wäre die Folge eines – glücklicherweise
nur fingierten – Zukunftsvegetarianismus der Arbeiter für
diese auch noch aus anderen Gründen von der heillosesten Natur.
Das wirtschaftliche Lohngesetz würde nicht bloß einfach,
sondern doppelt und dreifach sich zur Geltung bringen.
Verzichten die Arbeiter auf jeden Fleischgenuß, auf alle
geistigen Getränke, aufs Tabakrauchen, kurzum auf alles, was in
den Augen der Vegetarianer ein Gräuel ist, so muß
notwendigerweise ein großer Teil derjenigen, welche sich bislang
mit der Produktion obgedachter Artikel beschäftigten,
»überflüssig« werden, das Angebot von
Arbeitskräften muß innerhalb der noch verbleibenden
Geschäftszweige die Nachfrage bei weitem übersteigen und
sonach der Arbeitslohn im allgemeinen sinken, so lange sinken, bis er
bei jenem Betrage angelangt ist, der gerade hinreicht, um ein
Vegetarianerdasein zu fristen. Mit der Lösung der sozialen Frage
ist es also »Essig«!
Es sollte den Vegetarianern doch auffallen, daß die Kapitalisten
den Arbeitern ganz ähnliche Ratschläge erteilen wie sie,
nämlich, daß dieselben stets das Sparen im Munde
führen, das Sparen, welches den Arbeitern ja doch nur möglich
wäre, wenn sie dem Vegetarianismus und ähnlichen
Bedürfnislosigkeitsschrullen huldigten. Könnten sich auf
diesem Wege die Arbeiter Kapitalien ansammeln, so wären sie ja in
der Lage, sich – in Genossenschaften organisiert – mit
Arbeitsmitteln zu versehen und, selbständig zu
produzieren; die Kapitalisten aber vermöchten keine
Unternehmerrollen mehr zu spielen, ihr Eigentumsmonopol verwandelte
sich in eine taube Nuß, und ihre Taler würden keine Eier
mehr legen. Daß die Konsequenzen des Sparens aber ganz entgegengesetzter
Natur sein müßten (von der oben schon angedeuteten
Rückwirkung des Sparens abgesehen, ist noch zu bemerken, daß
jedes Sparen, das auf eine Verminderung der Konsumtion und
gleichzeitige Anhäufung der Kapitalien hinausläuft, zwar den
Anschein hat, als fördere es die Produktion, in Wirklichkeit aber
die Produktion beeinträchtigen muß, da man doch wahrhaftig nicht mehr produzieren kann, wenn weniger konsumiert wird), daß die ganze Spartheorie eitles Geflunker ist, wissen die Herren Sparapostel ganz genau, und darum predigen sie darüber, und darum schwärmen sie für Volksküchen usw.
Daß der Vegetarianismus die Lage der Arbeiter nicht zu bessern vermag, ist aber noch nicht das Schlimmste, denn derselbe müßte eine wesentliche Verschlechterung
der Arbeiterverhältnisse im Gefolge haben, eine Verschlechterung
nicht nur in materieller, sondern ganz besonders auch in geistiger
Hinsicht. Pflanzenkost trägt zwar zur Stärkung der Knochen
bei, weshalb z.B. die Bergleute Perus zum Genuß von Brot, das
eine starke Mischung von Bohnenmehl enthält, eifrigst angespornt
werden, allein der Ersatz des verbrauchten Gehirns wird z.B. bei
ausschließlicher Pflanzennahrung – namentlich qualitativ
– bedeutend beeinträchtigt, weil zu wenig Fosfor in den
Vegetabilien enthalten ist.
Besehen wir uns einmal solche Volksstämme, welche mehr oder
weniger dem Vegetarianismus huldigen, so finden wir, daß sie
total unfähig sind, sich der ärgsten Bedrückungen zu
erwehren. Ohne Energie, ohne geistige Spannkraft, mit völliger
Apathie gegen jeden höheren Aufschwung, sind sie stumpfsinnig
ihrem Geschick ergeben. Schon die Zufriedenheit mit einem kläglich
einförmigen genußlosen Dasein muß ja bewirken,
daß man eine angenehmere Existenz gar nicht für
erstrebenswert hält. Das Nähere kann man in Ostasien
erfahren, wo der Vegetarianismus die kräftigste Säule des
Despotismus ist und von wo aus mit den pflanzenessenden Kulis zum
Schrecken der amerikanischen Arbeiter Zufriedenheitsdusel und
Knechtschaftssinn über das große Weltmeer verschifft werden.
Einzelne Personen, die, trotzdem sie Vegetarianer sind, große
Energie, ja selbst Leidenschaftlichkeit an den Tag legen, können
nicht als Gegenbeispiele angeführt werden, denn große
Ursachen und große Wirkungen im Volksleben kann man nicht an
einzelnen Individuen beobachten.
Oben erwähnter Arbeiter hat mich auf den französischen Revolutionär Blanqui
aufmerksam gemacht und darauf hingewiesen, daß derselbe trotz
seiner »spartanischen« (das wäre eigentlich nicht
treffend, da die Spartaner wohl einfach, aber nicht vegetarianisch
lebten) Lebensweise wahrlich voll Energie und Tatkraft sei; aber diesen
Hinweis kann ich schon gleich gar nicht als passend anerkennen. Blanqui wurde unter der Regierung Louis Philipps
im Fort Michel neun Jahre lang derart mißhandelt, daß sein
Körper dadurch für immer gebrochen wurde, kein Wunder daher,
daß seine Natur nur noch ganz leichte Speisen vertragen kann. Und
daß sein Geist trotz alledem gesund und frisch geblieben, kommt
daher, weil er – nun, weil er Blanqui ist. Es ist, als ob sich
zuweilen ein Prinzip in irgendeiner Person verkörpern wollte, und
solch eine Person scheint Blanqui zu sein, wenigstens hält man ihn
oft für die Inkarnation der revolutionären Idee. (Ich
persönlich bin indes nicht allzu begeistert für Blanqui,
weil ich seine Putschmachertaktik nicht für praktisch halte und
weil er trotz seines sonstigen Radikalismus' kein Verständnis
für den modernen Sozialismus hat, will mich aber angesichts des
Umstandes, daß Blanqui ein ehrlicher Mann ist, und namentlich,
weil er sich im Gefängnis befindet, weiterer Kritik über ihn
enthalten.) Sei es nun wie es wolle: Jedenfalls ist Blanqui nicht geeignet, als Speck zum Einfangen von – Vegetarianern benützt zu werden.
Schließlich erlaube ich mir noch die Frage aufzuwerfen, wie sich
eine Gesellschaft, welche ausschließlich dem Vegetarianismus
huldigt, der Tierwelt gegenüber verhalten soll? Das Leben
könnte man den Tieren doch nicht durchgängig schenken, da sie
sonst bald so zahlreich würden, daß kaum genug Pflanzen zu
deren Nahrung wüchsen und den Herren Vegetarianern demnach eine
unliebsame Konkurrenz bereitet würde. Ausrotten könnte man
die Tiere aber auch nicht, weil man deren Dünger, Felle usw. nicht
zu entbehren vermöchte. Nach wie vor hätte man also Viehzucht
zu treiben, der Unterschied wäre nur der, daß man im
vegetarianischen Zeitalter nicht mehr wie jetzt das Fleisch
äße, sondern wegwerfen würde resp. zu untergeordneten
Zwecken verwendete!
Man mag die Sache drehen und wenden wie man will, immer
stößt man sofort – mit Verlaub! – auf den
krassesten Unsinn, der hoffentlich für immer beredt genug spricht,
um die Menschheit davor zu bewahren, daß sie sich in der
Sackgasse des Vegetarianismus verrennt.
aus: Volksstaat-Erzähler, Beilage zum »Volksstaat«, Nr. 19 v. 23.05.1875 und Nr. 20 v. 30.05.1875; Hervorhebungen im Original