Die Schließung einer Mega-Mülldeponie in Rio de Janeiro
von Fabiola Ortiz
Rio de Janeiro (IPS) — Wenige Wochen
vor dem UN-Nachhaltigkeitsgipfel hat die brasilianische Gastgeberstadt
Rio de Janeiro eine ihrer schlimmsten Umweltsünden beseitigt: die
riesige Müllkippe »Jardim Gramacho« an der GuanabaraBucht. Mehr als
drei Jahrzehnte lang wurden auf dem Areal rund 60 Millionen Tonnen
Festabfälle abgeladen, die sich schließlich 50 Meter hoch türmten. Da
es keine Begrenzungsmauern gab, landete ein Teil des nicht recycelten
Unrats im Meer.
Jardim Gramacho war nicht nur die riesigste Müllkippe
Lateinamerikas, sondern auch eine der größten der Welt.
Experten sahen sie als krasses Beispiel für das Müllproblem,
mit dem auch andere Städte in dem Land zu kämpfen haben.
Neben der Umwelt sind davon insbesondere die Familien betroffen, die am
Rande der behelfsmäßigen Deponien leben.
"Rio de Janeiro wird nicht zulassen, daß der Umwelt noch mehr
Gewalt angetan wird. Die Stadt hat lange genug dieses
Ökoverbrechen begangen", sagte Bürgermeister Eduardo Paes,
als er am 3. Juni gemeinsam mit Umweltministerin Izabella Teixera die
Schließung der Müllkippe bekanntgab. Im Anschluß
schaufelten Bagger dicke Erdschichten auf die 1,3 Quadratkilometer
große Halde. Am Eingangstor wurde als symbolische Geste ein
Vorhängeschloß angebracht.
"Gramacho ist ein Beispiel für ein schweres Umweltdesaster in
Brasilien", meinte Vera Chevalier, die Direktorin der unabhängigen
Organisation Ecomarapendi. Wie sie erklärte, sind die
Schäden nicht wieder gut zu machen. Das Areal könne nicht
mehr in seinen Urzustand zurückversetzt werden.
Müllmenge unterschätzt
Als die Müllkippe 1978 — zur Zeit der Militärdiktatur
— ihren Betrieb aufnahm, war vorgesehen. dort binnen 20 Jahren
höchstens 3.000 Tonnen Abfall pro Tag abzuladen. Die
Schließung der Halde wurde aber um 14 Jahre verschoben, und
täglich wurden 9.000 Tonnen entsorgt.
Eine 2010 entworfene Richtlinie zum Umgang mit Abfall führte
schließlich zur Stilllegung der Deponie. Die Maßnahme trat
kurz vor Beginn der UN-Umweltkonferenz Rio+20 vom 20. bis 22. Juni in
Kraft, einer Revisionsveranstaltung 20 Jahre nach dem historischen
Erdgipfel in Rio de Janeiro.
Wie die Behörden ankündigten, wird auf dem Gelände von
Gramacho eine Biogasanlage gebaut. in der Methan in
umweltverträgliches Biomethan umgewandelt wird. Die festen
Abfälle werden künftig in einer Fabrik in der Stadt
Seropedica 75 Kilometer von Rio entfernt wiederaufbereitet. Die
Projektverantwortlichen sprechen von der fortschrittlichsten Anlage
dieser Art in Lateinamerika.
Jardim Gramacho war ein Symbol für den ökologischen und
sozialen Niedergang von Rio de Janeiro. Etwa 5.000 Menschen
durchsuchten unter hohen Gesundheitsrisiken die Abfallberge, um
verwertbare Reste für den Weiterverkauf aufzuspüren. Auf der
Halde wühlten sich zudem Schweine durch den Unrat, während
über ihnen Geier kreisten. Die Müllsammler arbeiteten auch
bei sengender Sonne oder Regen mehr als zehn Stunden täglich, um
sich ein bescheidenes Auskommen zu sichern. Der Kontakt mit toxischen
Abfällen hat viele von ihnen krank gemacht.
Gloria Cristina dos Santos hat mit elf Jahren angefangen, gemeinsam mit
ihrer Mutter und den Geschwistern auf der Deponie zu arbeiten. Das
Gehalt, das der Vater als Werftarbeiter verdiente, reichte für die
Familie nicht aus. "Ich sammle seit 25 Jahren Müll und hatte eine
schreckliche Jugend", berichtet sie. "Einen großen Teil meines
Lebens habe ich in Gramacho verbracht. Als ich ungefähr 18 war,
wagte ich mich kaum in die Stadt, weil die Menschen den Umgang mit uns
mieden. Wir wurden wie Aussätzige behandelt."
Heute vertritt Santos eine Kooperative für Müllrecycling.
Gemeinsam mit anderen Aktivisten hat sie sich vehement für eine
Schließung der Halde eingesetzt und den anderen Abfallsammlern
dabei geholfen, ein neues Leben zu beginnen und unter besseren
Umständen zu arbeiten. "Für die Arbeit in Gramacho habe ich
mich zwar nie geschämt, doch sie war unmenschlich", erklärt
sie. "Wir arbeiten weiter im Müllrecycling, sind jetzt aber besser
und sicherer organisiert."
Einkünfte der Müllsammler drastisch gesunken
Von den 1.700 Menschen, die noch im vergangenen Jahr Abfälle in
Gramacho sammelten, wollen 400 auch künftig eine solche Arbeit
verrichten. In den neunziger Jahren hatten sie damit noch etwa 600
US-Dollar monatlich verdient. In den letzten Monaten sanken die
Einkünfte jedoch um etwa die Hälfte. Die Stadtverwaltung von
Rio hat den Kooperativen der Müllsammler inzwischen einen
Ausgleich von 700.000 Dollar für die Schließung von Gramacho
zugesagt.
Der Vorsitzende einer der Genossenschaften, Sebastião Carlos dos
Santos, sprach sich dafür aus, die Müllsammler formal in den
Arbeitsmarkt zu integrieren. "Zum ersten Mal seit 34 Jahren haben wir
eine Stimme und werden Anerkennung finden", erklärt er. Die
staatlichen Maßnahmen führten zwar zur Beseitigung der
Deponien, doch die Müllsammler verschwänden damit nicht.
Bis 2014 sollen außer Gramacho auch alle anderen Müllkippen
geschlossen werden, die sich an ungeeigneten Orten befinden. Das
staatliche Institut für angewandte Wirtschaftsforschung (IPEA)
bezweifelt jedoch, daß Brasilien dieses Ziel tatsächlich in
der vorgesehenen Zeit erreichen kann. Denn es gibt landesweit noch
immer rund 2.900 Müllkippen in 2.810 Städten.
(15.06.12)
Der Artikel erschien in gedruckter Form im ips-Weltblick v. 11.06.12;
mit freundlicher Genehmigung für KoKa-Augsburg: Nachrichtenagentur ips (inter press service)