Wie ein Freund der Weisheit Marx in den moralischen Morast zieht
Ein Filosof, ein Freund der Weisheit also, ist bei weitem nicht mit einem Freund von Wissen zu verwechseln. Im Gegensatz zu dem
zieht er das Verlangen nach der Schlichtheit eines Gedankens vor und so
ist denn dessen sachliche Richtig- wie logische Stimmigkeit meist rein
zufälliger Art, wenn überhaupt. So lag die taz
beispielsweise semantisch schief, als sie am 29.12.08 auf Seite 1 ihren
Hinweis auf einen Artikel über Marx' Kapitalanalyse mit "Alte Weisheit" titulierte. Aber das nur nebenbei.
Kein Wunder ist es jedenfalls, wenn manchem Weisheitsfreund**
dessen Entfremdungsbegriff so gut gefällt. Der ist in seiner
moralischen Kompatibilität einfach zu schön, ein schlichtes
Gemüt nicht zu begeistern.
Sève gehört zu denen, die glauben, man
hätte die (Finanz-)Krise verhindern können, ohne das
Quidproquo des Kapitals zu beeinträchtigen. Ganz abgesehen davon,
daß auch Gewerkschaften und sozialdemokratische Linke sowieso
nichts anderes wollen als den Erfolg des Kapitals, so daß es
vollkommen abwegig ist, wie unser Weisheitsfreund daran zu denken,
ausgerechnet die hätten die Krise wie auch immer -
hätten sie sich besser aufgestellt oder auch mal an Marx gedacht -
verhindern können. So gesehen, Erhalt und Rettung des Systems im
Auge, liegt es einem fern, sich über die Gründe der Krise
ernsthafte Gedanken zu machen. Wie sollte er auch, macht er ja allein "die Tiefe der Krise"
zum Anliegen seiner Überlegungen. Wie käme er denn bei der
Forschung nach den Gründen auch auf die Ausgangsprämisse, den
Erhalt des Systems, zurück, eines Systems, das er an sich offenbar
für gar nicht so ungenießbar einschätzt? Was er wie
viele andere doch sagen will, ist, daß das System fehlerhaft sei,
aber keineswegs selbst der Fehler. Für letzteres bräuchte er
Gründe – und sie wären bei Marx zu finden –,
für die Suche nach Fehlern wäre er mit einem Handbuch
über Manager-Verantwortung tatsächlich besser beraten. Ist
etwa sein Buch "Denken mit Marx heute" für jenes Klientel gedacht?
Woran denkt nun der Freund der Weisheit, wenn er doch
Marx partout nicht auslassen zu können glaubt. Kann er Marx'
Analyse noch etwas anderes entnehmen als die gewissermaßen
anthropologische "Weisheit", die Entfremdung des Menschen, entdeckt zu
haben. Die neue Anthropologie, die Sève fordert,
umschließt ja nicht nur die von ihm erwähnten
materialistischen und moralischen Aspekte der "Entfremdung", sondern
verleiht ihr gleichzeitig die höhere Weihe
menschlich-allzumenschlichen Schicksals. Dafür möchte er Marx mit dessen Hinweis, daß ein Individuum "Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse" sei, also, so Sève, eine historische Dimension habe [wörtlich: "Der Mensch ist also, anders als die liberale Lehre des Individualismus will, das Produkt einer historischen Entwicklung"], anzapfen. So räumt er Marx eine durchaus systemrelevante Zusatz-Funktion
ein. Er ist nämlich nicht einfach mit der vom System angebotenen
Kritik zufrieden, kann es nicht sein, so sehr er möchte, denn die
Verwerfungen der Krise zwingen ihn gerade dazu:
"Natürlich
haben auch die mangelnde Regulierung der Finanzmärkte, das
unterentwickelte Verantwortungsgefühl von Unternehmern und
Managern und die defizitäre Moral der Börsianer zu der Krise
beigetragen. Aber wir müssen viel weitergehen und – ohne
Denkverbote – das eifersüchtig gehütete ideologische
Selbstbild von einem über jeden Verdacht erhabene System infrage
stellen. Wir müssen also neu über die 'letzten' Ursachen
jenes Prozesses nachdenken, den Marx das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« genannt hat."
Sehen wir einmal von der immer wieder zu beobachtenden,
frappanten Logik der "Erklärung" eines Sachverhalts ab, er sei
darauf zurückzuführen, daß etwas nicht bzw. nicht
genügend vorhanden sei, wenden wir uns also schnell seiner Suche
nach den "letzten" Ursachen zu, nachdem die vorletzten das System
selber ja schon so toll und offenherzig zutage gefördert hat. Nach
Meinung des Weisheitsfreundes sei die Krise "zwar
in der Kreditsfäre entstanden, aber ihre zerstörerische Macht
hatte sich schon in der Sfäre der Produktion herausgebildet, in
der die ungleiche Aufteilung des Mehrwerts zwischen Arbeit und Kapital
ihren Ursprung hat."
Zunächst einmal führt er eine
Gegenüberstellung ein, die die Frage, was die eine Sfäre mit
dem anderen zu tun hat, eben so, in diesem obskur bleibenden Gegensatz,
mit Verweis auf ein "ungleiches" Resultat erschlagen soll. Dieses
wähnt er, obzwar nicht näher erläutert, in der
Unterstellung, der Mehrwert wäre etwas zwischen Arbeit und Kapital
Aufzuteilendes. Hätte er wenigstens behauptet, daß ein Teil
des Mehrwerts des produktiven Kapitals den Banken vorbehalten ist,
nämlich für ihren Dienst, der Zur-Verfügung-Stellung von
Kredit, dann hätte er wenigstens zurecht behaupten
können, »Das Kapital«
nicht nur zur Hand gehabt, sondern auch studiert zu haben. Dort
könnte er auch erfahren, daß der Mehrwert der Teil der Ware
Arbeitskraft - bei der Erniedrigung der Arbeitskraft zur Ware
erschauderte der Filosof! - ist, der, obschon aufs Produkt
übertragen, grundsätzlich aber nicht entlohnt wird und mithin
die Grundlage des Profits darstellt. Wer der Meinung ist, - reichlich
nebulöse - "zerstörerische Mächte" würden sich erst
dann voll entfalten, wenn eine Krise eine gewisse Tiefe erreicht habe,
der hingegen kann die Erklärung des Mehrwerts natürlich
locker vernachlässigen und über an- und vorgebliche
Ungerechtigkeiten des Lohnsystems lamentieren.
Seine eigene Leitlinie, Moral überall entweder zu
entdecken oder zu vermissen, verstellt ihm konsequent den Blick auf
eine objektive Beurteilung der Sache. So wirft er zu Kapital und Krise
auch noch einen Kant in die Debatte:
"Die
menschliche Tätigkeit wird in der Aneignung durch das Kapital
nicht in ihrem nützlichen Charakter anerkannt, sie gilt vielmehr
nur als Mittel zu fremden Zwecken. Man muß nicht Kant gelesen
haben [wohl ebensowenig wie Marx!],
um in dieser Verkehrung von Mittel und Zweck den tieferen,
fortdauernden Grund für die Amoralität des ganzen Systems zu
erkennen."
Der Arbeiter wird anerkannt; einen Arbeitsvertrag
unterschreibt schließlich auch er, er wird bezahlt für seine
nützlichen Dienste. Da stellt sich doch eher die Frage, was denn
nun der Witz an diesem Arbeitsvertrag und der Bezahlung des Arbeiters
ist, als die Frage, warum er nicht darüber hinaus mit einem wie
auch immer gearteten Verdienstorden [etwa einem (un)geheuchelten
Dankeschön?] gewürdigt wird. Dafür, daß der Mensch
quasi als Held der Arbeit Zweck der Produktion von Reichtum sei,
dafür steht das Kapital nicht als Mittel zur Verfügung. Wie
sollte es auch? Für einen Weisheitsfreund das Kapital in den
Dienst des Menschen gestellt zu sehen, zeugt zwar von dessen Esprit,
gleichzeitig allerdings von satter Sottise.
Fehlt nur noch, das Kapital in den Dienst einer
Volksgemeinschaft zu stellen, dann wären wir bei faschistischer
Ideologie angelangt, welche die Klassen gleichermaßen als Mittel
zum Wohl der Nation betrachtet und entsprechend in ihren Dienst nimmt.
Die kritisiert ja, daß das Kapital in der Demokratie
allherrschender Zweck ist, statt dem staatlichen Zweck untergeordnet;
kurz ausgedrückt: Am Kapital paßt dem Faschisten nicht,
daß es international, in großem Ausmaß am Staat - an der auch moralisch höchsten Autorität - vorbei, agiert.
So geht denn auch ein Filosof allenthalben eher nach
rechts als nach links, da mag er mit Marx noch so kokettieren. Der
französische wie deutsche Esprit ist in seinem affirmativen Gehalt
übrigens sowieso nichts als ein Abfallprodukt erzkapitalistischer Verhältnisse. Womit zum guten Schluß auch noch Sèves Frage nach dem "ethischen Versagen" beantwortet wäre.
(05.01.09)
** im folgenden dreht es sich um den Artikel "Der Mensch als Mittel zu fremden Zwecken – Eine Wiederbegegnung mit Karl Marx" des französischen Filosofen Lucien Sève [le monde diplomatique, Dezember 2008]. Er ist Autor des Buches "Penser avec Marx aujourd'hui" [Denken mit Marx heute], Band 2 der Reihe "L'homme?" [Der Mensch?], Paris, 2008
