Wie ein Freund der Weisheit Marx in den moralischen Morast zieht 

Norbert Naßl _ MarxEin Filosof, ein Freund der Weisheit also, ist bei weitem nicht mit einem Freund von Wissen zu verwechseln. Im Gegensatz zu dem zieht er das Verlangen nach der Schlichtheit eines Gedankens vor und so ist denn dessen sachliche Richtig- wie logische Stimmigkeit meist rein zufälliger Art, wenn überhaupt. So lag die taz beispielsweise semantisch schief, als sie am 29.12.08 auf Seite 1 ihren Hinweis auf einen Artikel über Marx' Kapitalanalyse mit "Alte Weisheit" titulierte. Aber das nur nebenbei.

Kein Wunder ist es jedenfalls, wenn manchem Weisheitsfreund** dessen Entfremdungsbegriff so gut gefällt. Der ist in seiner moralischen Kompatibilität einfach zu schön, ein schlichtes Gemüt nicht zu begeistern.
Sève gehört zu denen, die glauben, man hätte die (Finanz-)Krise verhindern können, ohne das Quidproquo des Kapitals zu beeinträchtigen. Ganz abgesehen davon, daß auch Gewerkschaften und sozialdemokratische Linke sowieso nichts anderes wollen als den Erfolg des Kapitals, so daß es vollkommen abwegig ist, wie unser Weisheitsfreund daran zu denken, ausgerechnet die hätten die Krise wie auch immer -  hätten sie sich besser aufgestellt oder auch mal an Marx gedacht - verhindern können. So gesehen, Erhalt und Rettung des Systems im Auge, liegt es einem fern, sich über die Gründe der Krise ernsthafte Gedanken zu machen. Wie sollte er auch, macht er ja allein "die Tiefe der Krise" zum Anliegen seiner Überlegungen. Wie käme er denn bei der Forschung nach den Gründen auch auf die Ausgangsprämisse, den Erhalt des Systems, zurück, eines Systems, das er an sich offenbar für gar nicht so ungenießbar einschätzt? Was er wie viele andere doch sagen will, ist, daß das System fehlerhaft sei, aber keineswegs selbst der Fehler. Für letzteres bräuchte er Gründe – und sie wären bei Marx zu finden –, für die Suche nach Fehlern wäre er mit einem Handbuch über Manager-Verantwortung tatsächlich besser beraten. Ist etwa sein Buch "Denken mit Marx heute" für jenes Klientel gedacht?

Woran denkt nun der Freund der Weisheit, wenn er doch Marx partout nicht auslassen zu können glaubt. Kann er Marx' Analyse noch etwas anderes entnehmen als die gewissermaßen anthropologische "Weisheit", die Entfremdung des Menschen, entdeckt zu haben. Die neue Anthropologie, die Sève fordert, umschließt ja nicht nur die von ihm erwähnten materialistischen und moralischen Aspekte der "Entfremdung", sondern verleiht ihr gleichzeitig die höhere Weihe menschlich-allzumenschlichen Schicksals. Dafür möchte er Marx mit dessen Hinweis, daß ein Individuum "Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse" sei, also, so Sève, eine historische Dimension habe [wörtlich: "Der Mensch ist also, anders als die liberale Lehre des Individualismus will, das Produkt einer historischen Entwicklung"], anzapfen. So räumt er Marx eine durchaus systemrelevante Zusatz-Funktion ein. Er ist nämlich nicht einfach mit der vom System angebotenen Kritik zufrieden, kann es nicht sein, so sehr er möchte, denn die Verwerfungen der Krise zwingen ihn gerade dazu:
"Natürlich haben auch die mangelnde Regulierung der Finanzmärkte, das unterentwickelte Verantwortungsgefühl von Unternehmern und Managern und die defizitäre Moral der Börsianer zu der Krise beigetragen. Aber wir müssen viel weitergehen und – ohne Denkverbote – das eifersüchtig gehütete ideologische Selbstbild von einem über jeden Verdacht erhabene System infrage stellen. Wir müssen also neu über die 'letzten' Ursachen jenes Prozesses nachdenken, den Marx das »allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation« genannt hat."
Sehen wir einmal von der immer wieder zu beobachtenden, frappanten Logik der "Erklärung" eines Sachverhalts ab, er sei darauf zurückzuführen, daß etwas nicht bzw. nicht genügend vorhanden sei, wenden wir uns also schnell seiner Suche nach den "letzten" Ursachen zu, nachdem die vorletzten das System selber ja schon so toll und offenherzig zutage gefördert hat. Nach Meinung des Weisheitsfreundes sei die Krise "zwar in der Kreditsfäre entstanden, aber ihre zerstörerische Macht hatte sich schon in der Sfäre der Produktion herausgebildet, in der die ungleiche Aufteilung des Mehrwerts zwischen Arbeit und Kapital ihren Ursprung hat."
Zunächst einmal führt er eine Gegenüberstellung ein, die die Frage, was die eine Sfäre mit dem anderen zu tun hat, eben so, in diesem obskur bleibenden Gegensatz, mit Verweis auf ein "ungleiches" Resultat erschlagen soll. Dieses wähnt er, obzwar nicht näher erläutert, in der Unterstellung, der Mehrwert wäre etwas zwischen Arbeit und Kapital Aufzuteilendes. Hätte er wenigstens behauptet, daß ein Teil des Mehrwerts des produktiven Kapitals den Banken vorbehalten ist, nämlich für ihren Dienst, der Zur-Verfügung-Stellung von Kredit, dann hätte er wenigstens zurecht behaupten können, »Das Kapital« nicht nur zur Hand gehabt, sondern auch studiert zu haben. Dort könnte er auch erfahren, daß der Mehrwert der Teil der Ware Arbeitskraft - bei der Erniedrigung der Arbeitskraft zur Ware erschauderte der Filosof! - ist, der, obschon aufs Produkt übertragen, grundsätzlich aber nicht entlohnt wird und mithin die Grundlage des Profits darstellt. Wer der Meinung ist, - reichlich nebulöse - "zerstörerische Mächte" würden sich erst dann voll entfalten, wenn eine Krise eine gewisse Tiefe erreicht habe, der hingegen kann die Erklärung des Mehrwerts natürlich locker vernachlässigen und über an- und vorgebliche Ungerechtigkeiten des Lohnsystems lamentieren.

Seine eigene Leitlinie, Moral überall entweder zu entdecken oder zu vermissen, verstellt ihm konsequent den Blick auf eine objektive Beurteilung der Sache. So wirft er zu Kapital und Krise auch noch einen Kant in die Debatte:
"Die menschliche Tätigkeit wird in der Aneignung durch das Kapital nicht in ihrem nützlichen Charakter anerkannt, sie gilt vielmehr nur als Mittel zu fremden Zwecken. Man muß nicht Kant gelesen haben [wohl ebensowenig wie Marx!], um in dieser Verkehrung von Mittel und Zweck den tieferen, fortdauernden Grund für die Amoralität des ganzen Systems zu erkennen."
Der Arbeiter wird anerkannt; einen Arbeitsvertrag unterschreibt schließlich auch er, er wird bezahlt für seine nützlichen Dienste. Da stellt sich doch eher die Frage, was denn nun der Witz an diesem Arbeitsvertrag und der Bezahlung des Arbeiters ist, als die Frage, warum er nicht darüber hinaus mit einem wie auch immer gearteten Verdienstorden [etwa einem (un)geheuchelten Dankeschön?] gewürdigt wird. Dafür, daß der Mensch quasi als Held der Arbeit Zweck der Produktion von Reichtum sei, dafür steht das Kapital nicht als Mittel zur Verfügung. Wie sollte es auch? Für einen Weisheitsfreund das Kapital in den Dienst des Menschen gestellt zu sehen, zeugt zwar von dessen Esprit, gleichzeitig allerdings von satter Sottise.
Fehlt nur noch, das Kapital in den Dienst einer Volksgemeinschaft zu stellen, dann wären wir bei faschistischer Ideologie angelangt, welche die Klassen gleichermaßen als Mittel zum Wohl der Nation betrachtet und entsprechend in ihren Dienst nimmt. Die kritisiert ja, daß das Kapital in der Demokratie allherrschender Zweck ist, statt dem staatlichen Zweck untergeordnet; kurz ausgedrückt: Am Kapital paßt dem Faschisten nicht, daß es international, in großem Ausmaß am Staat - an der auch moralisch höchsten Autorität - vorbei, agiert.
So geht denn auch ein Filosof allenthalben eher nach rechts als nach links, da mag er mit Marx noch so kokettieren. Der französische wie deutsche Esprit ist in seinem affirmativen Gehalt übrigens sowieso nichts als ein Abfallprodukt erzkapitalistischer Verhältnisse. Womit zum guten Schluß auch noch Sèves Frage nach dem "ethischen Versagen" beantwortet wäre.
(05.01.09)

** im folgenden dreht es sich um den Artikel "Der Mensch als Mittel zu fremden Zwecken – Eine Wiederbegegnung mit Karl Marx" des französischen Filosofen Lucien Sève [le monde diplomatique, Dezember 2008]. Er ist Autor des Buches "Penser avec Marx aujourd'hui" [Denken mit Marx heute], Band 2 der Reihe "L'homme?" [Der Mensch?], Paris, 2008