Hans-Jürgen Hinzer (NGG):
»Man muß sich doch wehren!«
Die
deutschen Gewerkschaften und ihr Dachverband, der DGB, gehören
zwar einem internationalen Verbund an, der International Labour
Organization ILO, was aber nicht dahin mißzuverstehen ist,
daß sie etwas von dem hielten, was Altlinke einmal unter der
Forderung nach »internationaler Solidarität« für
wünschenswert hielten, geschweige denn damit, sich das
Verhältnis von Industriestaaten und
»Entwicklungsländern« – die von den
maßgeblichen Stellen der nördlichen Welt als nichts anderes
als eben als das betrachtet werden, wofür sie vorgesehen sind, als
Rohstofflieferanten nämlich – vor Augen zu führen, ein
äußerst produktives Verhältnis für die Profiteure,
die Industriestaaten und ihre Wirtschaft. Gleichzeitig die Grundlage
dauernder Armut dort; Wirtschaftsideologen nennen es
»strukturelle Armut« und dementieren damit deren
Notwendigkeit, eine Notwendigkeit aufgrund der herrschenden, für
unumstößlich affirmierten Interessenslage der Profiteure.
Warum die Gewerkschaften davon nichts wissen wollen, liegt auf der Hand:
Als Verwalter des menschlichen Rohstoffes Arbeit stellen die deutschen Gewerkschaften die Abhängigkeit
dieses Rohstoffes von ihrer profitablen Benutzung nicht in Frage, insofern sie sie ja in
ihrer ihr angemessen erscheinenden Form und ausreichender Menge zur Verfügung
stellen wollen, den Rohstoff Arbeitskraft also ebenso profitabel wie anwendungsfähig erhalten will.
Es ist nur konsequent, daß sie, wenn die deutsche Gewerkschaften
an der so profitablen Herstellung von Reichtum auf nationaler Ebene
interessiert sind, sie nicht minder ein Interesse haben, daß die
internationalen Bedingungen – und dazu gehören die anderen
Rohstoffe – dafür stimmen. Und da liegt ihnen, neben aller
eher filosofischen Sorge um die »Weltwirtschaft« und deren
Konjunktur eben die »eigene« Nation am nächsten.
Soviel Prioritätensetzung der Arbeiterklasse, deren Vertretung
sie sich anmaßt zu sein, klar zu machen, ist nicht weiter schwer,
denn da rennt sie beim Staat und dessen Protagonisten sowieso offene
Türen ein. Dafür bekommt sie einen gemütlichen Platz in
der Republik und ihre Anführer immer wieder mal ein Interview in
den staatlichen wie in den privaten Massenmedien. Die Gewerkschaften
nehmen dies für einen Ausweis ihrer allgemeingültigen
nationalen Interessen und ihrer Verantwortung darob. Denen hat sich
alles unterzuordnen. So wie ja die Gewerkschaften schlechthin ein
Vorbild an Ein- und Unterordnung zu sein pflegen!
So ist es also nicht verwunderlich, daß die deutschen Gewerkschaften
etwa der griechischen
Arbeiterklasse
wie überhaupt den Arbeiterklassen anderer Staaten nicht eine Bohne
Solidarität erweisen. Da können Leute buchstäblich
verrecken, weil die BRD es vorzieht, über Leichen zu gehen, die
deutschen Gewerkschaften zucken nicht mit der Wimper, im Gegenteil, sie
stärken den amtierenden Sachwaltern des Staates den Rücken
und fordern die Durchsetzung dieses EU-Verarmungsprogramms zugunsten
des deutsch-imperialistischen Euro-Projekts und den daran nicht
schlecht verdienenden Banken, die – nach Meinung des DGB –
keinesfalls in den Konkurs getrieben werden sollen, schließlich
ist davon der Fortgang der Lohnarbeit keineswegs unabhängig.
Angesichts dieser per se antisolidarischen Haltung des DGB mutet es
schon sehr, sehr merkwürdig an, wenn sich dieser Vertreterklub von
Lohnarbeit bzw. eine seiner Unterorganisationen – in diesem Falle
die kleine Gewerkschaft Erziehung & Wissenschaft (GEW) – eine
aufrührerische Studentin aus Chile einlädt. Diese —
Camila Vallejo – ist natürlich nicht so blöd, zu
merken, warum ihr die Blumen zufliegen, seit dem sie vom Guardian
zur Person des Jahres 2011 gekürt wurde. Sie wollte deshalb nicht
allein reisen und nahm zwei Kampfgefährten mit, Karol Cariola und
Jorge Murúa. Jene beiden sind vielen Gazetten hierzulande keiner
namentlichen Erwähnung wert gewesen, unter anderem unserer so
beliebten AZ. Diese zog es natürlich auch vor, mit einem der hiesigen Betreuer
der drei, einem Aktiven der Gewerkschaft
Nahrung-Genuß-Gaststätten (NGG), ein Interview zu
führen. Das kommt nämlich der ideologischen Einordnung
zugute, denn, das weiß die AZ, die drei halten Kommunismus für angesagt. Das heißt natürlich: Gefahrstufe numéro uno.
Und der Gewerkschaftsmann namens Hinzer wird dem auch gerecht.
Zunächst versucht er den gewaltigen Andrang zu den Veranstaltungen
verständlich zu machen, wo doch Kommunismus sowas von out ist:
"Die Älteren [Besucher] können sich noch an
Salvador Allende, den früheren Präsidenten Chiles, erinnern.
Die Ereignisse damals waren traurig, auch für uns als
Gewerkschaften. Wenn die Veranstaltungen jetzt auf so großes
Interesse stoßen, ist das Ausdruck einer Solidarität mit den
Chilenen, die bis heute anhält, und dafür, daß
Neoliberalismus keine Rolle mehr spielen darf." (AZ, 06.02.12, daraus auch die weiteren Zitate)
Das ist schön eingeordnet: Der Putsch gegen den demokratisch
gewählten Präsidenten damals hatte etwas demokratisch
Anrüchiges: So weit soll es denn nie kommen, daß Wahlen auf
einen falschen Mann fallen, der dann mit Gewalt beseitigt werden
muß, von der obersten imperialistischen Macht, den USA,
eigenhändig obendrein. Für die deutschen Gewerkschaften war
das schon deshalb tragisch, weil sie konstatieren mußten,
daß ihre chilenischen Gewerkschaftsbrüder versagt haben
mußten. Versagt haben mußten bei der demokratischen
Zurichtung der Arbeiterklasse! Andrerseits konnte man dann den Chilenen
und kann es heute erst recht, das Modell Deutschland vorhalten:
"Sie vergleichen Deutschland mit Chile?
Hinzer: Das ist schwierig. Es geht hier nicht darum, das System
abzuschaffen. Aber auch hier geht es um sichere Arbeitsplätze. Die
Zahl der prekären Arbeitsplätze bei uns nimmt zu."
Das ist schön gesagt: In Chile gibt es also den wirklich
üblen Neoliberalismus (von Kapitalismus zu sprechen weigert sich
ein Gewerkschaftsmann sehr gerne). Und hier gibt es ihn zwar auch, aber
nicht so schlimm, also zumindest stehen da noch die deutschen
Gewerkschaften – zur Verhinderung des »Neo« –
davor.
"Camila, Karol und Jorge nehmen zum Beispiel begehrt zur
Kenntnis, welche Rechte sich deutsche Arbeiter erkämpft haben.
Dazu muß man wissen: Die chilenischen Gewerkschaften sind am
Boden."
So wird die erwähnte internationale Vorbildfunktion der deutschen
Gewerkschaften ins Spiel gebracht! Mit der bekannten Rechtfertigung der
deutschen Gewerkschaften: Sie schmücken sich mit Kämpfen, die
sie nicht geführt haben, und von denen der letzte
erwähnenswerte 1918/19 –
er brachte die demokratische Institutionalisierung einer
Arbeitervertretung (faktisch ein Erfolg für die Gewerkschaften,
aber nicht für die Arbeiterklasse) – schon so lange
zurückliegt, daß es schon makaber ist, angesichts der
heutigen Verhältnisse daran zu erinnern. Immerhin waren damals die
Streiks noch Streiks und setzten sich, um Erfolg zu haben, über
die bestehende Rechtsordnung hinweg. Etwas, was ein
Funktionärsverein wie der DGB scheut wie der Teufel das
Weihwasser. Ganz zu schweigen davon, daß er auch Streiks im
Rahmen der Rechtsordnung scheut, sie kosten seiner
Funktionärskasse ja bare Mitgliedergelder!
Die Vorbildfunktion, die sich die deutschen Gewerkschaften auf
internationalem Parkett herausnehmen wollen, wäre nichts, ohne
sich im Inland als Wächter der Demokratie schlechthin hinzustellen:
"Der FDP unterstelle ich, daß sie Neoliberalismus der
schlimmsten Form haben will. Aber das gibt's auch in anderen Parteien,
deswegen bin ich aus der SPD ausgetreten. Denken sie nur an Hartz IV
oder Leiharbeit. Wir als Gewerkschaften müssen viel stärker
regierungunabhängig bleiben."
Wer kann das schon wollen, Neoliberalismus in schlimmer und schlimmster
Form? Da braucht es schon ein Korrektiv zur Regierung, die jenen
Bösen offenkundig schon wollen kann, und zwar
parteiübergreifend! Insofern kann sich ein Hinzer durchaus
vorstellen, auch von den chilenischen Massen lernen zu können:
"Wie man Massen mithilfe sozialer Netzwerke und anderer neuer
Formen mobilisiert. Ich will mir das vor Ort in Chile ansehen. Wir
können voneinander lernen."
Das ist nämlich ganz easy. Man muß nur über den Zweck
der Demonstrationen hinwegsehen und so tun, als wäre die Massen
auch für ein ganz anderes Programm, also z.B. das der DGB-Vereine
zu begeistern, wenn man nur richtig »mobilisiert«.
Die deutschen Gewerkschaften wollen also psychologische Tricks
bei den chilenischen Kommunisten lernen! Daß das nicht die ganze
Wahrheit sein kann, ist dann auch dem AZ-Fragesteller aufgefallen:
"Was können Sie von Camila lernen?
Hinzer: Daß man den Sozialstaat vehement verteidigen muß. Man muß sich doch wehren!"
Nun wird in Chile überhaupt kein Sozialstaat verteidigt. Wie
sollten also deutsche Gewerkschaften eben das von Camila und Genossen
lernen? Hinzer überführt sich so selber einer
Gewerkschaftslüge. Es ist doch in Wahrheit so, daß sie der
chilenischen Arbeiterklasse beibiegen will, wie Demokratie und
Sozialstaat gehen, damit sie nicht mehr von Kommunismus zu reden
brauchen!
Das ist ein höchst ehrenwertes Anliegen. Und dafür darf man, ja kann es gar notwendig sein, Kommunisten einzuladen und mit ihnen zu talken.
Natürlich braucht man dazu von Chile und seiner politischen
Ökonomie nicht viel Ahnung zu haben. Vielleicht genügt ja
eine hier kursierende Darstellung: "Chile gilt als stabile,
konsolidierte Demokratie. Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der
Justiz und Rechtsstaatlichkeit sind gewährleistet; Bürger-
und Freiheitsrechte werden auf einem Niveau garantiert, das
westeuropäischen Standards entspricht." (Außenwirtschaft 5/2009)
Was natürlich schon bemerkenswert ist, zumal in der gleichen
Ausgabe steht, woraus die Ökonomie des Landes besteht. Erstens:
Kupfer, zweitens: Kupfer, drittens: Kupfer, viertens: Salz und daneben
noch einige landwirtschaftliche Produkte wie Walnüsse und
(Billig-)Weine. Also alles Zeug, was »wir« gut brauchen
können! Dafür genießt Chile Kredit, jedenfalls solange
nicht Kommunisten wie Salvador und Camila das Ruder übernehmen!
Das zu verhindern, das machen sich die deutschen Gewerkschaften als
ihren Beitrag zur »internationalen Solidarität«
anheischig.
(20.02.12)
