Wie kriegt die IG Metall Lohnverzicht für "Beschäftigungssicherung" und
Stärkung der "Massenkaufkraft" unter einen Hut?

Immer häufiger schließt die IG Metall auf Unternehmensebene Vereinbarungen ab, mit denen Flächentarifverträge nach unten "geöffnet" werden. In ihnen werden – wie z. B. im Januar bei Philips
Semiconductors in Böblingen – den Unternehmensleitungen das Recht zugestanden, die Arbeitszeit unbezahlt zu verlängern und bereits vereinbarte Lohnbestandteile zu streichen. Die Unternehmen versprechen, dafür die Arbeitsplätze zu sichern – eine leere Versprechung, auf die sich die Unternehmen
auch überhaupt nicht verpflichten lassen. Denn sie verzichten auf "betriebsbedingte Beendigungskündigungen" nur unter dem Vorbehalt, daß nicht "wesentliche Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen oder des Marktumfeldes, erhebliche Auftragsrückgänge oder eine deutliche Unterauslastung der Kapazitäten [eintreten], die eine erhebliche Personalanpassung oder die Aufgabe betrieblicher Organisationseinheiten erfordern." (Tarifvertrag vom 12.01.2005 für den Standort Böblingen zwischen Philips Semiconductors GmbH und IG Metall Bezirksleitung B-W)
Philips und all die anderen Unternehmen, die auf diese Art "Beschäftigung sichern", garantieren also nur eines: Die Beschäftigten haben länger zu arbeiten und kriegen weniger Lohn! Ob die bestehenden
Arbeitsplätze damit sicher sind, ganz zu schweigen von der Schaffung neuer Arbeitsplätze, hängt ganz davon ab, ob und wie die Gewinnkalkulationen des jeweiligen Unternehmens aufgehen.
Umgekehrt ist den Beschäftigten damit nicht die Beschäftigung gesichert, sondern ein doppelter Schaden:
Erstens verlieren diejenigen, deren Beschäftigung so "gesichert" wird, erst einmal garantiert etwas,
nämlich Einkommen. Sie können sich also manches nicht mehr leisten, was sie mit dem bisherigen
Lohn kaufen konnten.
  Zweitens müssen sie ohne zusätzliches Entgelt länger arbeiten. Damit haben sie weniger Zeit für
sich, das Unternehmen aber bekommt für dieselbe Lohnsumme mehr Arbeit, braucht also für einen
höheren Umsatz keine neuen Arbeiter einzustellen und senkt auf diese Weise den Lohn pro Stunde.
Mit der gelungenen Erpressung – längere Arbeitszeiten oder Standortschließung – hat das Unternehmen
alle Voraussetzungen dafür geschaffen, je nach Marktlage frei und auf Kosten seiner Belegschaft
zu kalkulieren. Denn die Verlängerung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich, kombiniert mit Lohnsenkung, fällt auf die Beschäftigten als doppelter Bumerang zurück: Das Unternehmen hat mit den eingesparten Löhnen zusätzliche finanzielle Mittel, die Arbeitsproduktivität zu steigern. Allein dadurch schafft das Unternehmen die Voraussetzung dafür, daß bald schon wieder eine Reihe von Arbeitern "zu viel" ist. Und warum sollte Philips ab 2008 auf die jetzt zugestandene kostenlose "Erweiterung der Arbeitszeit" verzichten, wenn es im Dezember 2007 sein "Angebot" von Januar 2005 von einer Position der Stärke aus erneuern kann: "Beschäftigungssicherung" durch Umwandlung der (bis Ende 2007) "zeitlich befristeten Erweiterung der Arbeitszeit" in einen Dauerzustand.
Wie es die durch beide Maßnahmen – Erhöhung der Produktivität und Verlängerung der Arbeitszeit
– überflüssig werdenden Arbeiter los werden kann, steht ja schon in der Vereinbarung: Entweder mit "betriebsbedingten Beendigungskündigungen", wenn sich die "wirtschaftlichen Rahmenbedingungen oder das Marktumfeld …" (siehe oben) "wesentlich" geändert haben oder mit den seit Jahren erprobten Techniken der "Personalanpassung" unterhalb der Schwelle betriebsbedingter Kündigungen.

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Es kann ja sein, daß sich die Belegschaft eines einzelnen Standorts wie Philips Semiconductors Böblingen derartigen Erpressungen infolge der Konkurrenz, die die Kapitaleigner mit ihnen veranstalten, wehrlos ausgesetzt sieht. Oder daß es den Beschäftigten "„einleuchtet", daß ihr Lebensunterhalt alternativlos von den Gewinnkalkulationen der Gegenseite abhängt. Diese wie viele anderen ähnlichen Vereinbarungen wurde aber nicht von der Belegschaft abgeschlossen, sondern von der IG Metall. Und die wußte in vergangenen Tarifrunden noch Argumente gegen das Scheingeschäft 'Lohnverzicht sichert Beschäftigung':
"Die zurückliegenden Jahre zeigen, dass Zugeständnisse bei Tarifabschlüssen nicht zum Aufbau
von Arbeitsplätzen geführt haben. [...] Der im Tarifabschluss 2000 für Beschäftigungsaufbau 'reservierte'
Produktivitätszuwachs wurde von den Arbeitgebern nicht annähernd zugunsten neuer Arbeitsplätze
ausgeschöpft, sondern zur Steigerung der Gewinne verwendet." (Erklärung der Großen Tarifkommission
der IG Metall vom 17. Januar 2002)

Sobald die IG Metall aber auf Unternehmensebene mit der Forderung konfrontiert wird, sie solle
"zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit" Arbeitszeitverlängerungen und Lohnverzicht zustimmen,
dann tut sie es – wenn nur die Gegenseite zugesteht, in der geforderten Vereinbarung auch noch vage die "Sicherung der Arbeitsplätze" zu versprechen. Anders als die einzelnen Belegschaften ist sie als Gewerkschaft aber nicht so einfach durch die Konkurrenz der Unternehmen und der Einzelbetriebe zu erpressen. Als Organisation wesentlicher Teile der Belegschaften der ganzen Branche könnte sie auf der Einhaltung der Tarifverträge bestehen, die sie gegen die Unternehmer der ganzen Branche erstreiten konnte. Wenn sie es nicht tut, dann muß der Grund darin liegen, daß sie sich als Vertreterin des deutschen Teils der europäischen Metallarbeiter versteht. Deren Wohl und Wehe sieht sie abhängig vom Gedeihen des deutschen Standorts, also davon, daß die Unternehmen von diesem Standort aus den Konkurrenten auf dem Weltmarkt auch künftig überlegen sind. Deshalb hat sie für die Konkurrenz-"Nöte" deutscher Unternehmen, auch weiterhin den Weltmarkt zu dominieren und sich dadurch ihre Gewinne zu sichern, ein offenes Ohr. Wenn die ihr mit "Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit" kommen, dann meinen sie Sicherung ihrer Überlegenheit über ihre "Wettbewerber".
Und weil die IG Metall die Existenz der von ihr Vertretenen davon abhängig macht, läßt sie sich auf Vereinbarungen ein, die mit dem Irrsinn der Lage von Lohnabhängigen Ernst machen: Weil deren Lebensunterhalt und die Zeit, die sie für sich haben, vom Gewinn ihrer Arbeit"geber" abhängen, opfern sie für diesen genau immer mehr von dem auf, wofür sie arbeiten: Einkommen und Freizeit. Es ist daher kein Wunder, daß die IG Metall auf diese Weise auch ihr Hauptargument für Lohnerhöhungen – Erhöhung der Massenkaufkraft – aus dem Verkehr zieht:
"Schluß mit der Debatte, Lohnverzicht schaffe Arbeitsplätze! Mehr Kaufkraft bedeutet höhere
Nachfrage, und das wiederum kurbelt die Produktivität und somit auch den Arbeitsmarkt an," sagte in
der Metalltarifrunde 2001 der damalige Tarifexperte der IG Metall Jürgen Peters, mittlerweile Erster
Vorsitzender. Und der damalige Erste Vorsitzende Zwickel betonte:"Die lahmende Binnenkonjunktur
muß angekurbelt werden. Dazu müssen und wollen wir mit unserer Tarifpolitik einen Beitrag leisten."
(IG Metall-Pressedienste 146/2001)
Was die IG Metall seither auf betrieblicher Ebene ausgehandelt hat, ist das genaue Gegenteil von beidem. Die Vereinbarung mit Philips Semiconductors in Böblingen "zur Sicherung der Arbeitsplätze am Standort BB" ist die Fortsetzung nicht der Debatte, sondern der langjährigen tarifvertraglichen Praxis, "für Arbeitsplätze" auf Lohn zu verzichten. Und der Lohnverzicht bei Philips und den vielen anderen Unternehmen schafft nicht mehr, sondern weniger Kaufkraft.
Die Parole "Massenkaufkraft kurbelt Binnenkonjunktur an", die die IG Metall in ihrer betrieblichen
Lohnverzichtspraxis längst aufgegeben hat, ist allerdings ohnehin eine ökonomisch falsche Rechtfertigung
für Lohnforderungen. Wenn die Wirtschaft nicht wächst, dann liegt der Grund dafür darin, daß die Unternehmer mehr Waren haben herstellen lassen, als am Markt abzusetzen sind. Insofern wäre jeder Unternehmer durchaus froh, wenn es zusätzliche Kaufkraft gäbe. Wenn andere Unternehmer ihre Lohnabhängigen besser bezahlen würden, dann wäre das für ihn eine feine Sache; er könnte denen dann von seinen Waren mehr verkaufen. Bloß wenn die Gewerkschaft von ihm verlangt, er solle die nötige Kaufkraft selber durch Lohnerhöhung für seine Beschäftigten schaffen, dann tippt er sich ans Hirn: Denn dann könnte er sich seine Produkte gleich selber abkaufen – oder noch besser: sich den Umweg über die Produktion gleich sparen und sein Geld verjubeln.

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Hat sich die Gewerkschaft widersprochen, wenn sie einerseits die Erhöhung der Massenkaufkraft fordert, andererseits jeder Erpressung nachgibt, für die "Erhaltung der Arbeitsplätze" länger zu arbeiten und weniger zu verdienen? Oberflächlich betrachtet mag es so scheinen, aber im Grunde paßt beides durchaus zusammen: Die Einkommenshöhe der Lohnabhängigen, mit dem diese ihre Existenz sichern müssen, ist für die IG Metall nur insoweit gerechtfertigt, wie es als Kaufkraft einen Dienst für die Realisierung der Gewinne tut und dadurch die Wirtschaft ankurbelt. Da es zugleich die Kostenrechnung der Unternehmer belastet, zuckt die IG Metall sofort zurück, wenn diese vorrechnen, daß durch "zu hohe" Löhne ihre "Wettbewerbsfähigkeit", also ihre Überlegenheit auf dem Weltmarkt, gefährdet werden könnte. Daher ist es für die IG Metall leider kein Widerspruch, wenn sie in der Tarifrunde Lohnerhöhungen damit begründet, die Massenkaufkraft müsse gestärkt und dadurch die Binnenkonjunktur angekurbelt werden und wenn sie zwischen den Tarifrunden auf Unternehmens- und Betriebsebene auf Einkommen ihrer Mitglieder, also lauter "Massenkaufkraft", verzichtet, um "Arbeitsplätze zu sichern".

© theo wentzke, 23.02.2005