Entgegen der vorgebrachten Absicht, sie kompatibel zu machen:
Mit Marx ist Gewerkschaftspolitik nicht kompatibel!

 

Am 18.03.2006 gab IG Metall-Funktionär Harald Kolbe in Augsburg eine Einführung in die Politische Ökonomie anhand von Marx' Kapital (MEW 23). Auch wenn es aufgrund der Zeitknappheit nur ein kurzer Abriß sein konnte, bleibt einiges zurechtzurücken.

Kolbe erklärte, daß Marx den Mehrwert aus der unbezahlten Arbeitskraft erklärt, also einem Teil der Arbeitskraft, die in die geschaffenen Produkte eingeht, ihren Wert auf sie überträgt, und die dafür nicht äquivalent bezahlt wird. So weit, so richtig. Merkwürdigerweise jedoch bestand der Marxexeget gleichzeitig darauf, daß die Arbeitskraft zu ihrem Wert und nicht, wie Marx beweist, unter ihrem Wert bezahlt wird, denn der "Tausch"-Wert der Arbeitskraft bestünde lediglich in ihren Reproduktionskosten und die seien im Lohn per se enthalten, denn schließlich muß der Arbeiter auch am nächsten Tag zur Arbeit antreten können. Kolbe verwechselt also zwei Dinge - den objektiven Wert der Ware Arbeitskraft, die unter Wert bezahlt wird und unter Wert bezahlt werden muß, und den Lohn, den der Arbeiter für seine Arbeitskraft erhält, der per se variabel ist und in der Tat sein unteres Maß am Reproduktionsminimum hat. Daß der Arbeiter also mehr Wert abliefert, als er in Form des Lohnes vergütet erhält, ja abliefern muß, aufgrund der Tatsache, daß er nichts hat als den Verkauf seiner Arbeitskraft, um seine Existenz zu bestreiten, das macht ihn so erpreßbar von der Seite, die über Reichtum (Kapital) verfügt. Das ist der sachliche Begriff der Ausbeutung - Kolbe hat es geschafft, 4 Stunden darüber kein Wort zu verlieren! Kolbe kam es auf etwas anderes an: Er wollte zeigen, daß jenseits des Lohnes, soweit er auf die Reproduktion beschränkt ist, das Reich der Freiheit beginnt: Das Reich der Freiheit der Verteilung, dem Gezerre um den Reichtum zwischen Arbeitern und Kapital. Und für dieses Gezerre brauche es Gewerkschaften. Das hat er bestimmt nicht aus Marx, das ist auf seinem opportunistischen Mist gewachsen, oder genauer: auf dem Mist eines ML-Lehrbuchs made in GDR.
Der Arbeiter ist per se ausgeschlossen von dem Reichtum, den er produziert, er produziert einen Überfluß an Waren, kann über sie aber gar nicht verfügen, weil er nicht für sich produziert und gleichzeitig unter dem Wert seiner Produkte entlohnt wird; so wird jede größere Anschaffung, wiewohl oft genug notwendig, für ihn notwendigerweise zu einem finanziellen Problem. Gleichzeitig wachsen die Ansprüche des Kapitals aufgrund seiner Konkurrenzsituation und drücken auf die Löhne. Es geht also überhaupt nicht um Verteilung im Kapitalismus. Es geht um die gegensätzlichen Interessen von Klassen. Auf diesen Klassenwiderspruch hinzuweisen, dafür wären 4 Stunden allenthalben ausreichend gewesen, hätte man Marx' Intention und Erklärungen begriffen.

Stattdessen verfertigt Kolbe einen anderen Grundwiderspruch - den zwischen "gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung". Klar: Gesellschaftliche Produktion gut, private Aneignung bäh! Aber was heißt hier eigentlich gesellschaftliche Produktion? Ist nicht private Aneignung das Unterpfand gesellschaftlicher Produktion im Kapitalismus? Ohne Privateigentum kein Reichtum!
Überdeutlich hört man heraus, was dem lieben Ideologen vorschwebt: Ein realsozialistischer Staat, der gesellschaftliche Produktion ohne private oder unter Unterordnung privater Aneignung und unter Berufung auf die Arbeiter als Gebot der Vernunft befehligt:

"Nehmt z. B. irgendeinen wohlmeindenden Bürger und fragt ihn auf sein Gewissen, woran die jetzigen "Eigentumsverhältnisse" laborieren? Und der brave Mann wird seinen Zeigefinger an seine Nasenspitze legen, zweimal tiefen Gedankenatem schöpfen, und sich dann "unmaßgeblich" dahin verlauten lassen, daß es eine Schande ist, daß viele "Nichts", nicht das Notwendigste besitzen, und daß andere, nicht nur zum Schaden der besitzlosen Lumpen, sondern auch ehrbarer Bürgersleute, aristokratisch unverschämte Millionen auftürmen! Area mediocritas! Goldene Mittelmäßigkeit! wird das brave Mitglied der Mittelklasse ausrufen! Daß nur die Extreme zu vermeiden wären! Welche vernünftige Staatsverfassung wäre mit diesen Extremen vereinbar, diesen Extremen, diesen höchst verwerflichen Extremen!" (Karl Marx, Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral, MEW 4, S. 349)

© KoKa Augsburg 19.03.2006