Bossnapping macht Manager mürbe
Neue Formen von Arbeitermilitanz in französischen Betrieben

Die französische Arbeiterbewegung hat in den vergangenen Wochen mit einer speziellen Kampfform Erfolge erzielt: Betriebsdirektoren oder Personalmanager wurden für 24 bis 48 Stunden in ihrem Büro eingesperrt, um angekündigte Entlassungen zu verhindern oder höhere Abfindungen zu erkämpfen. Gut zehn solcher Aktionen haben seit Anfang 2009 stattgefunden. Der von der Presse dafür gefundene Name lautet "Bossnapping" - eine durchaus populäre Aktionsform, die allerdings überbetriebliche Kämpfe und Streiks nicht ersetzen kann.

Die französische satirische Presse hat an den neuen Formen von Betriebsaktionen und Arbeitermilitanz Gefallen gefunden. Schon Anfang April zeichnete die Satire- und Enthüllungszeitung Le Canard enchaîné einen Direktor, der zu Hause neben dem Ehebett in einem Schlafsack übernachtet. Seine Erklärung an die verblüffte Ehefrau: "Ich trainiere schon mal für die Zeit, wenn ich festgesetzt werde!" Inzwischen hat das Satireblatt neue Variationen des Themas gebracht. So sieht man in einer Karikatur mehrere Manager in einem noblen Restaurant, offenbar mit ihren jeweiligen Geliebten, an einer Reihe von Tischen sitzen. Jeder von ihnen hält ein Telefon in der Hand. Aus den Gesprächsfetzen in den Sprechblasen läßt sich entnehmen, daß jeder von ihnen soeben seine Gattin anruft: "Nein, Liebling, ich kann heute Abend nicht nach Hause kommen, ich bin im Büro von wütenden Arbeitern festgesetzt worden!"

Der Vorzug des Bossnappings gegenüber Aktionsformen wie etwa Betriebsbesetzungen, so analysierte kürzlich der britische Guardian in einem Vergleich zwischen zeitgleich in Frankreich und in Großbritannien stattfindenden Betriebskämpfen, liege darin, daß er die Gegenseite zu schnelleren Reaktionen zwinge. Im Gegensatz zu Betriebsbesetzungen (von denen derzeit auf den britischen Inseln sechs zu verzeichnen sind) oder Streiks seien Bossnapping-Aktionen spektakulär genug, um sofort sämtliche Medien auf den Plan zu rufen, Politiker zu Stellungnahmen zu veranlassen und damit auch die Unternehmensleitungen unter Zugzwang zu setzen. "Aussitzen" sei in ihrem Falle, anders als bei Streiks oder (jedenfalls kurzfristig) bei Betriebsbesetzungen, von vornherein nicht möglich. Der hohe "Öffentlichkeitsfaktor", vermittelt durch den spektakulären Charakter und die Medienpräsenz, wirkt dabei als Druckmittel zugunsten der Beschäftigten.

Bossnapping zwingt zu schnellen Reaktionen

Auch das französische konservativ-liberale Wochenmagazin Le Point bescheinigte den neuen Aktionsformen Ende April, sie würden "mitunter ein günstiges Kräfteverhältnis für die abhängig Beschäftigten schaffen". Dabei fällt auf, daß das, was Le Point als prinzipiell sozialen Bewegungen eher feindliches Magazin zum Thema schreibt, immerhin eine rationale Reaktion darstellt. Während die deutsche Presse zum Gutteil außer Rand und Brand ist, keift und geifert, nachdem harmlose sozialdemokratische PolitikerInnen wie Gesine Schwan oder Oskar Lafontaine und der noch harmlosere DGB-Chef Michael Sommer in den letzten Apriltagen einmal etwas von "sozialen Unruhen" murmelten. (vgl. Artikel in dieser ak-Ausgabe)

Allerdings läßt das konservative Wochenmagazin ungefähr zur selben Zeit auch einen Fachanwalt für Arbeitsrecht an prominenter Stelle ausführlich zu Wort kommen, der sich beeilt zu betonen, die "Rädelsführer" bei Festsetz-Aktionen seien "vor einem Geschworenengericht anzuklagen". Dies bedeutet: als Verbrecher, denn in der Dreiteilung der französischen Gerichtsbarkeit (tribunal de police für Ordnungswidrigkeiten, correctionelle für Vergehen und Cour d'assises für Verbrechen) sind Letztgenannte ausschließlich für das Aburteilen von Verbrechen zuständig.

Aber worum geht es bei dem "Bossnapping" überhaupt in der Sache? In der Regel fordern die Beschäftigten höhere Abfindungen, da sie sich gegenüber den seit einiger Zeit anlaufenden und allgemein durch "die Krise" gerechtfertigten Kündigungswellen mit dem Rücken zur Wand und in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht sehen. Mitunter wird auch der Erhalt von Arbeitsplätzen gefordert, der jedoch gegenüber umfassenden Konzernstrategien zur länderübergreifenden "Restrukturierung" der Produktion in der Regel schwerer durchsetzbar ist als finanzielle Forderungen.

Dabei dient die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise den Unternehmen oft als Generalrechtfertigung für Restrukturierungspläne, die etwa die Auslagerung von Produktionsprozessen an "billigere" Standorte beinhalten, die oft schon Jahre vor dem Ausbruch der "Subprime-Krise" ausgearbeitet wurden. Beim Elektronikkonzern Sony, dessen Frankreichdirektor Serge Foucher - als einer der ersten betroffenen Manager im Lande - in der Nacht vom 12. zum 13. März vorübergehend festgesetzt worden war, ging es um die Schließung eines Werks in Pontox-sur-l'Ardour in Südwestfrankreich. Dabei bot der japanische "Mutterkonzern" seinerseits an, einen Käufer für die Übernahme des Werks zu suchen. Das wollten aber in diesem Falle die Beschäftigten und ihre Vertreter nicht: Sie mißtrauten der Sache und vermuteten, Sony gehe es nur darum, kostengünstig aus der Sache herauszukommen. Denn da die Justiz Abfindungszahlungen je nach den finanziellen Möglichkeiten des betreffenden Unternehmens bemißt, wurde vermutet, die Abfindungen würden geringer ausfallen, falls ein weniger finanzkräftiger Übernehmer seinerseits nach einem Jahr Pleite anmelde. Die Lohnabhängigen wollten deswegen lieber gesicherte höhere Abfindungen direkt von Sony einfordern, und bekamen sie auch. Das Werk in Pontox-sur-l'Ardour hat inzwischen seine Tore geschlossen.

Umgekehrt konnten beim Baumaschinenhersteller Caterpillar, wo vier Manager am 31. März und 1. April festgehalten wurden, bislang die drohenden Kündigungen vorläufig verhindert werden. Ursprünglich wollte der US-Konzern an den ostfranzösischen Standorten Grenoble und Echirolles 733 von gut 2.000 Beschäftigten entlassen. Infolge der militanten Aktionen wurde ihre Zahl im "Sozialplan" - der die Entlassungen und die sie begleitenden Abfindungszahlungen regeln soll - auf 620 reduziert, und in Verhandlungen war zwischenzeitlich auch einmal von 450 die Rede. Doch der "Sozialplan" wurde, infolge einer Klage der Beschäftigtenvertreter im Comité d'entreprise (CE, ungefähres Äquivalent zum deutschen "Betriebsrat") durch ein Gericht annulliert. Nun muß also alles neu verhandelt werden.

Im Falle des Automobilzulieferers Molex im südwestfranzösischen Villemur, bei dem zwei Betriebsleiter am 20. und 21. April 26 Stunden lang festgesetzt wurden, wird der betrügerische Charakter der Berufung auf "die aktuelle Krise" besonders offenkundig: Das Unternehmen, das Teile für den Autokonzern Peugeot herstellt, hatte schon seit 2004 die - billigere - Produktion identischer Fabrikate in den USA vorbereitet. Jetzt soll sie die Herstellung am französischen Standort ersetzen. Dabei hat die Firma ihrerseits geltende Gesetze gebrochen: Seit vier Monaten ist eine Klage der Beschäftigtenvertreter anhängig, weil die Informations- und Anhörungsrechte des Comité d'entreprise total mißachtet worden waren.

"Rädelsführer" sollen abgeurteilt werden

Bislang ist über diese Klage nicht entschieden worden, während die Justiz sich beeilte, in Reaktion auf die Bossnapping-Aktion am Abend des 21. April die "Rädelsführer" vorzuladen und mit schweren Strafen wegen "Freiheitsberaubung" zu bedrohen. Die Festsetzaktion bei Molex (die bislang zeitlich letzte, die in Frankreich stattgefunden hat) war im übrigen gleichzeitig die erste, die unter massiven Repressionsdrohungen und ohne handfeste Zugeständnisse an die Lohnabhängigen abgebrochen werden mußte.

Auch das Regierungslager hat unterdessen den Ton verschärft und hält die Justiz zu härterer Gangart an. Auf politischer Ebene beschuldigt die Regierungspartei UMP derzeit öffentlich die radikale Linke, in Gestalt der undogmatischen Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) und der trotzkistischen Partei Lutte Ouvrière (LO, "Arbeiterkampf"), hinter den radikalen Betriebsaktionen zu stecken. Wobei es tatsächlich zutrifft, daß vor allem LO in einigen Betriebskämpfen der letzten Wochen gut verankert war. Nicht so sehr im Falle der Bossnapping-Aktionen, aber etwa unter den Continental-Beschäftigten in Clairoix rund 50 Kilometer nordöstlich von Paris: Die rund 1.200 Arbeiter führen seit Februar einen massiven Streik gegen das drohende Plattmachen des Werks durch (das noch vor zwei Jahren als "Versuchslabor" diente, für eine "freiwillige" Verlängerung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich - unter Androhung des Arbeitsplatzverlustes - und für die Erprobung von Maschinen, die der Konzern jetzt nach Rumänien schafft). Und sie verarbeiteten in der vorletzten Aprilwoche den Sitz der Unterpräfektur - einer Regierungsbehörde - im nahen Compiègne zu Kleinholz, bevor sie am darauf folgenden Tag im Sonderzug zu einer deutsch-französischen Demo vor dem Firmensitz in Hannover aufbrachen. Bei Continental ist einer der wichtigsten "Ratgeber" der Streikführung der regionale LO-Politiker Roland Szpirko, der von 1993 bis 1996 in der Nachbarschaft einen Epoche machenden Abwehrstreik gegen den Arbeitsplatzabbau bzw. für relativ hohe Abfindungen beim Automobilzulieferer Chausson anführte.

Die Behauptung vom "Komplott der extremen Linken" trifft in der Sache so wenig zu wie jede andere These, die ein soziales Fänomen verschwörungstheoretisch zu erklären versucht, da sie von den Voraussetzungen für den sehr realen Zorn der Lohnabhängigen abstrahiert. Mit ihrer Agitation will das Regierungslager nur wieder in die Offensive kommen. Es versucht, nachdem Präsident Sarkozy in einer Programmrede von Mitte April "die (Innere) Sicherheit" anderthalb Monate vor den Europaparlamentswahlen zur absoluten Priorität erhoben hat, eine Polarisierung herbeizuführen und gleichzeitig nach dem Motto "Wir oder das Chaos" die Bevölkerung zu verängstigen. Zugleich sollen Opponenten eingeschüchtert werden. Dazu gehört auch eine Politik der "Null Toleranz" gegen (bestimmte) Erscheinungsformen von Arbeitermilitanz.

Die Regierung wittert ein linksradikales Komplott

Die Lohnabhängigen bei Continental sollen dies in Bälde auch zu spüren bekommen: Nachdem zornige Arbeiter am 20. April die Unterpräfektur von Compiègne zerlegt hatten (voraus ging ein Gerichtsentscheid, der eine Klage der Beschäftigtenvertreter gegen das "Abwickeln" des Werks in Clairoix abschmetterte), tobte Innenministerin Michèle Aliot-Marie vor laufenden Kameras, nunmehr müßten die Beteiligten identifiziert, dingfest gemacht und verurteilt werden. Laut Agenturmeldungen befindet sich die individuelle Identifizierung der Beteiligten, um ihnen den Prozeß zu machen, in vollem Gange.

Und die Sicht der Gesellschaft auf die Aktions- und Kampfformen? Die Bossnapping-Aktionen sind relativ populär oder stoßen zumindest in größeren Bevölkerungsteilen auf Verständnis. Anfang April ergaben die ersten, von führenden Meinungsforschungsinstituten durchgeführten Umfragen ein Meinungsbild von 50 Prozent (keine Sympathie) zu 45 Prozent (Sympathie) bezüglich solcher Aktionen. Zugleich votierten, laut einer Studie für das Regenbogenmagazin Paris Match, nur sieben Prozent für eine "scharfe Verurteilung"; der Rest der Befragten zeigte, sofern keine Sympathie, dann doch Verständnis. Die jüngste Befragung von Mitte April ergab dann, daß nun 55 Prozent ihre "Unterstützung" oder ihre "Sympathie" erklärten. Ihr Anteil ist also höher als noch vor wenigen Wochen.

Allerdings können solche Aktionen, die örtlich begrenzt sind und sich nur auf der Ebene je eines Betriebes oder eines Unternehmens durchführen lassen, eine breitere Solidarität nicht ersetzen. Gewerkschaftliche Aktionen, die über die Betriebsgrenzen hinausreichen, könnten zweifellos noch höheren Druck entwickeln. Das Problem liegt hierbei in der Gewerkschaftsstrategie: Seit Anfang des Jahres fahren die acht Gewerkschaftsdachverbände und -zusammenschlüsse, die ihre Aktionen regelmäßig untereinander abstimmen, insgesamt eine reichlich defensive Strategie. Bislang führten sie gemeinsam drei Demonstrationen durch, bei denen am 29. Januar und 19. März dieses Jahres je über zwei Millionen, am diesjährigen 1. Mai rund eine Million Menschen auf die Straße gingen. Aber diese Mobilisierungserfolge blieben relativ folgenlos: Sie wurden nicht oder kaum durch Streikaufrufe in den Unternehmen begleitet und waren nach einem 24-stündigen "Aktionstag" ohne Fortsetzungsaktionen beendet.

An der Basis der Gewerkschaften erklären inzwischen viele in mehr oder minder ohnmächtigem Zorn, ein folgenloser "Spaziergang alle zwei Monate" werde das soziale Kräfteverhältnis im Lande wohl kaum zugunsten der Lohnabhängigen verändern. Vor diesem Hintergrund kommt es zum starken Auseinanderklaffen der zwei Handlungsebenen: mehr oder weniger "radikale" Aktionen vor Ort in einzelnen Betrieben einerseits, eine in breiten Kreisen als "schlapp" empfundene - breite - Mobilisierung auf nationaler Ebene andererseits. Es bleibt jedoch problematisch, wenn beide "Etagen" zusammenhanglos nebeneinander stehen.

Bernhard Schmid, Paris

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Der Artikel ist erstmalig in der Druckausgabe von Analyse & Kritik Nr. 539, Mai 2009, erschienen,
Online-Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Monatszeitung Analyse und Kritik,
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