"Herr K. hielt es nicht für nötig, in einem bestimmten Lande zu leben. Er sagte: »Ich kann überall hungern.« Eines Tages aber ging er durch eine Stadt, die vom Feind des Landes besetzt war, in dem er lebte. Da kam ihm entgegen ein Offizier dieses Feindes und zwang ihn, vom Bürgersteig herunterzugehen. Herr K. ging herunter und nahm an sich wahr, daß er gegen diesen Mann empört war, und zwar nicht nur gegen diesen Mann, sondern besonders gegen das Land, dem der Mann angehörte, also daß er wünschte, es möchte vom Erdboden vertilgt werden. »Wodurch«, fragte Herr K., »bin ich für diese Minute ein Nationalist geworden? Dadurch, daß ich einem Nationalisten begegnete. Aber darum muß man die Dummheit ja ausrotten, weil sie dumm macht, die ihr begegnen.«
[*]

Herr K. hatte anläßlich einer Frage nach dem Vaterland die Antwort gegeben: »Ich kann überall hungern.« Nun fragte ihn ein genauer Hörer, woher es komme, daß er sage, er hungere, während er doch in Wirklichkeit zu essen habe. Herr K. rechtfertigte sich, indem er sagte: »Wahrscheinlich wollte ich sagen, ich kann überall leben, wenn ich leben will, wo Hunger herrscht. Ich gebe zu, daß es ein großer Unterschied ist, ob ich selber hungere oder ob ich lebe, wo Hunger herrscht. Aber zu meiner Entschuldigung darf ich wohl anführen, daß für mich leben, wo Hunger herrscht, wenn nicht ebenso schlimm wie hungern, so doch wenigstens sehr schlimm ist. Es wäre ja für andere nicht wichtig, wenn ich Hunger hätte, aber es ist wichtig, daß ich dagegen bin, daß Hunger herrscht.«"
(Bertolt Brecht, Gesammelte Werke, Band 12, S. 378  und 379)

[*] Mittlerweile ist der Stand der fänomenalen kapitalistischen Weltordnung weiter fortgeschritten. Und zwar so weit, daß sich nicht der Ruf nach einer »eigenen« nationalen Herrschaft, sondern nach einer erfolgreichen nationalen Herrschaft, wie sie  imperialistische Staaten repräsentieren, gang & gäbe ist. Ob man einer solchen dann hinterherläuft oder ob man eine solche im eigenen Land zu etablieren versucht, insofern eine solche (Statthalter-)Herrschaft (oder eine andere) nicht bereits gescheitert ist, darin besteht dann die großartige Freiheit, die die freie Welt kapitalistischer Räson ihren Insasssen in ihrer Sektion »Dritte Welt« bietet. Die erstere Lösung allerdings ist imperialistischerseits ziemlich unerwünscht, insbesondere dann, wenn die Elenden dann tatsächlich, allen Gefahren trotzend, sich in die gelobten Staaten auf den Weg machen: Sie sollen vorzugsweise am Aufbau einer kapitalistisch brauchbaren Herrschaft in ihrer Heimat (mit)arbeiten.

D.h. natürlich nicht, daß nicht auch noch ganz unmittelbare Besetzungen eines Landes vorkommen. Doch das verstehen die USA als Weltaufsichtmacht Nummer 1 selber nicht mehr als Normalfall (siehe Irak, Syrien, Afghanistan), vielmehr als unerwünschte, aber mitunter unumgängliche Ausnahme von der Regel, nach der es der ortsansässigen Bevölkerung obliegt, eine der US-
Weltordnung kompatible Herrschaft zu installieren bzw. — sollte eine solche schon bestehen — dieser eben zu folgen.

(14.10.13)