FRAGEN AN ISAAC DEUTSCHER*

Könnten Sie zur Einführung Ihre generelle Sicht des israelisch-arabischen Krieges umreißen?


— Der Krieg und das »Wunder« des israelischen Sieges haben meines Erachtens keines der Probleme gelöst, die Israel und die arabischen Staaten miteinander konfrontieren. Sie haben im Gegenteil all die alten Streitigkeiten verschärft und neue, gefährlichere geschaffen. Sie haben Israels Sicherheit nicht erhöht, sondern es verletzlicher gemacht, als es je war. Ich bin überzeugt, daß eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, der jüngste, all zu leichte Triumf der israelischen Waffen verstanden werden wird als in erster Linie ein Unglück für Israel selbst.

Betrachten wir den internationalen Hintergrund der Ereignisse. Wir müssen diesen Krieg einordnen in den weltweiten Machtkampf und die ideologischen Auseinandersetzungen, die den Kontext bilden. In diesen letzten Jahren war der amerikanische Imperialismus und die mit ihm verbündeten und von ihm unterstützten Kräfte beschäftigt mit einer ungeheuren politischen, ideologischen, wirtschaftlichen und militärischen Offensive in weiten Gebieten Asiens und Afrikas; während die sich ihnen widersetzenden Kräfte, in erster Linie die Sowjetunion, mühsam ihren Platz behaupteten oder sich im Rückzug befanden.

Dieser Trend ergibt sich aus einer langen Kette von Ereignissen: der ghanesischen Erhebung, in der Nkrumahs Regierung gestürzt wurde; der wachsenden Reaktion in verschiedenen afro-asiatischen Ländern; dem blutigen Triumf des Antikommunismus in Indonesien, der für die Konterrevolution in Asien einen großen Sieg bedeutete; der Eskalation des amerikanischen Kriegs in Vietnam; und der »Randerscheinung« des rechten Militärputsches in Griechenland. Der arabisch-israelische Krieg war keine vereinzelte Affäre; er gehört zu dieser Kategorie von Ereignissen.

Die gegenläufige Bewegung fand ihren Ausdruck in revolutionären Gärungserscheinungen in verschiedenen Teilen Indiens, in der Radikalisierung der politischen Stimmung in arabischen Ländern, dem wirksamen Kampf der Nationalen Befreiungsfront in Vietnam und dem weltweiten Anschwellen der Opposition gegen amerikanische Intervention. Das Vorrücken des amerikanischen Imperialismus und der afro-asiatischen Konterrevolution vollzog sich nicht ohne Widerstand, doch war überall außer in Vietnam sein Erfolg offensichtlich.

Im Nahen Osten ist der amerikanische Vorstoß relativ jungen Datums. Während des Suez-Kriegs (1956) nahmen die Vereinigten Staaten noch einen 
»antikolonialistischen« Standpunkt ein. Sie arbeiteten, anscheinend in Übereinstimmung mit der Sowjetunion, auf den Rückzug der Briten und Franzosen hin. Die Logik der amerikanischen Politik war noch dieselbe wie in den späten Vierziger Jahren, als der Staat Israel entstand. Solange die herrschende Klasse Amerikas in erster Linie daran interessiert war, die alten Kolonialmächte aus Afrika und Asien zu vertreiben, war das Weiße Haus die Hochburg des »Antikolonialismus«. Doch nachdem sie zum Zusammenbruch der alten Reiche beigetragen hatten, bekamen die Vereinigten Staaten Angst vor dem »Kräfte-Vakuum«, das von einheimischen revolutionären Kräften oder der Sowjetunion oder einem Bündnis beider ausgefüllt werden könnte. Der Antikolonialismus der Yankees nahm ein Ende und Amerika »trat auf den Plan«. Im Nahen Osten geschah dies in der Periode zwischen der Suez-Krise und dem jüngsten israelischen Krieg. Die amerikanischen Landungen im Libanon 1958 hatten zum Ziel, eine revolutionäre Strömung in diesem Gebiet einzudämmen, vor allem im Irak. Seitdem haben die Vereinigten Staaten — da sie bis zu einem gewissen Grad zweifellos auf sowjetische »Mäßigung« bauten — offene und direkte militärische Einmischung im Nahen Osten vermieden und sich betont abseits gehalten. Das nimmt der amerikanischen Anwesenheit nichts von ihrer Realität.

Wie würden Sie in diese Perspektive die Politik Israels einordnen?

— Die Israelis haben natürlich aus eigenen Motiven heraus gehandelt und nicht allein in dem Bestreben, sich der amerikanischen Politik anzupassen. Daß die große Masse der Israelis selber glaubt, von arabischer Feindseligkeit bedroht zu sein, steht außer Zweifel. Daß einige 
»blutrünstige« arabische Deklarationen, »Israel von der Landkarte fegen zu wollen«, den Israelis Gänsehaut bereiten, ist offensichtlich. Heimgesucht von den Erinnerungen an die jüdische Tragödie in Europa, fühlen die Israelis sich isoliert und umzingelt durch die »wimmelnden« Millionen einer feindlichen arabischen Welt. Nichts war leichter für ihre eigenen Propagandisten, als mit Hilfe der arabischen Verbaldrohung die Angst vor einer neuen »Endlösung« hochzuspielen, welche den Juden diesmal in Asien drohe. Biblische Mythen und all die alten religiös-nationalen Symbole der jüdischen Geschichte beschwörend, peitschten die Propagandisten jenen Wahnsinn aus Kampfeslust, Arroganz und Fanatismus auf, von dem die Israelis so aufregende Beispiele lieferten, als sie zum Sinai und den Klagemauern vorstießen, nach Jordanien und zu den Mauern Jerichos.

Hinter dem Wahnsinn und der Arroganz steckt Israels unterdrücktes Schuldbewußtsein den Arabern gegenüber, das Gefühl, daß die Araber die Schläge niemals vergessen oder vergeben werden, die Israel ihnen zufügte: Besitznahme ihres Landes, das Schicksal von einer Million und mehr Flüchtlingen, wiederholte militärische Niederlagen und Demütigungen. Halbverrückt geworden durch die Angst vor arabischer Vergeltung haben die Israelis in ihrer überwältigenden Mehrheit die 
»Lehre« hinter der Politik ihrer Regierung akzeptiert, jene »Lehre«, die besagt, daß die Sicherheit Israels in periodischer Kriegführung liegt, die alle paar Jahre die arabischen Staaten in Schwächezustand versetzen muß.

Doch was auch immer die eigenen Motive und Ängste sein mögen, die Israelis sind keine unabhängig Handelnden. Die Faktoren der Abhängigkeit Israels sind in gewisser Weise in seine zwanzigjährige Geschichte 
»eingemauert«. Alle israelischen Regierungen haben Israels Existenz auf die »Orientierung nach Westen« gegründet. Das allein hätte ausgereicht, aus Israel einen Vorposten des Westens in Nahost zu machen und es einzubeziehen in die große Auseinandersetzung zwischen dem Imperialismus (oder Neokolonialismus) und den um ihre Emanzipation ringenden arabischen Völkern. Doch es waren noch andere Faktoren mit im Spiel: Israels Wirtschaft hing mit ihrer schwächlichen Bilanz, ja ihrem Wachstum von ausländischer zionistischer Finanzhilfe ab, besonders von amerikanischen Schenkungen. Diese Schenkungen waren ein heimlicher Fluch für den neuen Staat. Sie ermöglichten es der Regierung, ihre Zahlungsbilanz in einer Weise zu handhaben, wie es kein Land in der Welt tun kann, ohne irgendwelchen Handel mit seinen Nachbarn zu treiben. Das verzerrte Israels Wirtschaftsstruktur, da es das Aufkommen eines breiten unproduktiven Sektors förderte und einen Lebensstandard, der in keinem Verhältnis zur Produktivität und zum Einkommen im eigenen Land steht. Israel hat in der Tat weit über seine Verhältnisse gelebt. Viele Jahre lang wurde nahezu die Hälfte der Nahrungsmittel Israels aus dem Westen importiert. Da die amerikanische Verwaltung die als Zuwendungen für Israel gekennzeichneten Einnahmen und Gewinne von der Besteuerung ausnimmt, hat Washington seine Hand über die Geldbörsen gehalten, von denen Israels Wirtschaft abhängt. Washington konnte Israel jederzeit treffen, indem es diese Ausnahme von der Besteuerung verweigerte (allerdings verlöre es darüber auch die jüdischen Stimmen bei den Wahlen). Die Drohung einer solchen Sanktion, nie ausgesprochen aber stets gegenwärtig und gelegentlich angedeutet, reichte aus, die israelische Politik fest an die Vereinigten Staaten zu binden.

Vor Jahren, als ich Israel besuchte, zählte mir ein hoher israelischer Beamter die Fabriken auf, welche sie wegen amerikanischen Einspruchs nicht bauen dürften — darunter Stahlwerke und Produktionsbetriebe für Landwirtschaftsmaschinen. Auf der anderen Seite gab es eine Liste von faktisch nutzlosen Fabriken, die fantastische Mengen von Küchenutensilien aus Plastik, von Spielzeug usw. ausstoßen. Auch konnte keine israelische Verwaltung sich je frei dazu fühlen, ihr vitales, langfristiges Bedürfnis nach Handel und engen wirtschaftlichen Banden mit den arabischen Nachbarn oder auch nach verbesserten Wirtschaftsbeziehungen zu der UdSSR und Osteuropa ernsthaft zu erwägen.

Wirtschaftliche Abhängigkeit hat Israels Innenpolitik und 
»kulturelle Atmosfäre« auch in anderer Hinsicht geprägt. Der amerikanische Geldgeber ist der wichtigste ausländische Investor im Heiligen Land. Ein wohlhabender amerikanischer Jude, ein weltlicher Geschäftsmann mit seinen nichtgläubigen Teilhabern und Freunden in New York, Philadelphia oder Detroit ist im Herzen stolz darauf, ein Mitglied des »Auserwählten Volkes« zu sein und er setzt seinen Einfluß in Israel zugunsten eines religiösen Obskurantismus und religiöser Reaktion ein. Inbrünstiger Anhänger des freien Unternehmertums, blickt er mit feindseligen Augen selbst auf den milden Sozialismus im Histradrut und in den Kibuzzim und hat sein Teil dazu beigetragen, ihn zu bezähmen. Vor allem andern half er den Rabbis, ihren Würgegriff über die Legislative und einen Großteil der Erziehung zu erhalten, und damit den Geist rassistisch-talmudistischer Auserwähltheit und Überlegenheit wachzuhalten. All dies hat den Widerstreit mit den Arabern genährt und entzündet.

Der Kalte Krieg gab den reaktionären Richtungen erheblichen Auftrieb und verschärfte den arabisch-jüdischen Konflikt. Israel wurde auf strikten Antikommunismus verpflichtet. Gewiß: Stalins Politik in seinen letzten Jahren, Ausbrüche von Antisemitismus in der UdSSR, antijüdische Motive in den Prozessen gegen Slănsky, Rajk und Kostow und die sowjetische Förderung des arabischen Nationalismus in jeder, selbst der irrationalsten Form — all das trägt sein Teil Verantwortung an Israels Haltung. Doch sollte nicht vergessen werden, daß Stalin einst Israels Gottvater gewesen war, daß die Juden 1947-48 mit auf Stalins Befehl gelieferter tschechischer Munition die britische Besatzungsarmee — und die Araber — bekämpften, und daß der sowjetische Gesandte der erste war, der für eine Anerkennung des Staates Israel durch die Vereinten Nationen stimmte. Man kann vermuten, daß der Wandel in Stalins Einstellung zu Israel selbst schon eine Reaktion auf die Ausrichtung Israels nach dem Westen war. Und in der nach-stalinistischen Ära haben die israelischen Regierungen diesen Kurs bebehalten.

Unversöhnliche Feindschaft gegen arabische Bestrebungen, sich vom Westen zu emanzipieren, wurde damit das Axiom der israelischen Politik. Daher Israels Rolle 1956 im Suez-Krieg. Israels sozialdemokratische Minister haben sich — nicht anders als die Kolonialisten — eine Staatsräson zugelegt, in der es als höchste Weisheit gilt, die Araber in Rückständigkeit und Zerrissenheit zu halten und ihre reaktionären, hashemitischen oder anderen Feudalelemente gegen die republikanischen, national-revolutionären Kräfte auszuspielen. Anfang dieses Jahres (1967), als es so aussah, als werde ein republikanischer Aufstand oder ein Staatsstreich König Hussein von Jordanien stürzen, machte die Regierung des Herrn Eshkol kein Hehl daraus, daß im Falle eines 
»nasseristischen Staatsstreichs« in Amman israelische Truppen in Jordanien einmarschieren würden. Und das Vorspiel zu den Ereignissen des letzten Juni lieferte Israels drohende Haltung gegen das neue Regime Syriens, welches es als »nasseristisch« oder gar »ultra-nasseristisch« brandmarkte (denn Syriens Regierung schien um eine Nuance stärker antiimperialistisch und radikal eingestellt als die in Ägypten).

Plante Israel, irgendwann im Mai (1967) Syrien tatsächlich anzugreifen, wie sowjetische Geheimdienste annahmen und Moskau Nasser warnte? Wir wissen es nicht. Als Ergebnis dieser Warnung jedenfalls und mit sowjetischer Ermutigung ordnete Nasser Mobilisierung und Truppenkonzentration an den Sinai-Grenzen an. Wenn Israel einen derartigen Plan hatte, wird Nassers Bewegung die Attacke auf Syrien um einige Wochen verzögert haben. Wenn Israel keinen derartigen Plan hegte, so verlieh doch dies Verhalten seinen antisyrischen Drohungen die gleiche Art Glaubwürdigkeit, welche in israelischen Augen die arabischen Drohungen besaßen. Jedenfalls waren die Regierenden in Israel ziemlich sicher, daß ihre Aggressivität — ob gegen Syrien oder Ägypten — im Westen auf Sympathie stoßen und ihnen Belohnung einbringen würde.

Diese Kalkulation stand hinter ihrer Entscheidung, den zuvorkommenden Schlag am 5. Juni zu führen. Sie waren sich der amerikanischen und bis zu einem gewissen Grad auch britischer, moralischer, politischer und wirtschaftlicher Unterstützung absolut sicher. Sie wußten, daß sie — gleichgültig, wie weit sie ihre Attacke gegen die Araber trieben — auf diplomatische Deckung, zumindest auf offizielle amerikanische Duldung zählen konnten. Und sie irrten sich nicht. Das Weiße Haus und das Pentagon konnten es sich nicht versagen, Männer zu würdigen, die aus eigenem Antrieb auszogen, die arabischen Feinde des amerikanischen Neokolonialismus niederzuwerfen. General Dayan handelte als eine Art Marschall Ky des Nahen Ostens und bewies, daß er seine Arbeit mit erschreckender Schnelligkeit, Tüchtigkeit und Rücksichtslosigkeit zu erledigen verstand. Er war und ist ein viel billigerer und weit bequemerer Verbündeter als Ky.

Könnten wir uns nun der arabischen Seite des Gemäldes zuwenden und ihrem Verhalten am Vorabend der Krise?

— Das arabische Verhalten, besonders Nassers Zwiespältigkeit und Unentschlossenheit am Vorabend der Feindseligkeiten kontrastiert in der Tat auffällig mit Israels Entschlossenheit und ungezügelter Aggressivität. Nachdem Nasser, von den Sowjets ermuntert, seine Truppen an der Sinai- Grenze zusammengezogen und sogar seine russischen Raketen in Stellung gebracht hatte, verhängte er dann, ohne Moskau zu konsultieren, die Blockade über die Meerenge von Tiran (Eingang zum Golf von Akaba).

Das war ein provozierender Zug, wenn auch praktisch von sehr begrenzter Bedeutung. Die Westmächte werteten ihn als so unwichtig, daß sie die Blockade nicht einmal ausprobierten oder 
»testeten«. Er verschaffte Nasser einen Prestigegewinn und ermöglichte es ihm, zu erklären, er habe Israel die letzte Frucht seines 1956er Sieges entrissen. (Vor dem Suez-Krieg konnten israelische Schiffe diese Meerenge nicht passieren.) Die Israelis spielten die Blockade zu einer tödlichen Gefahr für ihre Wirtschaft hoch, was sie nicht war; und sie antworteten mit der Mobilisierung ihrer Streitkräfte und deren Marsch an die Grenzen.

Die sowjetische Propaganda unterstützte die Araber weiterhin in der Öffentlichkeit. Jedoch blieb eine Konferenz der nahöstlichen Kommunistischen Parteien im Mai (ihre Resolutionen wurden in der Prawda zusammengefaßt) merkwürdig zurückhaltend hinsichtlich der Krise und erging sich in kritischen Anspielungen auf Nasser.

Wichtiger waren die seltsamen diplomatischen Manöver hinter der Szene. Am 26. Mai (1967) mitten in der Nacht (um 2 Uhr 30) weckte der sowjetische Botschafter Nasser auf, um ihm die ernste Warnung zu erteilen, daß die ägyptische Armee nicht als erste das Feuer eröffnen dürfte. Nasser fügte sich. Und er fügte sich so gründlich, daß er sich nicht nur jeder Auslösung von Kampfhandlungen enthielt, sondern auch keinerlei Vorsichtsmaßnahmen gegen einen eventuellen israelischen Angriff traf: er ließ seine Flugplätze unverteidigt und seine Flugzeuge ungetarnt am Boden. Er kümmerte sich nicht einmal darum, die Meerenge von Tiran zu minieren oder einige Geschütze an ihren Küsten aufzufahren (wie die Israelis zu ihrer Überraschung feststellten, als sie dort eintrafen).

All dies läßt hoffnungslose Stümperei auf seiten Nassers und der ägyptischen Heerführung vermuten. Aber die wahren Stümper saßen im Kreml. Breschnews und Kossygins Verhalten während der Ereignisse erinnerte an das Chrustschows während der Kuba-Krise — nur war es noch wirrköpfiger. Das Schema war das gleiche. In der ersten Phase gab es unnötige Provokation der Gegenseite und einen verwegenen Vorstoß bis an den 
»Rand«, in der nächsten plötzlichen Panik und einen hastigen Rückzug; dann folgten verzweifelte Versuche, das Gesicht zu wahren und die Spuren zu verwischen. Nachdem die Russen die Angst der Araber aufgeweckt, sie zu gewagten Zügen ermuntert, ihnen Beistand zugesagt und ihre eigenen Flotteneinheiten in das Mittelmeer verlagert hatten, um den Bewegungen der 6. amerikanischen Flotte zu begegnen, fesselten sie Nasser an Händen und Füßen.

Warum taten sie es?

Als die Spannung stieg, trat der 
»heiße Draht« zwischen Kreml und Weißem Haus in Aktion. Die zwei Supermächte kamen überein, direkte Intervention zu vermeiden und die streitenden Parteien zu zügeln. — Sofern die Amerikaner überhaupt den Abmachungen entsprachen und die Israelis zu zügeln suchten, müssen sie es so oberflächlich oder mit soviel Augenzwinkern getan haben, daß die Israelis sich faktisch ermuntert fühlten, fortzufahren in ihren Plänen für einen zuvorkommenden Schlag. (Uns ist jedenfalls nicht bekannt geworden, daß der amerikanische Botschafter den israelischen Premierminister aufgeweckt hätte, um ihn zu warnen, daß Israel nicht als erstes das Feuer eröffnen dürfte.) — Die sowjetische Zügelung Nassers hingegen war stark, grob und wirksam. Dennoch bleibt Nassers Nachlässigkeit, nicht einmal die elementarsten Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, rätselhaft. Erzählte der sowjetische Botschafter Nasser bei seinem nächtlichen Besuch, daß Moskau sicher sei, die Israelis würden nicht als erste losschlagen? Hatte Washington Moskau eine derartige Versicherung gegeben? Und war Moskau so leichtgläubig, das für bare Münze zu nehmen und danach zu handeln?

Es scheint ziemlich unglaubwürdig, daß es so gewesen ist. Aber: nur eine solche Version der Ereignisse kann Nassers Untätigkeit erklären und Moskaus basses Erstaunen bei Ausbruch der Feindseligkeiten.

Durch all diese Stümperei schimmert der zentrale Widerspruch der sowjetischen Politik. Auf der einen Seite sehen die sowjetischen Führer in der Erhaltung des internationalen status quo, einschließlich des gesellschaftlichen status quo, die wesentlichste Bedingung für ihre nationale Sicherheit und 
»friedliche Koexistenz«. Sie sind deshalb ängstlich darauf bedacht, sich in »sicherer Entfernung« von den Sturmzentren des Klassenkampfes in der Welt zu halten und gefährliche Verwicklungen im Ausland zu vermeiden. Auf der anderen Seite können sie aus ideologischen und machtpolitischen Erwägungen nicht alle gefährlichen Verwicklungen meiden. Sie können sich schlecht in sicherer Entfernung halten, wenn der amerikanische Neokolonialismus direkt oder indirekt mit ihren afro-asiatischen und lateinamerikanischen Freunden zusammenstößt, die auf Moskau als ihren Freund und Beschützer blicken.

In normalen Zeiten ist der Widerspruch nur verdeckt vorhanden, Moskau arbeitet für Entspannung und Annäherung mit den USA; und zugleich unterstützt und bewaffnet es vorsichtig seine afro-asiatischen und kubanischen Freunde. Doch früher oder später kommt der Augenblick der Krise und der Widerspruch explodiert Moskau ins Gesicht. Die sowjetische Politik muß sich dann entscheiden zwischen ihren Verbündeten und Schützlingen, die gegen den status quo arbeiten, und ihrer eigenen Verpflichtung auf den status quo. Und wenn die Wahl drängt und unvermeidbar wird, optiert sie für den status quo.

Das Dilemma ist real und im Atomzeitalter gefährlich genug. Aber es stellt sich ebenso den USA, denn die USA sind genauso interessiert wie die UdSSR, Weltkrieg und atomaren Konflikt zu vermeiden. Doch schränkt das ihre Freiheit zur Handlung und zur politisch-ideologischen Offensive weit weniger ein, als die der Sowjets. Washington fürchtet viel weniger die Möglichkeit, daß irgendeine Bewegung eines seiner Schützlinge oder seine eigene militärische Intervention zu einer direkten Konfrontation der Supermächte führen könnte. Nach der CUBA-Krise und dem Krieg in Vietnam hat der arabisch-israelische Krieg den Unterschied erneut scharf beleuchtet.

Ein entscheidendes Kriterium ist offensichtlich, ob die Israelis je eine Chance hatten, normale oder wenigstens erträgliche Beziehungen mit den Arabern herzustellen? Hatten sie überhaupt je die Wahl? In wieweit war der letzte Krieg die Folge einer langen Kette von unwiderruflichen Ereignissen?

— Ja, bis zu einem gewissen Grad wurde die gegenwärtige Situation geprägt durch den gesamten Verlauf der arabisch-israelischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg und sogar seit dem Ersten. Dennoch glaube ich, daß den Israelis einiges zur Wahl offenstand. Erlauben Sie mir, Ihnen eine Parabel zu zitieren, mit der ich einmal versuchte, einem israelischen Publikum dieses Problem darzulegen:

Ein Mann sprang einst aus dem obersten Stockwerk eines brennenden Hauses, in dem viele Mitglieder seiner Familie schon umgekommen waren. Es gelang ihm, sein Leben zu retten; doch als er auf dem Boden landete, traf er auf jemanden, der unten stand, und brach diesem Arme und Beine. Der springende Mann hatte keine andere Wahl; doch für den Mann mit den gebrochenen Gliedern war er der Grund seines Unglücks. Wenn beide sich rational verhielten, würden sie keine Feinde. Der Mann, der dem lodernden Haus entkam, würde, sobald er sich erholt hätte, dem anderen Leidtragenden zu helfen und ihn zu trösten suchen; und dieser hätte inzwischen begriffen, daß er das Opfer von Umständen geworden war, über die sie beide keine Kontrolle besaßen.

Doch sehen Sie, was geschieht, wenn diese Leute sich irrational verhalten. Der verletzte Mann lastet dem anderen sein Unglück an und schwört, ihn dafür büßen zu lassen. Der andere, erschreckt durch des gelähmten Mannes Rachegedanken, beschimpft ihn, tritt und schlägt ihn jedesmal, wenn sie sich begegnen. Der getretene Mann schwört erneut Rache und wird erneut zusammengeschlagen und bestraft. Die bittere Feindschaft, so willkürlich sie einst begann, verhärtet sich und überschattet schließlich die ganze Existenz der beiden Menschen und vergiftet ihre Gedanken.

Sicher werden Sie sich selbst (sagte ich zu meinem israelischen Publikum), als die israelischen Überlebenden des europäischen Judentums, in dem Mann erkennen, der aus dem lodernden Haus sprang. Die zweite Person stellt natürlich die palästinischen Araber dar, von denen über eine Million ihr Land und ihr Heim verloren. Sie sind nachtragend; sie starren über die Grenzen auf ihre alten Geburtsorte; sie überfallen Euch heimlich und schwören Rache. Ihr schlagt und tretet sie unbarmherzig; Ihr habt gezeigt, daß Ihr das könnt. Aber was ist der Sinn des Ganzen? Und was erwartet Ihr Euch davon?

Die Verantwortung für die Tragödie der europäischen Juden, für Auschwitz, Majdanek und die Schlächtereien im Ghetto liegt einzig bei der westlich bürgerlichen 
»Zivilisation«, deren rechtmäßiger, wenn auch entarteter Sprößling der Nationalsozialismus war. Doch es waren die Araber, die man dazu bestimmte, den Preis für die Verbrechen zu zahlen, welche der Westen an den Juden begangen hatte. Sie müssen auch jetzt noch dafür bezahlen, denn das »Schuldbewußtsein« des Westens ist natürlich pro-israelisch und anti-arabisch. Und wie leicht hat Israel sich bestechen und zum Narren halten lassen mit dem falschen »Sühnegeld«.

Ein rationales Verhältnis zwischen Israelis und Arabern wäre wohl möglich gewesen, wenn Israel auch nur versucht hätte, es herzustellen, wenn der Mann, der aus dem brennenden Haus sprang, sich bemüht hätte, Freund zu werden mit dem unschuldigen Opfer seines Absprungs und es zu entschädigen.

Das geschah nicht. Israel erkannte die arabischen Nöte nicht einmal an. Von Anfang an arbeitete der Zionismus auf die Schaffung eines rein jüdischen Staates hin und war froh, das Land von seinen arabischen Einwohnern zu säubern. Keine israelische Regierung hat sich je ernsthaft um eine Gelegenheit gekümmert, das (verursachte) Leid zu heilen oder zu lindern. Sie weigerten sich sogar, das Schicksal der riesigen Flüchtlingsmassen zu bedenken, solange die arabischen Staaten Israel zuvor nicht anerkannten, d. h. bevor sich die Araber nicht vor allem Verhandlungsbeginn politisch ergaben.

Vielleicht läßt sich das noch entschuldigen als Feilschtaktik. Die unheilvolle Verschärfung der arabisch-israelischen Beziehungen erfolgte durch den Suez-Krieg, als Israel sich den alten bankrotten Imperialismen bei ihrem letzten gemeinsamen Auftritt, ihrem letzten Versuch, Ägypten im Griff zu behalten, skrupellos als Stoßtrupp hergab. Die Israelis hatten es nicht nötig, mit den Teilhabern der Suezkanal-Gesellschaft gemeinsame Sache zu machen. Die Pros und Contras lagen klar; keine Spur von irgendeiner Vermischung von Recht und Unrecht auf einer der beiden Seiten. Die Israelis setzten sich selber völlig ins Unrecht, moralisch und politisch.

An der Oberfläche ist der arabisch-israelische Konflikt nur ein Zusammenstoß zweier rivalisierender Nationalismen, die sich jeweils im circulus vitiosus ihrer selbstgerechten und schwülstigen Ambitionen drehen. Vom Standpunkt eines abstrakten Internationalismus lassen sich beide leicht als gleich wertlos und reaktionär abtun. Doch ignoriert ein solcher Standpunkt die sozialen und politischen Gegebenheiten der Situation. Der Nationalismus der Völker in semi-kolonialen oder kolonialen Ländern, die um ihre Unabhängigkeit ringen, darf nicht auf dieselbe moralisch-politische Stufe gestellt werden wie der Nationalismus von Eroberern und Unterdrückern. Der erste hat seine geschichtliche Berechtigung und einen fortschrittlichen Aspekt, was dem zweiten fehlt. Selbstverständlich rechnet der arabische Nationalismus im Gegensatz zum israelischen noch zur ersten Kategorie.

Doch auch der Nationalismus von Ausgebeuteten und Unterdrückten sollte nicht unkritisch betrachtet werden, denn seine Entwicklung kennt verschiedene Fasen. In der einen überwiegen die progressiven Bestrebungen; in einer anderen geraten reaktionäre Tendenzen an die Oberfläche. Vom Augenblick an, da die Unabhängigkeit gewonnen oder fast gewonnen ist, neigt jeder Nationalismus dazu, seinen revolutionären Aspekt fast völlig abzulegen, und wandelt sich zu einer rückwärtsgewandten Ideologie. Wir haben das in Indien, Indonesien, Israel erlebt und in gewissem Maße auch in China. Und selbst in der revolutionären Fase hat jeder Nationalismus einen Zug Irrationalität, einen Hang zur Ausschließlichkeit, zu nationalem Egoismus und Rassismus. Trotz all seiner historischen Verdienste und fortschrittlichen Funktionen enthält auch der arabische Nationalismus solche Bestandteile.

Die Juni-Krise (1967) hat einige der grundlegenden Schwächen des arabischen politischen Denkens und Handelns aufgedeckt: den Mangel an politischer Strategie; Hang zu emotionaler Selbstberauschung; und übermäßiges Vertrauen in nationalistische Demagogie. Diese Schwächen waren mit die entscheidenden Gründe für die arabische Niederlage. Indem sie in Drohungen schwelgten, Israel zerstören, gar 
»ausrotten« zu wollen — und wie hohl diese Drohungen waren, hat sich an der völligen militärischen Unvorbereitetheit der Araber ausgiebig erwiesen —, lieferten einige der Propagandisten in Ägypten und Jordanien dem israelischen Chauvinismus reichlich Nahrung und ermöglichten es der Regierung Israels, die Masse des Volkes aufzuputschen zu jenem Anfall von Furcht und wilder Aggressivität, der dann über die Häupter der Araber hereinbrach.

Es ist eine Binsenwahrheit, daß Kriege die Fortführung der Politik sind. Der Sechs-Tage-Krieg hat die relative Unreife der arabischen Regime offenbart. Die Israelis verdanken ihren Triumf nicht allein der Überrumpelung, sondern auch einer moderneren wirtschaftlichen, politischen und militärischen Organisation. In gewisser Weise zog dieser Krieg Bilanz über das Jahrzehnt arabischer Entwicklung seit der Suez-Krise und deckte deren schwere Unzulänglichkeiten auf. Die Modernisierung der sozialökonomischen Strukturen in Ägypten und den anderen arabischen Staaten sowie des arabischen politischen Denkens vollzog sich weit langsamer, als Leute, welche die gegenwärtigen arabischen Regime zu idealisieren neigen, es annahmen.

Die anhaltende Rückständigkeit hat ihre Wurzeln natürlich in sozialökonomischen Bedingungen. Doch die Ideologie und Organisationsmethodik sind selbst noch Faktoren der Schwäche. Ich denke dabei an das Einparteiensystem, an den Nasserkult und den Mangel an freier Diskussion. All dies hat die politische Erziehung der Massen und die sozialistische Aufklärungsarbeit stark gehemmt.

Die negativen Auswirkungen machten sich auf verschiedenen Ebenen bemerkbar. Wenn die wesentlichen Entscheidungen in der Politik von einem mehr oder weniger autokratischen Führer abhängen, gibt es zu normalen Zeiten keine echte Beteiligung des Volkes an den politischen Prozessen, kein waches und aktives Bewußtsein, keine Initiative von unten. Das hat mancherlei Folgen, selbst militärische. Der Überraschungsschlag der Israelis, mit konventionellen Waffen geführt, hätte keine so verheerende Wirkung gehabt, wenn Ägyptens Streitkräfte daran gewöhnt gewesen wären, sich auf die Initiative der einzelnen Offiziere und Soldaten zu stützen. Örtliche Kommandeure hätten dann die elementaren Verteidigungsmaßnahmen getroffen, statt auf Befehle von oben zu warten. Der militärische Mißerfolg spiegelte hier eine breitere und tiefere sozialpolitische Schwäche.

Die militär-bürokratischen Methoden des Nasserismus hindern auch eine politische Einigung der arabischen Befreiungsbewegung. Überall und allzu leicht blüht nationalistische Demagogie; aber sie ist kein Ersatz für einen wirklichen Impuls zu nationaler Einheit und für eine wirkliche Mobilisierung der Volkskräfte gegen die trennenden feudalen und reaktionären Elemente. Wir haben erlebt, wie im Notfall übermäßiges Vertrauen in einen einzigen Führer das Schicksal der arabischen Staaten faktisch abhängig machte von der Intervention der Großmächte und den Zufällen diplomatischer Manöver.

Um auf Israel zurückzukommen — was wird es mit seinem Sieg anfangen? Wie stellen sich die Israelis ihre künftige Rolle in diesem Teil der Welt vor?


— Paradoxer- und groteskerweise erscheinen die Israelis nun als die Preußen des Nahen Ostens. Sie haben inzwischen drei Kriege gegen ihre arabischen Nachbarn gewonnen. Ebenso besiegten die Preußen ein Jahrhundert vorher alle ihre Nachbarn in wenigen Jahren — die Dänen, die Österreicher und die Franzosen. Die Kette von Siegen weckte in ihnen ein absolutes Vertrauen in ihre eigene Tüchtigkeit, ein blindes Bauen auf die Kraft ihrer Waffen, chauvinistische Arroganz und Verachtung für andere Völker. Ich fürchte, daß eine ähnliche Entartung — denn es handelt sich hier um Entartung — im politischen Charakter Israels um sich greifen wird. Jedoch kann Israel als das Preußen des Nahen Ostens nur eine schwache Parodie des Originals abgeben. Die Preußen waren immerhin fähig, ihre Siege dafür einzusetzen, in ihrem Reich alle deutschsprechenden Völker außerhalb des österreichisch-ungarischen Imperiums zu vereinigen. Auch waren die Nachbarn Deutschlands untereinander gespalten durch Interessen, Geschichte, Religion und Sprache.

Bismarck, Wilhelm II. und Hitler konnten einen gegen den anderen ausspielen. Die Israelis hingegen sind nur von Arabern umgeben. Versuche, die arabischen Staaten gegeneinander auszuspielen, sind letzten Endes zum Scheitern verurteilt. Die Araber lagen sich 1948 in den Haaren, als Israel seinen ersten Krieg unternahm; sie waren 1956, während des zweiten israelischen Kriegs weit weniger zerspalten; und sie bildeten 1967 eine gemeinsame Front. In jedem künftigen Zusammenstoß mit Israel könnten sie eine weit stärkere Einheit beweisen.

Die Deutschen haben ihre Erfahrungen in dem bitteren Satz zusammengefaßt: 
»Man kann sich totsiegen!« Genau das haben die Israelis getan. Sie haben weit mehr abgebissen, als sie schlucken können. In den eroberten Gebieten und Israel befinden sich gegenwärtig fast 1 500 000 Araber, gut 40 % der Gesamtbevölkerung.

Wollen die Israelis diese Masse der Araber etwa ausweisen, um das eroberte Land 
»sicher« in die Hand zu bekommen? — Nein, behaupten die meisten ihrer Führer. Ben Gurion, der böse Geist des israelischen Chauvinismus, drängt auf die Schaffung eines »arabisch-palästinischen Staates« am Jordan, der ein israelisches Protektorat bilden würde.

Kann Israel annehmen, daß die Araber einem solchen Protektorat zustimmen werden? Daß sie es nicht bis aufs Blut bekämpfen werden?


Keine der israelischen Parteien ist darauf vorbereitet, einen binationalen arabisch-israelischen Staat auch nur zu erwägen. In der Zwischenzeit wurde eine große Zahl von Arabern dazu 
»bewegt«, ihr Heim am Jordan aufzugeben, und die Behandlung derjenigen, die zurückblieben, ist weit schlimmer als die der arabischen Minderheit in Israel, die 19 Jahre lang unter Kriegsrecht stand.

Ja, dieser Sieg ist schlimmer für Israel als eine Niederlage. Weit davon entfernt, Israel einen höheren Grad an Sicherheit zu gewährleisten, hat er es nur viel unsicherer hinterlassen. Wenn es arabische Rache und Ausrottung war, was die Israelis fürchteten, dann haben sie sich so verhalten, als ob sie darauf versessen wären, ein Schreckgespenst in eine aktuelle Bedrohung zu verwandeln.

Hat Israels Sieg den Vereinigten Staaten irgendeinen greifbaren Gewinn eingebracht? Hat er die amerikanische ideologische Offensive in Afro-Asien gefördert?
 
— Es gab einen Augenblick, zur Zeit des Waffenstillstands, da schien es, als ob Ägyptens Niederlage zu Nassers Sturz und dem Abbruch der mit seinem Namen verknüpften Politik führen würde. Wäre das eingetreten, wäre der Nahe Osten mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wieder in die westliche Einflußsfäre zurückgebracht worden. Ägypten hätte ein zweites Ghana oder Indonesien werden können.

Doch es trat nicht ein. Die arabischen Massen, die auf die Straßen und Plätze von Kairo, Damaskus und Beirut liefen, um zu fordern, daß Nasser im Amt bliebe, verhinderten es. Dies war einer jener seltenen historischen Impulse des Volkes, die in wenigen Minuten ein politisches Gleichgewicht wiederherstellen oder aus den Angeln heben. Diesmal, in der Stunde der Niederlage, wirkte die Initiative von unten unmittelbar ein. Es gibt in der Geschichte nur wenige Fälle, daß ein Volk auf diese Weise einem geschlagenen Führer beistand. Die Situation ist natürlich noch fließend. Reaktionäre Einflüsse werden in den arabischen Staaten weiter darauf hinarbeiten, so etwas wie einen ghanesischen oder indonesischen Staatsstreich zu bewerkstelligen. Vorher jedoch sind dem Neokolonialismus die Früchte des israelischen 
»Siegs« versagt.

Moskaus Einfluß und Prestige hat infolge der Ereignisse einen schweren Rückschlag erlitten. Ist das nur ein vorübergehender Verlust oder ein endgültiger? Und sieht es so aus, als ob er sich auf politische Ausrichtungen in Moskau auswirken wird?

— 
»Die Russen haben uns fallen lassen«, war der bittere Schrei, der im Juni aus Kairo, Damaskus und Beirut zu hören war. Und als die Araber sahen, wie der sowjetische Delegierte bei den Vereinten Nationen in Einklang mit den Amerikanern für einen Waffenstillstand stimmte, der keine Bedingung über einen Rückzug der Israelis enthielt, fühlten sie sich vollends verraten. »Die Sowjetunion wird jetzt auf den Rang einer zweit- oder viertklassigen Macht absinken«, soll Nasser dem sowjetischen Botschafter erklärt haben.

Die Ereignisse schienen dem chinesischen Vorwurf eines heimlichen sowjetischen Zusammenspiels mit den Vereinigten Staaten recht zu geben. Das Debakel rief auch in Osteuropa Alarmstimmung hervor. 
»Wenn die Sowjetunion in dieser Weise Ägypten fallen lassen konnte, wird sie dann nicht vielleicht auch uns fallen lassen, wenn wir erneut einem deutschen Angriff gegenüberstehen?« fragten sich die Polen und Tschechen. Die Jugoslawen fühlten sich ebenfalls geschmäht. Tito, Gomulka und die anderen Führer stürzten nach Moskau, um eine Erklärung zu verlangen und eine Rettungsoperation für die Araber. Dies war um so bemerkenswerter, als die Forderung gerade von den »Gemäßigten« und »Revisionisten« kam, die normalerweise für »friedliche Koexistenz« eintraten und für Annäherung mit den USA. Nun waren sie es, die von sowjetischem »Zusammenspiel mit dem amerikanischen Imperialismus« sprachen.

Die sowjetischen Führer mußten etwas unternehmen. Die Tatsache, daß die Intervention der arabischen Massen Nassers Regime in unerwarteter Weise gerettet hatte, gab Moskau neuen Spielraum für Manöver. Nach dem großen Fallenlassen traten die sowjetischen Führer erneut als die Freunde und Beschützer der arabischen Staaten auf. Ein paar spektakuläre Gesten, der Abbruch diplomatischer Beziehungen zu Israel und Reden vor den Vereinten Nationen kosteten sie wenig. Sogar das Weiße Haus zeigte 
»Verständnis« für ihre »Lage« und die »taktische Notwendigkeit«, welche Kossygin höchstpersönlich vor der UN-Versammlung erscheinen ließ.

Jedoch bedurfte es mehr als Gesten, um die sowjetische Position zu festigen. Die Araber verlangten, die Sowjetunion solle ihnen sofort helfen, ihre militärische Stärke wieder aufzubauen, jene Stärke, die sie bei der Befolgung sowjetischer Ratschläge eingebüßt hatten. Sie forderten neue Flugzeuge, neue Panzer, neue Geschütze, neue Munitionsvorräte. Aber abgesehen von den Kosten, die das verursachte — der Wert der durch Ägypten eingebüßten militärischen Ausrüstung wird allein auf eine Milliarde Pfund geschätzt — birgt der Wiederaufbau der arabischen Streitkräfte vom Standpunkt Moskaus aus größere politische Risiken. Die Araber weigern sich, mit Israel in Verhandlung zu treten; sie möchten Israel gern an seinem Sieg ersticken lassen. Wiederaufrüstung geht Kairo über alles. Israel hat Ägypten eine Lektion erteilt: das nächste Mal könnte die ägyptische Luftwaffe den zuvorkommenden Schlag führen. Und Moskau hatte zu entscheiden, ob es die Waffen für diesen Schlag liefern wollte oder nicht.

Moskau kann den Gedanken einer derartigen arabischen Vergeltung nicht gutheißen, es kann sich aber auch nicht weigern, Ägypten wieder zu bewaffnen. Doch wird die arabische Wiederaufrüstung ziemlich sicher Israel in Versuchung führen, den Prozeß zu unterbrechen und erneut einen Überraschungsschlag zu führen — in welchem Falle die Sowjetunion wieder vor dem gleichen Dilemma stünde, das ihr im Mai und Juni über den Kopf wuchs. Schlüge Ägypten als erster zu, würden mit ziemlicher Sicherheit die Vereinigten Staaten eingreifen. Ihre Sechste Flotte würde nicht vom Mittelmeer aus zusehen, wenn die israelische Luftwaffe kampfunfähig gemacht wäre und die Araber sich anschickten, in Jerusalem oder Tel Aviv einzumarschieren. Hielte die UdSSR sich abermals aus dem Streit heraus, würde das ihre internationale Machtposition unwiederbringlich zerstören.

Eine Woche nach dem Waffenstillstand war der sowjetische Stabschef in Kairo; sowjetische Berater und Experten füllten die dortigen Hotels und begannen, am Wiederaufbau der ägyptischen Streitkräfte zu arbeiten. Doch kann Moskau die Aussicht auf einen arabisch-israelischen Wettstreit in Überraschungsschlägen und ihren weiteren Folgen nicht gleichmütig hinnehmen. Wahrscheinlich beeilten die sowjetischen Experten sich recht langsam, während die sowjetische Diplomatie sich bemühte, den Arabern 
»den Frieden zu gewinnen«, nachdem sie sie den Krieg hatte verlieren lassen.

Aber kein noch so kluges Hinhalten vermag die zentrale Streitfrage der sowjetischen Politik zu lösen. Wie lange noch kann die Sowjetunion den amerikanischen Vorstoß zulassen? Wie weit kann sie vor den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Offensiven Amerikas überall im afroasiatischen Raum zurückweichen? Nicht zufällig gab Krasnaya Zvezda schon im Juni (1967) zu verstehen, daß die bisherige sowjetische Konzeption der friedlichen Koexistenz einiger Revision bedürfe. Die Militärs — und nicht nur sie — befürchten, daß sowjetische Rückzüge die Dynamik des amerikanischen Vorstoßes nur erhöhen und daß, wenn es so weiter geht, ein direkter sowjetisch-amerikanischer Zusammenstoß unvermeidlich werden könnte. Sofern Breschnew und Kossygin sich dieser Frage nicht gewachsen zeigen, ist ein Führungswechsel ziemlich wahrscheinlich. Die kubanische und die vietnamesische Krise wirkten mit am Sturze Chrustschows. Die endgültigen Konsequenzen der Nahost-Krise stehen noch aus.

Was für Lösungen sehen Sie in dieser Situation? Kann der arabisch-israelische Konflikt noch auf eine rationale Weise behoben werden?

— Ich glaube nicht, daß er auf diese Weise mit militärischen Mitteln zu beheben ist. Selbstredend kann niemand den arabischen Staaten das Recht bestreiten, ihre Streitkräfte bis zu einem gewissen Grad wiederaufzubauen. Aber was sie weit dringlicher benötigen, ist eine soziale und politische Strategie und neue Methoden in ihrem Kampf um Emanzipation. Es darf keine rein negative, von antiisraelischer Besessenheit beherrschte Strategie sein. Sie mögen es ablehnen, mit Israel zu verhandeln, solange Israel nicht seine Eroberungen aufgibt. Sie werden sich unvermeidlich dem Besatzungsregime am Jordan und im Gazastreifen widersetzen. Aber das muß nicht einen Wiederausbruch des Krieges bedeuten.

Die Strategie, welche den Arabern weit größeren Gewinn einbringen kann als alles mit irgendeinem Heiligen Krieg oder Überraschungsschlag zu erreichende — eine Strategie, die ihnen einen tatsächlichen Sieg erringen würde, einen zivilisierten Sieg — muß sich konzentrieren auf die unabwendbare und dringend gebotene intensive Modernisierung der Struktur in der arabischen Wirtschaft und Politik und auf das Bedürfnis eines echten Zusammenschlusses des nationalarabischen Lebens, welches noch immer durch die alten, überkommenen und vom Imperialismus geförderten Grenzen und Teilungen zerrissen ist. Diese Ziele lassen sich nur fördern, wenn die revolutionären und sozialistischen Tendenzen in der arabischen Politik bestärkt und entwickelt werden.

Letzten Endes wird der arabische Nationalismus unvergleichlich effektiver sein als befreiende Kraft, wenn er diszipliniert und rationalisiert wird durch ein internationalistisches Element, das es den Arabern ermöglicht, das Problem realistischer als bisher anzugehen. Sie können nicht fortfahren, Israel das Recht auf Existenz abzustreiten und sich an blutrünstigen Redensarten zu berauschen. Wirtschaftliches Wachstum, Industrialisierung, Erziehung, wirksamere Organisation und nüchternere Politik können den Arabern verschaffen, was reine Zahlen und anti-israelische Wut ihnen nicht zu geben vermochten: nämlich eine tatsächliche Vorherrschaft, die ganz automatisch Israel auf seine bescheidenen Ausmaße und seine tatsächliche Rolle im Nahen Osten beschränken würde.

Dies ist natürlich kein kurzfristiges Programm. Immerhin beanspruchte seine Verwirklichung nicht übermäßig viel Zeit, und es gibt einfach keinen anderen Weg zur Emanzipation. Die Abkürzungen durch Demagogie, Vergeltung und Krieg haben sich als unheilvoll genug erwiesen. Mittlerweile sollte die arabische Politik sich auf einen direkten Appell an das israelische Volk über die Köpfe der israelischen Regierung hinweg gründen, auf einen Appell an die Arbeiter und Kibbuzim. Jenen sollte die Angst genommen werden durch klare Zusicherungen und Bürgschaften, daß Israels berechtigte Interessen geachtet würden und Israel sogar willkommen wäre als Mitglied einer künftigen Nahost-Föderation. Das würde die Orgie des israelischen Chauvinismus zum Erlahmen bringen und die Opposition gegen Eshkols und Dayans Politik der Eroberung und Beherrschung anspornen. Die Fähigkeit der israelischen Arbeiter, einem derartigen Appell zu entsprechen, darf nicht unterschätzt werden.

Mehr Unabhängigkeit vom Spiel der Großmächte ist gleichfalls vonnöten. Dieses Spiel hat die sozialpolitische Entwicklung des Nahen Ostens verzerrt. Ich habe schon gezeigt, wie sehr der amerikanische Einfluß dazu beitrug, Israels Politik ihren heutigen abstoßenden und reaktionären Zug zu verleihen. Doch auch der russische Einfluß hat einiges getan, um die arabischen Gemüter zu verdrehen, indem er sie mit dürren Slogans fütterte und zur Demagogie ermutigte, während Moskaus Egoismus und Opportunismus zugleich Desillusionierung und Zynismus förderte. Wenn die Nahost- Politik weiterhin ein reiner Spielball der Großmächte bleibt, muß man tatsächlich schwarz sehen für die Zukunft. Dann werden weder die Juden noch die Araber es fertigbringen, aus ihren Zirkelspiralen auszubrechen. Das ist es, was wir von der Linken Arabern wie Juden so klar und geradeheraus wie irgend möglich sagen sollten.

Die Krise hat die Linke offenbar völlig überrumpelt und sie richtungslos und zerstritten vorgefunden, sowohl in England als in Frankreich und anscheinend auch in den Vereinigten Staaten. In den Staaten wurden Befürchtungen laut, daß die Meinungsverschiedenheiten über Israel sogar die Bewegung gegen den Krieg in Vietnam sprengen könnte.

— Ja, die Verwirrung war unleugbar und weitverbreitet. Ich möchte hier nicht von gewissen 
»Freunden Israels« wie Monsieur Mollet und Genossen reden, die genauso wie Lord Avon und Selwyn Lloyd in diesem Krieg die Fortführung der Suez-Kampagne und ihre Rache für das 1956 erlittene Mißgeschick erblickten. Auch will ich kein Wort verlieren über das rechtsgerichtete Zionisten-Lobby in der Labour Party. Doch selbst die »extreme Linke« jener Partei — Leute wie Sidney Silverman — verhielt sich in einer Weise, als ob sie den Ausspruch illustrieren müßte: »Kratze an einem jüdischen Linken und du findest nur einen Zionisten.«

Aber die Verwirrung zeigte sich noch weiter links, sie ergriff Leute mit einem sonst untadeligen Vorleben im Kampf gegen den Imperialismus. Ein französischer Schriftsteller, der bekannt ist für seine mutigen Stellungnahmen gegen den Krieg in Algerien und Vietnam, rief diesmal zur Solidarität mit Israel auf und erklärte, wenn das Überleben Israels amerikanische Intervention erfordere, würde er sie befürworten und sogar in den Ruf ausbrechen »Vive le Präsident Johnson«. Ging ihm nicht auf, wie schlecht es sich zusammenreimte, in Vietnam »A bas Johnson« zu schreien und »Vive« in Israel?

Selbst Jean-Paul Sartre rief, wenn auch mit Vorbehalt, zur Solidarität mit Israel auf, doch sprach er dann offen über die Verwirrung in seinem eigenen Denken und deren Ursachen. Während des zweiten Weltkriegs, so erklärte er, lernte er als Mitglied der Résistance, die Juden als Brüder zu betrachten, die man unter allen Umständen verteidigen müsse. Während des Algerienkriegs waren die Araber seine Brüder und er stand auf ihrer Seite. Der gegenwärtige Konflikt bedeutete deshalb für ihn einen brudermörderischen Kampf, in dem es ihm unmöglich war, ein kühles Urteil zu fällen, und er von widerstreitenden Gefühlen überwältigt wurde.

Doch wir müssen unser Urteil fällen und dürfen nicht zulassen, daß es von Emotionen und Erinnerungen getrübt wird, so tief oder quälend sie auch sein mögen. Wir dürfen auch keine Berufungen auf Auschwitz zulassen, die uns dazu erpressen wollen, die falsche Sache zu unterstützen. Ich spreche als Marxist jüdischer Abstammung, dessen nächste Familie in Auschwitz umkam und dessen Verwandte in Israel leben. Israels Krieg gegen die Araber rechtfertigen oder entschuldigen, heißt Israel wahrlich einen sehr schlechten Dienst erweisen und seinen langfristigen Interessen schaden. Israels Sicherheit, lassen Sie es mich noch einmal sagen, wurde durch die Kriege von 1956 und 1967 nicht erhöht; sie wurde untergraben und gefährdet. Die 
»Freunde Israels« haben Israel tatsächlich auf einen verderblichen Kurs gedrängt.

Sie haben auch, wohl oder übel, der reaktionären Stimmung Vorschub geleistet, welche Israel während der Krise erfaßte. Nur mit Widerwillen konnte ich mir in jenen Tagen am Fernsehschirm die Szenen aus Israel ansehen: die Zurschaustellung von Erobererstolz und Brutalität, die Ausbrüche von Chauvinismus und die wilden Feiern des unrühmlichen Siegs — sie alle im scharfen Kontrast zu den Bildern arabischen Leids und arabischer Verzweiflung, zu den Trecks jordanischer Flüchtlinge und den Leichen ägyptischer Soldaten, die in der Wüste verdurstet waren. Ich blickte in die mittelalterlichen Gesichter der Rabbis und Chassidim, die vor Freude um die Klagemauern hüpften; und ich spürte, wie die Geister des talmudistischen Obskurantismus — und ich kenne das nur zu gut — im Land um sich griffen und wie die reaktionäre Atmosfäre schwer und erdrückend geworden war. Dann kamen die vielen Interviews mit General Dayan, dem Helden und Retter, mit dem politischen Bewußtsein eines Regimentsfeldwebels, der von Annektierungen prahlte und rauhe Unbekümmertheit über das Schicksal der Araber in den eroberten Gebieten verlauten ließ ( 
»Was gehen sie mich an?« »Von mir aus können sie bleiben oder gehen.«) Schon eingepackt in eine falsche Militärlegende — die Legende ist falsch, weil Dayan die Sechs-Tage-Schlacht weder geplant noch geführt hat —, gab er eine ziemlich trübe Figur ab, in der sich der Kandidat für den Diktatorposten vermuten ließ: es war angedeutet worden, daß wenn die Zivilisten zu »sanft« mit den Arabern umgehen, sollte dieser neue Josuah, dieser Mini-de-Gaulle, ihnen eine Lehre erteilen, selbst die Macht in die Hand nehmen und Israels Ruhm noch höher heben. Und hinter Dayan stand Beigin, Minister und Führer der extrem rechten Zionisten, der seit langem selbst auf Jordanien Anspruch erhob als Teil des »historischen« Israel.

Ein reaktionärer Krieg ruft unvermeidlich die Helden, Stimmungen und Folgen auf den Plan, in denen sein Charakter und seine Ziele sich getreu widerspiegeln. Auf einer tieferen historischen Ebene findet in Israel die jüdische Tragödie ein trauriges Nachspiel. Israels Führer beuten zur Selbstrechtfertigung — und zwar übermäßig — Auschwitz und Treblinka aus; doch ihre Taten spotten der wahren Bedeutung der jüdischen Tragödie.

Die europäischen Juden zahlten einen furchtbaren Preis für die Rolle, die sie in den vergangenen Zeitaltern — unfreiwillig — als Vertreter der Marktwirtschaft, des 
»Geldes« unter Leuten gespielt hatten, die noch in einer natürlichen, geldlosen, ländlichen Wirtschaft lebten. Sie waren die hervorstechenden Boten des frühen Kapitalismus, Händler und Geldleiher in einer vorkapitalistischen Gesellschaft. Als der moderne Kapitalismus sich entwickelte, wurde ihre Rolle in ihm, obwohl noch immer hervorstechend, weniger als zweitrangig. In Osteuropa setzte die Masse des jüdischen Volkes sich aus verarmten Handwerkern, Kleinhändlern, Proletariern, Halbproletariern und mittellosen Bettlern zusammen. Aber das Bild vom reichen jüdischen Händler und Wucherer (dem säkularen Nachfahren der Kreuziger Christi obendrein) lebte weiter in der Folklore, blieb eingegraben in die Volksmeinung und hielt Mißtrauen und Furcht wach. Die Nazis griffen dieses Bild auf, vergröberten es zu kolossalen Dimensionen und hielten es den Massen beständig vor Augen.

August Bebel hat einmal gesagt, Antisemitismus sei der 
»Sozialismus der Narren«. Es gab diese Art »Sozialismus« im Überfluß und viel zu wenig von dem echten Sozialismus in der Ära der großen Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und der Massenverzweiflung der Dreißiger Jahre. Die europäischen Arbeiterklassen waren nicht imstande, die bürgerliche Ordnung zu stürzen; aber der Haß gegen den Kapitalismus war stark und weitverbreitet genug, um ein Ventil zu erzwingen und sich auf einen Sündenbock zu konzentrieren. Unter den unteren Mittelklassen, der Lumpenbourgeoisie und dem Lumpenproletariat brach ein frustrierter Antikapitalismus auf mit Angst vor dem Kommunismus und neurotischem Fremdenhaß. Diese Stimmungen nährten sich von den Brocken einer zerfallenden historischen Wirklichkeit, welche der Nationalsozialismus aufs Äußerste ausnutzte. Der Anreiz des nazistischen Judenköders war zum Teil deshalb so gewaltig, weil das Bild vom Juden als dem fremden und bösen »Blutsauger« für viel zu viele Leute noch akut war. Das erklärt auch die ziemliche Gleichgültigkeit und Passivität, mit der so viele Nichtdeutsche dem Massaker an den Juden zusahen. Der Sozialismus der Narren beobachtete fröhlich, wie Shylock in die Gaskammer geführt wurde.

Israel versprach nicht nur, den Überlebenden der europäisch-jüdischen Gemeinden eine 
»Nationale Heimat« zu gewähren, sondern sie auch vom fatalen Stigma zu befreien. Das war die Botschaft der Kibbuzim, des Histradrut und im großen und ganzen sogar des Zionismus. Die Juden sollten aufhören, unproduktive Elemente zu sein, Ladenbesitzer, wirtschaftliche und kulturelle Zwischenträger, Boten des Kapitalismus. Sie sollten sich »in ihrem eigenen Land« als »produktive Arbeiter« ansiedeln.

Doch erscheinen sie jetzt im Nahen Osten erneut in der Sonderrolle des Agenten, nicht so sehr ihres eigenen, ziemlich schwachen Kapitalismus als vielmehr mächtiger westlicher Interessen, und als Protégés des Neokolonialismus. So sieht die arabische Welt sie nicht ohne Grund. Wieder einmal wecken sie bittere Gefühle und Haß bei ihren Nachbarn, bei all denen, die einst Opfer des Imperialismus waren oder noch sind. Was für ein Verhängnis für das jüdische Volk, dazu geschaffen zu sein, in dieser Rolle aufzutreten! Als Agenten des Frühkapitalismus waren sie noch Pioniere des Fortschritts in einer Feudalgesellschaft; als Agenten des späten, überfälligen imperialistischen Kapitalismus unserer Tage ist ihre Rolle vollends kläglich. Und wieder einmal werden sie in die Position des potentiellen Sündenbocks gedrängt. Muß die jüdische Geschichte auf diese Weise ihren Kreis vollenden? Das könnte leicht das Ergebnis der israelischen 
»Siege« sein; und davor sollten Israels wahre Freunde es warnen.

Die Araber auf der anderen Seite müssen sich vor dem Sozialismus oder Antiimperialismus der Narren in acht nehmen. Wir vertrauen darauf, daß sie ihm nicht verfallen werden; daß sie aus ihrer Niederlage lernen und sich von ihr erholen, um die Grundsteine eines wahrhaft fortschrittlichen, eines sozialistischen Nahen Ostens zu legen.

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* Dokumentiert aus der New Left Review, London, 44/1967, deutsch in der Edition Voltaire, Frankfurt, 08/1968 erschienen