»Brecht statt Plauderstadl« – eine Intervention von Richard Mayr
(in Augsburger Allgemeine v. 10.02.12, alle Zitate daraus)



"Wer im Verlauf dieses Festivals hört, wie Bertolt Brecht über seine Zeit geschrieben hat, wie er für die Widersprüche der Gegenwart Worte gefunden hat, staunt. Sprache kann Wirklichkeit begreifen, geistreich und schonungslos."

Sprache ist das Instrument der Begriffsbildung schlechthin. Jeder Begriff wird durch sie ausgedrückt, sie ist somit der Inbegriff des Begriffs. Es stellt sich daher die Frage, was die Leute mit den Begriffen ausdrücken, wenn sie sprechen oder schreiben und sich dazu schon vorher den Begriff im eigenen Schädel zurechtlegen. Mayr urteilt darüber:

"Was uns dort [in den Parlamenten] als politische Rede serviert wird, ist meist Schonkost – ein Schlagwortbrei, der die Widersprüche unserer Gegenwart höchstens in Ansätzen faßt."

Warum sollte das, wie er unterstellt, bedauerlich sein? Geht es der Politik etwa um eine Begriffsbildung über ihre Inhalte (Wirtschaft, Bildung, Rüstung, Recht, Familie, Arbeit usw.)? Das ist nicht der Fall. Der Politik geht es um ein von vorneherein feststehendes Interesse, das Staatsinteresse, das darin besteht, alles zu tun, die im Staat monopolisierte Gewalt zu stärken, auszubauen. Unter dieser Prämisse wird beispielsweise »unsere« Wirtschaft gestärkt, sollen möglichst viele Eigentumslose dafür in Dienst gestellt werden (weshalb Arbeitslosigkeit als solche auch für den Staat ein so großes Problem ist, wie der einzelne Arbeitslose ihm scheißegal ist, gar nie billig genug abgespeist werden kann) usw.

Insofern ist es begrifflich verhängnisvoll, von »unserer Gegenwart« zu sprechen. Schließlich geht es um die Gesellschaft, um die kapitalistische zumal und eine national ausgerichtet obendrein. Und das besitzanzeigende Wörtchen »unser« verstellt einen klaren Blick auf diese Gesellschaft wie jede Ideologie sie verstellen muß. Daß mit – dem jede objektivierende Distanz vermissenden – »Wir« nämlich auf den Nationalismus, eine allenthalben praktisch ins Recht gesetzte Ideologie, rekurriert wird, ist nicht zu übersehen. Im übrigen hat Brecht selber die Dummheit begangen, sich Deutschland als Nation zusammenzudenken. Zwar mit dem Zusatz sozialistisch, doch das macht die Sache begrifflich überhaupt nicht besser. Schließlich, und das führt die globalisierte Welt des Kapitals – welche Antonio Negri als »Empire« (Imperium) faßt – vor Augen, daß »Nation« dazu kein Widerspruch sein kann, der gleichzeitig den Anspruch auf Sozialismus einzulösen vermag. Die Aufhebung des Geldes allerdings sehr wohl, muß dafür jedes nationale Geld, jede Währung aufgehoben werden, wie viel oder wenig sie auch als Weltgeld taugt. Daß die per Geld »friedlich« vermittelte Konkurrenz der Nationen in eine kriegerische Konkurrenz purer Gewalt zu überführen, aber erst recht ein Unding ist, soll sie seinem eigenen, Brechtschem, sozialistischem Anspruch genügen, hätte ihm  durchaus auffallen können: Hitler eine Niederlage zu wünschen, kann doch unmöglich mit einer Parteinahme weder für den Kommunistenschlächter Stalin einerseits noch für einen alternativen Imperialismus der Marken USA und Großbritannien andrerseits einhergehen!

"Dabei können die richtigen Worte eine befreiende Wirkung haben. ..."
Die Betonung auf »richtig«! Ja, sicher. Nur: Wem geht es denn um die Unterscheidung von richtig und falsch? Dazu muß man doch immerhin Ziel und Zweck eines Vorhabens ins Auge fassen bzw. bei bereits Geschehenem den Grund dazu ermitteln, um richtige Schlüsse ziehen zu können. Doch das wird doch allenthalben eben durch den Staat, seine Gewalt und deren Handhabung mittels Recht und Rechtsprechung unterbunden. Geht es denn der Justiz um Wahrheitsfindung? Mitnichten. Erst neulich las man in der Neuen Szeneein Interview mit einer Jura-Studentin, die genau deshalb an ihrem Studium verzweifelt ist und es aufgegeben hat. Oder warum boomt das Medizinrecht? Es ist nicht schwer, das zu ermitteln, wenn man die Interessen, die widerstreitenden Interessen auf dem Gebiet einer mit Geld abgewickelten Medizin in Betracht zieht. Und es ist auch klar, daß in aller Regel der Besitzlose den Kürzeren zieht, wenn er es denn überhaupt wagt, sein Recht einzufordern, denn er scheut, angesichts drohenden Mißerfolgs (und selbst ein Vergleich bereitet ihm nur Kosten) eben das zu tun. Oder warum boomen die Patentrechte, die »geistiges Eigentum« schützen? Sie sind ein Mittel der ökonomischen Konkurrenz: Um nur ein Beispiel zu erwähnen. In Augsburg wurde EADS umvergesellschaftet zu Premium Aerospace, damit ein Konkurrent (Boeing) für seine eigenen Flugzeuge Teile aus Kohlenfaserstoff einkaufen kann (der »Dreamliner« fliegt nicht ohne Produkte aus Augsburg), für die die (monopolisierten) Patente in Augsburg liegen. Boeing verbietet es sich nämlich selber, beim direkten Konkurrenten EADS zu kaufen (umgekehrt wäre es wohl nicht anders). Ja die »Aerospace Area Augsburg« (Premium Aerotec zusammen mit dem Ariane-Teile-Hersteller MT Aerospace) ist in der Tradition von Messerschmitt schon wieder ziemlich am Abheben und wohl niemand hätte es besser verstanden als Brecht, die Area mit einer Ära in Verbindung zu setzen, die einem Krieg vorausgeht....

Doch zurück zum Recht und seiner antibegriffsbildenden Stellung. Ja, formell sind alle nationalen Untertanen in einer Demokratie vor dem Gesetz gleich. Doch das Gesetz ist gar nicht dafür gedacht, daß sich ausgerechnet die Underdogs der Gesellschaft darüber schadlos halten können. Es ist ja das Gesetz eines Klassenstaats, der die Vereinbarkeit widerstreitender Interessen damit zu regeln beabsichtigt. Infolgedessen ist das Gesetz so gerecht wie zynisch.

"Schonungslos fiel seine [Brechts] Analyse der Gegenwart [schon wieder dieses Quidpronihil] aus. Er benennt die Ungerechtigkeit in der Verteilung der Güter, er schreibt vom Widersinn des Kriegs, geschürt sowohl von den Faschisten als auch den Kapitalisten. Und er führt vor Augen, daß das Begreifen der Verhältnisse der erste Schritt der Besserung ist."

Ob das seine Interpretation von Brecht ist, oder ob das Brecht irgendwo genau so gesagt hat, einerlei. Man kann dem entnehmen, daß der eine (Brecht) oder der andere (Mayr) erst am Anfang seiner Suche steht. Denn: Ginge es einer kapitalistischen Gesellschaft um die Verteilung von Gütern, dann gäbe es wohl längst keine Hungernden, Frierenden und Obdachlosen mehr. Ein Irrtum wäre es zudem zu meinen, ausgerechnet dafür müßte der Staat mit seiner Gewalt Sorge tragen. Das macht er sogar, aber nur sehr, sehr bedingt, nämlich insoweit, wie es für seine wirklichen Interessen nützlich ist. Und wenn es schon um Gewaltausübung im weiteren Sinne und größeren Stile geht, dann wäre doch gerade das Subjekt dieser Gewalt, der Staat mal unter die Lupe zu nehmen, dann stößt man diesbezüglich möglicherweise auf einen kleinen feinen Unterschied zwischen einem demokratischen und einem faschistischen Staat. Und dann wäre noch das Verhältnis von Staat und Kapital einmal grundsätzlich zu klären. All das hat Brecht zwar angesprochen, aber nicht angepackt, schon gleich nicht richtig, nur ansatzweise und bisweilen irreführend (sein Blick auf KPD, SED und den Realsozialismus hat ihm dabei sicherlich geschadet, verfolgten jene doch das Konzept eines besseren Staates).

"Er, bei dem so viel zu finden ist, wurde im Westen als Parteidichter geschmäht, weil ihn der Osten als Parteidichter zu vereinnahmen suchte. Beides schadete seinem Werk nachhaltig, weil es Leser noch vor der ersten Zeile verprellte. Dabei hat die Lektüre von BBs Werken ja gerade das geboten, was einem Politik so oft versagt: einen Blick auf die Wirklichkeit, ohne daß man mit falschen Versprechen geködert wird."

Hand aufs Herz, ist es nicht herrschende Absicht, Leute vom Lesen der Schriften abzuhalten, die dem eigenen, dem etablierten Interesse nicht zuträglich sind? Hat die AZ denn das Studium von Brecht empfohlen? Auf Apolitisches beschränkt, ja, und das im wesentlichen auch nur nach 1989 zu seiner Vermarktung als großem Sohn der Stadt. Ganz abgesehen davon, daß sie es auch heute unterläßt, den Augsburger Revolutionär Johann Most aus der Versenkung zu holen, oder Marx' Kapital einem Erkenntnisinteresse zu empfehlen, das sie tagtäglich unterdrückt. 

Das wäre ja mal eine Gegenwart! Gegenwart! In der Gegenwart wird alles Systemkritische ignoriert, allenfalls als irrelevant in die Ecke gestellt. Hat denn je einer an Marx' Kapital Geschulter zur Finanzkrise ein Podium, das zu besteigen ihn die allenthalben unwissenden Politiker, Journalisten und Wirtschaftsexperten einladen? Warum? Auch das ist einfach zu beantworten: Marx bietet einen Ausweg aus der Krise, aber nicht den, den sie wollen. Sie wollen stattdessen einen solchen mit all ihrer Macht verhindern. Dafür liegt ihnen sogar die Arbeiterklasse am Herzen: In ihrer Dummheit, ihrer Parteigängerei für ein System, von dem sie nichts hat (außer ziemlich viel Scheiße)...

Ob Vergangenes hervorgezerrt wird, richtet sich nach dem Verwertungsinteresse der etablierten Gesellschaft. Brecht ja, aber nicht zu politisch, lieber »Brecht und Musik«, »Brecht und Theater«, »Brecht und Roy Black«, »Brecht und seine Familie«, »Brecht und seine Schulzeit in Augsburg«, »Brecht und Boxen«, »Brecht und der Holunderbusch« usw.

Ja, für ihre nationalen Probleme, hätten die Herren Nationalisten in Politik und Publizistik doch schon gerne einen wie Brecht:

"Fast unlösbare Probleme haben WIR mehr als genug: hier UNSER Energiehunger, dort die schwindenden Ressourcen, hier ein Arbeitsmarkt, der auf Wachstum ausgerichtet ist, dort eine schrumpfende Bevölkerung. Vor diesen Widersprüchen versagt die Politik." (Hervorhebungen: KoKa)

Was sie natürlich nach Meinung von Mayr nicht sollte. Ob die genannten »Probleme« auch die Brechts waren bzw. gewesen wären, wenn er heute lebte, egal. Es sind »unsere«. Und wenn wir Brecht dafür in Beschlag nehmen, haben wir ein Problem mehr: Wie Brecht auf unsere Probleme anwenden, wo es doch kraft seiner Sprachgewalt so praktisch wäre? Die genannten Probleme zu denen Brechts zu machen, um dafür die Lösungen für uns beanspruchen zu können! Das ist doch geradezu marxistisch ausgereifte Dialektik!

»Leider« ist es freilich so, daß Staat und Kapital mitsamt ihren Problemen beerdigt werden müssen, wollen die etwas vom Leben haben, die jetzt kurzgehalten werden! Da liegt der Brecht dann einer systembewußten Arbeiterklasse doch näher als den Apologeten der demokratisch-marktwirtschaflichen Gesellschaft, zu der sie immer hinzufügen müssen, daß sie zumindest besser als alles Denkbare ist. Bei soviel Fantasie, wie die an den Tag legen, hätte es der Brecht nicht so weit gebracht, so weit, bei ihnen heimisch zu werden...

14.02.12