Armut — und die
famosen Leistungen ihrer demokratischen Betrachtung
Unsere Demokratie verschweigt die Armut in der Gesellschaft
nicht, sondern beschäftigt das Publikum mit der
Veröffentlichung ihrer wissenschaftlichen
Zählung als »statistisch signifikante«,
also durchaus verbreitete Erscheinung. FDP-Rösler, der den
neuesten Bericht hat frisieren lassen, mag das schädlich
finden für den Leistungswillen und den guten Ruf unserer
Marktwirtschaft. Die professionellen
Öffentlichkeitsarbeiter wissen es besser: Armut
stellen sie dar als »Problem«, nicht als
Produkt »unserer reichen Gesellschaft«, das
»gerade uns« und auch den Armen Ansporn sein
muß. Damit ist schon fast alles auf dem konstruktiven Gleis:
Für die Bewältigung von Armut, nicht
für ihre Erzeugung, dafür ist in dieser Sicht
»unsere Wirtschaft« zuständig. Die
Wirtschaft mit ihren Arbeitsplätzen und deren
Rationalisierung, der Staat mit seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik
müssen demnach energischer weitermachen —
wie bisher.
Für diese Botschaft braucht es allerdings eine gewisse
wissenschaftliche Heraus-Präparation der
kapitalistischen Armut aus dem Kapitalismus, der sie erzeugt und
ausnutzt, zum Defekt unserer gelobten Wohlstandsgesellschaft.
Wie machen das die regierungsamtlichen Armutsforscher?
Warum und wozu läßt die Regierung periodisch
Armut und Reichtum durchleuchten?
Wie gehören Armut, Arbeit und Reichtum in unserer
Wirtschaft zusammen?
Armut gehört für jeden ersichtlich zum festen
Inventar unserer schönen deutschen Marktwirtschaft.
Die brummt derweil und legt seit der Krise von neulich eine
jährliche Steigerung der Exportüberschüsse,
der Staatseinnahmen und des DAX nach der anderen hin.
Man könnte angesichts dessen das Offensichtliche zur
Kenntnis nehmen: Der Reichtum der Nation verträgt
sich wunderbar mit massenhafter Armut unter ihren Einwohnern.
Und jeder weiß ja auch, daß der nationale
Reichtum nicht als große Liste nützlicher
Güter bilanziert wird, mit denen die materiellen
Bedürfnisse der Leute zu befriedigen wären, sondern
als Geldsumme: als Summe der Gewinne, die kapitalistische
Unternehmen erwirtschaften, die ausschließlich ihnen
gehören und für die sie eine einzige Verwendung
wissen — den Einsatz für die
Erwirtschaftung noch größerer Gewinne. Daß
das am besten dann funktioniert, wenn die Arbeitskräfte,
derer sie sich dafür bedienen, möglichst
wenig Lohn bekommen — auch das gehört zum
Allgemeinwissen: Jeden Tag verkünden Politik und
Wirtschaft, daß der konkurrenzlos effektive Niedriglohnsektor
samt aller begleitenden Regelungen eines der entscheidenden
Erfolgsgeheimnisse des deutschen Wirtschaftserfolges darstellt.
Man könnte von daher zu dem Schluß kommen,
daß die Armut derer, die den Reichtum der
Gesellschaft produzieren, notwendige Folge wie nützliches
Mittel für diesen Reichtum ist. Und man könnte der
Frage nachgehen, warum und wie die Arbeit den Reichtum derjenigen
mehrt, die arbeiten lassen, aber denen, die auf Arbeit und
Einkommen angewiesen sind, weder ein ordentliches Auskommen noch
überhaupt die Gelegenheit, sich eines zu verdienen, sichert...
Wie gesagt: So könnte man dem offensichtlichen Sachverhalt auf
den Grund gehen. Muß man aber nicht.
Man kann nämlich auch
— Armut als schweres Schicksal bedauern und
daran erinnern, daß sich hinter den
»anonymen Zahlen konkrete Menschen
verbergen«. Mit dieser Verschiebung von Armut auf die
individuelle Betroffenheit der Armen und die Beteuerung, daß
das niemand wollen kann, hat man deren »Schicksal«
schon einmal grundsätzlich von dem System der
Marktwirtschaft abgetrennt, in dem Armut entsteht und sich
endlos reproduziert.
— darüber herumrechten, welche Formen von
materieller Beschränktheit und Opferung von Lebenszeit
für den Kampf um die immer prekäre Existenzsicherung
überhaupt das Etikett »Armut« und
damit das allgemeine Mitleid verdienen. Auf diese Weise gelangt man
garantiert zu einer Definition von Armut, die sie aufs Komma genau als
Abweichung von einem rechnerischen Durchschnitt beschreibt. Und wenn
Armut die Abweichung von einem Durchschnitt ist, dann ist
damit streng mathematisch bewiesen, daß die
Millionen Fälle von Armut millionenfache individuelle
Ausnahmen von der Regel sind, die man so gleich miterfunden hat:
daß beim »normalen« Arbeitsvolk von Armut
jedenfalls im Prinzip keine Rede sein kann.
— diese Millionen ausnahmsweisen Armutsfälle als
Fälle eines eingetretenen individuellen Armutsrisikos
problematisieren und die These aufstellen, daß
Umstände wie Kinder, Ausbildungsnachteile, Krankheit, Jugend,
Alter ... dieses Risiko erhöhen. Auf die Weise hat
man ohne großes Aufheben die marktwirtschaftliche
Verrücktheit einfach so durchgewunken, daß
mitten in einer hochgradig arbeitsteiligen und auf immer neuem
technologischen Niveau produzierenden Gesellschaft ausgerechnet das
materielle Leben und Auskommen das Abfallprodukt eines
privaten Kampfes auf sich allein gestellter Individuen ist. Nur um
diese üble Wahrheit in die Lüge zu verwandeln,
daß dann die Gründe für ein
»Abrutschen in die Armut« in den privaten
Lebensumständen der Einzelnen liegen müssen
— die sich wie durch ein Wunder allesamt bei denen
einfinden, die auf Erwerbsarbeit angewiesen sind und die
regelmäßig zu spüren bekommen,
daß sich diese Abhängigkeit nicht mit einem
ordentlichen Leben, nicht mit Kinderkriegen, Alleinerziehen und
Alleinverdienen, nicht mit Krank- und Altwerden... verträgt.
— schließlich vom Staat
»Beschäftigungspolitik« fordern. Auf die
Weise hat man dann endgültig Lohnarbeit in das
Gegenteil von Armut verwandelt. Peinlich ist das nicht nur
deswegen, weil zugegebenermaßen Armut in der
Marktwirtschaft die Lage oder das Risiko just derjenigen ist,
die auf Lohnarbeit angewiesen sind. Sondern obendrein erfährt
man doch auch, daß der Staat dem Begehr nach
möglichst vielen Arbeitsplätzen am effektivsten
dadurch Rechnung trägt, daß er gesetzliche
Bedingungen des »Arbeitgebens« schafft, die
allesamt eine Stoßrichtung haben: Sie zielen darauf, das
Verhältnis von Lohn und Leistung für die
kapitalistischen Unternehmen zu optimieren, also für
die Arbeitenden möglichst ununterscheidbar von den Sorten von
Armut zu machen, gegen die Beschäftigung das
Allheilmittel sein soll. Damit wird
— ganz nebenbei — eingestanden, was die wirkliche
Unterscheidung ist, die die Marktwirtschaft zwischen
»echter« Armut und allen anderen
prekären Formen des Auskommens überhaupt nur kennt:
Armut liegt marktwirtschaftlich betrachtet und als Problem
seiner staatlichen Betreuer nur dort vor, wo Arbeitskräfte
nicht kapitalistisch produktiv genutzt werden, wo sie also nicht in der
Doppeleigenschaft als möglichst weidlich
auszunutzender Produktionsfaktor und zugleich sparsamst zu
kalkulierender Kostenfaktor gewinnbringend zur Anwendung kommen.
Und Linke, allen voran die gleichnamige Wahlpartei samt ihrer
Vordenkerin Wagenknecht?
Auch die wollen von Lohnarbeit und der
schäbigen Stellung, die ihr im System
kapitalistischer Reichtumsproduktion zukommt, nichts mehr
wissen. Lieber rufen sie »Sozial statt Krise!« So
geben sie zu Protokoll, daß ihnen gegen die
Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus gegen die
Nöte und Notwendigkeiten seiner dienstbaren Massen kein
anderes Argument einfällt, als daß er sich damit am
Ende noch ins eigene Fleisch schneidet. Und mit der Parole
»Reichtum umverteilen« ergänzen sie diesen
Opportunismus um eine nicht minder große Lüge: Der
Reichtum des Kapitalismus sei letztlich doch so etwas wie ein im
Prinzip für alles verwendbarer großer Topf, der
leider die Tendenz hat, immer zu der Seite derjenigen hin
überzulaufen, die ihn nicht erarbeiten, sondern erarbeiten
lassen. Für die Linke bedarf es bloß der beherzten
Umverteilungspolitik des Staates, der sich mehr an diesem Reichtum
bedienen und ihn dann zu denen hinlenken soll, die ihn schaffen, aber
immer weniger zu Gesicht bekommen.
Wie sie auf die Albernheit
kommen, der Grund für Armut sei ihre fehlende staatliche
Bekämpfung — das bleibt das Geheimnis der
Linkspartei. Ebenso wie die Idee, ausgerechnet der Staat, der dieses
System nützlicher Armut einrichtet, könnte
genauso gut für alles Gute und Schöne zu haben sein.
Kein Geheimnis ist dagegen, wofür sie ihr Publikum
mit diesem Mist behelligen: Sie bieten sich allen materiell
Unzufriedenen als alternativ wählbare Armuts- und
Reichtumsbetreuer an. Auch Linke legen heutzutage die vom Kapitalismus
per Benutzung oder per Nichtbenutzung Geschädigten
auf die Perspektive fest, daß sie bloß
ohnmächtige und abhängige Anhängsel
wirtschaftlicher Kalkulationen und staatlicher Regelungen sind, und
daß das, was sie gegen ihre Armut tun können, nur in
einem besteht: Statt eigener Einmischung ein Kreuz für die
Linke in die Wahlurne!
(gs-Bremen, 04-2013)
[Abbildung: KoKa-Entwurf für ein künstlerisch
wertvolles demokratisches Wahlplakat; kann selbstverständlich auch
von CDU oder FDP — mit eigenem Parteinamen versteht sich
—gekauft werden! Für die FDP ist es allerdings erheblich
teurer — ein Reichtumszuschlag wird erhoben!]