ZWISCHEN
CACEROLAZOS UND PIQUETER@S
IN ARGENTINIEN
MOBILISIEREN RECHTE UND LINKE ORGANISATIONEN GEGEN DIE REGIERUNG VON
CRISTINA FERNÁNDEZ DE KIRCHNER
Die innenpolitische Lage in Argentinien verschärft sich zunehmend.
Massenproteste, ein Generalstreik und die
»Geier«-Hedgefonds setzen Präsidentin Fernández
de Kirchner unter Druck. Während eine Allianz rechter Parteien und
Organisationen die Krise im Finanzsektor zur eigenen Profilierung
nutzt, stellen Gewerkschaften und linke Organisationen*
sozialpolitische Forderungen. Kirchner zeigt sich bislang unbeeindruckt.
Es hält seit Jahrzehnten den Rekord für die schnellste
Transatlantik-Überfahrt und ist der ganze Stolz der argentinischen
Marine: das Segelschulschiff Libertad. Paradox mutet es an, daß
der »Freiheit« getaufte Dreimaster nun fest vertäut
als Kaution für einen Hedgefond im Hafen der ghanaischen Stadt
Tema liegt. Das Finanzunternehmen NML Capital hat die Beschlagnahmung
zur Begleichung von Staatsschulden erreicht. Den Hintergrund bildet die
Auseinandersetzung über die Zahlung der Auslandsschulden
Argentiniens, die 2001 zum Wirtschaftscrash führten. Damals
verkündete das südamerikanische Land, 81 Milliarden US-Dollar
Schulden nicht bedienen zu können. Dies wiederum kulminierte in
Massenprotesten, welche die Absetzung des damaligen Präsidenten
Fernando de la Rúa nach sich zogen. Nachdem es 2002 zu einer
Aussetzung der Schuldenrückzahlungen gekommen war, nahm
Néstor Kirchner nach einem zweijährigen Moratorium die
Verhandlungen über die Zahlungen wieder auf.
2005 und 2010 wurden in zwei Schritten die Modalitäten für die
Zahlung von 93 Prozent der Verbindlichkeiten festgelegt. Zum Vorteil
Argentiniens: Die Gläubiger_innen gaben sich mit weniger als 30
Prozent des Nennwerts ihrer Schuldscheine zufrieden.
Bis heute strittig
sind allerdings die verbleibenden sieben Prozent, die sich auf
besonders hartnäckige Hedgefonds aufteilen. Diese Unternehmen, wie die
Hedgefonds-Gruppe Elliot Management des US-amerikanischen Milliardärs Paul
Singer, zu der auch NML Capital gehört, haben sich auf den Ankauf von extrem
vergünstigten Anleihen von Pleitestaaten spezialisiert.
Im Fall von
Argentinien wurde kurz vor der Krise 2001 mitunter nur ein Fünftel der Preise
für staatliche Schuldscheine bezahlt. Die Investor_innen, die von
Präsidentin Cristina Kirchner als »Geierfonds« (fondos buitre) bezeichnet
werden,
gehen zwar ein hohes Risiko ein. Jedoch haben sie dank versierter
Jurist_innen und ihres Gerichtsstands in den Vereinigten Staaten
hohe Gewinnmargen in Aussicht.
Die Praxis dieser »Aasgeier« hat der
Richter Thomas Griesa, der auf derartige Verfahren spezialisiert ist, am
New Yorker Bezirksgericht Ende November gebilligt. Er gab der Klage von
NML Capital Recht und forderte Argentinien auf, innerhalb von 30 Tagen die
Ausstände in Höhe von 1,3 Milliarden US-Dollar plus Zinsen gegenüber dem
Hedgefonds zu begleichen. Die argentinische Regierung lehnt das ab. Aus gutem
Grund: Wenn jetzt der gesamte Nennwert gezahlt würde, müßten die
Schulden, die bis dato nicht vom Schuldenschnitt geregelt wurden, aller
Voraussicht nach vollumfänglich zurückgezahlt werden. Außerdem sind Klagen
von den Fonds zu erwarten, die seinerzeit einer Einigung
zustimmten.
Zurzeit kann die Regierung Kirchner aber erst einmal durchatmen. In der
Berufungsinstanz hat sie einen Etappensieg errungen – das Urteil
Griesas wurde vorerst kassiert und eine Neuverhandlung Ende Februar
anberaumt. Bei Nichterfüllung hätte das Gericht die
Auszahlung der nächsten Rückzahlungstranche am 15. Dezember
blockieren können, die über eine New Yorker Bank abgewickelt
wird. Dann hätte der Zahlungsausfall gedroht. Angesichts dessen
ließ sich die Ratingagentur Fitch nicht lange bitten und setzte
die Kreditwürdigkeit des südamerikanischen Landes gleich um
fünf Stufen von »B« auf »CC«
(wahrscheinlicher Zahlungsausfall) herab.
Derartige Querelen im
Finanzsektor kommen Cristina Fernández de Kirchner ungelegen, denn die
innenpolitische Lage verschärft sich zunehmend. War sie nach dem
überraschenden Tod ihres Mannes Néstor 2011 noch mit einer
haushohen
Mehrheit von 54 Prozent als Präsidentin wiedergewählt worden,
befinden sich ihre Zustimmungswerte seit einiger Zeit im Keller.
Ursache für die Regierungskrise sind Korruptionsskandale in den Reihen
hochrangiger Regierungsbeamt_innen.
Dazu kommen Berichte über die
persönliche Bereicherung der Familie Kirchner seit Beginn der Amtszeit und
ein bisweilen selbstgerechter Regierungsstil des Staatsoberhaupts, der bei
vielen Argentinier_innen auf Unverständnis stößt. Ein weiterer Kritikpunkt
betrifft die Absicht Kirchners, sich mithilfe einer Verfassungsänderung eine
dritte Legislaturperiode zu ermöglichen.
Die rechte Opposition versucht,
die schlechte Konjunktur zum eigenen Vorteil zu nutzen. Nach einem
Protesttag im Oktober rief sie unter dem Slogan 7N zu massenhaften Protesten
gegen die Regierung am 7. November auf. Die genaue Zahl der Teilnehmenden
bei der cacerolazo genannten Kochtopf-Demo bleibt unklar – je weiter die
jeweiligen Medien vom Linksperonismus Kirchners entfernt sind, desto höher
die veröffentlichte Zahl. Die Tageszeitung Clarín bezifferte die Menge der
Teilnehmenden auf 700.000, die linksliberale Página/12 sprach von 70.000.
Die Protestierenden, vor allem der Mittelschicht zugehörig, demonstrierten
mit Kochtöpfen, Nationalfahnen und selbst gemalten Schildern gegen die
Person Kirchners sowie gegen Unsicherheit, Steuererhöhungen, Korruption und
Inflation. Parteifahnen und politische Gruppierungen waren kaum zu sehen,
Funktionär_innen hielten sich im Hintergrund. Das entsprach dem Plan der
Organisator_innen, die im Vorfeld via Internet
Verhaltensregeln veröffentlicht hatten, die dem Protest einen
unpolitischen Anstrich geben sollten.
Die Absicht ist aber durchaus
politisch, denn es geht um die Destabilisierung der Regierung. Trotz des
Versuchs, die Hinterleute der Proteste zu verschleiern, ist dank Analysen von
Facebook-Aufrufen deutlich geworden, welche Allianz sich dahinter verbirgt. Da sind zum einen die Parteien
vom (wirtschafts-)liberalen und bis zum ultrarechten Spektrum zu nennen,
wie beispielsweise die Parteienallianz PRO des konservativen
Bürgermeisters von Buenos Aires, Mauricio Macri. Er gab den
Stadtangestellten für die Teilnahme an der Demonstration frei. Weiterhin
gehören zu dem Vorbereitungskreis ehemalige Militärfunktionär_innen,
Großgrundbesitzer_innen und verschiedene Stiftungen, die als Denkfabriken der
Rechten fungieren. Hierzu zählt auch die FDP-nahe
Friedrich-Naumann-Stiftung, die bereits in Honduras ihre
antidemokratische Gesinnung offenbarte und eine unrühmliche Rolle bei der
Unterstützung der Putschist_innen spielte. Zur medialen Strahlkraft der
regierungskritischen Perspektive trägt neben einer Reihe von Weblogs auch die
mächtige Clarín-Mediengruppe bei. Letztere ist nicht nur für ihre Nähe zur
letzten argentinischen Diktatur bekannt, sondern liefert sich auch mit
Cristina Kirchner seit Jahren eine öffentliche Schlammschlacht.
Trotz
dieser Zusammensetzung waren es keineswegs nur – wie Kirchner unentwegt
betont – Putschist_innen und Faschist_innen, die ihre Unzufriedenheit zum
Ausdruck brachten. Die Kochtopf-Proteste, die sich in ihrer
Ausdrucksform an jene aus dem Jahr 2001 anlehnten, machen deutlich, daß
sich weite Teile der Bevölkerung trotz einer Verbesserung ihrer
Lebenssituation nicht mehr vom parlamentarischen System
repräsentiert sehen – auch nicht von der Opposition. Diese konnte zwar
einen numerischen Erfolg erzielen, aber die politischen Gegner_innen
der Staatschefin halten es wegen ihrer Zerstrittenheit wohl selbst nicht
für möglich, eine frühzeitige Ablösung Kirchners zu erreichen.
Cristina Kirchner machte unlängst deutlich, daß trotz des
Drucks kein Kurswechsel zu erwarten ist. In einer Rede
anläßlich der alljährlichen Feier zum Ende der Diktatur
im Dezember 1983 verkündete sie, auch weiterhin für die
Demokratisierung der staatlichen Institutionen einzutreten. Nach
Regierungsangaben nahmen an den Feierlichkeiten in Buenos Aires 400.000
Menschen teil, im Landesinneren sollen es noch einmal so viele gewesen
sein. Die regierungsnahen Organisationen nutzten die Gelegenheit zur
Solidaritätsbekundung mit Kirchner. Die veröffentlichten
Teilnehmer_innenzahlen sind im wesentlichen als diskursiver
Gegenangriff der Administration Kirchner zu verstehen. Obgleich
sozialpolitische Organisationen und linke Parteien die Staatschefin
kritisieren, kann diese in den vergangenen neun Regierungsjahren eine
Reihe von sozialen Errungenschaften für sich verbuchen.
Argentinien ist wahrscheinlich das einzige Land, das die sozialen
Sicherungssysteme nach vorheriger Privatisierung wieder verstaatlicht
hat. Zudem hat sich nach einem Bericht der Weltbank wieder eine
Mittelschicht auf dem Niveau der 1990er Jahre etabliert und die
arbeitende Bevölkerung konnte in den letzten Jahren dank
wirtschaftlichem Aufschwung und der Formalisierung vieler
Arbeitsverhältnisse profitieren.
Dennoch –
oder man könnte auch sagen gerade deswegen – flammen die Sozialproteste
momentan wieder auf. Um den Druck von links auf die Regierung zu erhöhen
und um den cacerolazos von rechts auch auf der Straße eine Antwort
von unten entgegenzusetzen, haben Gewerkschaftsverbände zusammen mit
sozialen Bewegungen Ende November einen Generalstreik durchgeführt. Dank
der breiten Resonanz ihrer Forderungen in der Bevölkerung und der
Unterstützung von piqueter@-Organisationen, die nach
altbekannter Manier die Zufahrtsstraßen der Hauptstadt und wichtiger
Städte im Landesinneren blockierten, kam der Alltag im Land weitgehend zum
Erliegen. Der Forderungskatalog war sehr konkret gehalten und richtete
sich statt an die Arbeitgeber_innenseite vor allem an die Regierung. Verlangt
wurde unter anderem die Festlegung eines Mindestlohns in Höhe von 5.000
argentinischen Pesos (knapp 800 Euro).
Ob die Renaissance der
Arbeitskämpfe der Administration Kirchner nützen oder nicht, ist
unklar. Klar ist aber, daß weite Teile der Opposition sich fragen müssen,
ob ihnen der Stein, den sie ins Rollen brachten, wirklich nützlich ist. Ein
Indiz dafür wird sein, ob es den sozialen Bewegungen gelingt, der
Gewerkschaftsbürokratie und dem Kirchnerismus eine basisdemokratische
Konstruktion von unten entgegenzusetzen. Das ist das erklärte Ziel der am
Streik beteiligten Frente Popular Darío Santillán, einer der wichtigsten
Gruppierungen der außerparlamentarischen sozialpolitischen Opposition
Argentiniens.
Christian Rollmann / Lateinamerika-Nachrichten
online exklusiv für KoKa-Augsburg
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* Im gedruckten Text steht »linke Parteien«. Dies wurde auf
Wunsch der Autors korrigiert, er wurde falsch wiedergegeben.
(08.01.12)