Barbara Alberti
Böse Erinnerungen
Dieser
1976 geschriebene Roman hat weniger von seiner Aktualität eingebüßt,
als es beim ersten Lesen den Anschein hat. Die tief verwurzelten
Einstellungen kommen – nicht nur in Italien – in der ein oder anderen
Weise immer wieder ans Tageslicht:
"...
Großmutter Santina liebte Gott und haßte die Menschen. Sie tat keinem
etwas zuleide. Denn nicht einmal der leidenschaftliche Groll, den sie
gegen alle hegte, ließ sie ihre Angst vergessen. Nach Großvaters Tod
kam kein Fremder mehr ins Haus. Der Vertrauensmann blieb auf der
Schwelle stehen, berichtete über die ausgeführten Aufträge und
verschwand in Windeseile, während die Haustür hinter ihm zugeschlagen
wurde. Die Familie hatte drei Arten von Feinden.
Erster Feind: die Anderen.
Alle anderen. Sie lagen immer auf der Lauer, um sich der häuslichen Geheimnisse zu bemächtigen.
Die
Anderen wollten wissen, was gekocht wurde, wieviel Geld wir hatten und
ob wir in Eintracht lebten. Sie existierten nur, um diese Dinge
herauszubekommen, die sie dann zu geheimnisvollen Zwecken und zu
unserem Schaden benützt hätten.
Mit den Anderen durfte man nie sprechen. Und wenn man doch dazu gezwungen war, durfte man nichts verraten.
»Hunde, Hunde«, schimpfte Großmutter sie.
Zweiter Feind: die Bolschewisten.
In
einem fernen, mit Schnee bedeckten Land bereiteten die Bolschewisten
sich darauf vor, uns zu überfallen. Santina beschrieb ihre schweren
Pelze und ihre weißen, augenlosen Masken. Sie waren mit Sensen
bewaffnet, wie der Tod. Ihr Weg war mühsam, sie kämpften sich durch
Wolfsrudel und Schneegestöber, sie sangen Schimpfworte und lachten über
die Madonna. Und all das diente nur dazu, uns umzubringen. Auch die
Kinder. Und alles zu stehlen.
Wir beteten viel gegen die Bolschewisten. Damit Gott sie im Boden versinken ließ, hinunter bis in die Hölle.
Auch
sie nannte Großmutter »Hunde, Hunde« und spuckte schnell in eine
gewisse Richtung, wo sich ihrer Meinung nach Rußland befand.
Außerdem bestand der Verdacht, daß die Anderen auch Bolschewisten sein könnten.
Denn
die aus dem fernen Land kommenden hatten heimliche Verbündete unter
unseren Leuten. Wer nicht in die Kirche ging, wer sich betrank, wer
unordentlich angezogen war, konnte ein Bolschewist sein.
Dritter Feind: der Teufel.
Was für ein schrecklicher Feind war der Teufel.
Gegen die Anderen und die
Bolschewisten konnte man sich wehren, indem man die Tür
verschloß und einen Rosenkranz betete.
Aber Satan kann vielerlei Gestalt annehmen, Satan ist die Welt.
Keine
seiner Erscheinungsformen entging mir. Satan ist die Sonne, in die man
schaut, ohne gebetet zu haben, und die versucht, die Seelen mit ihrem
lügnerischen Licht zu verwirren.
Satan ist der rotbraune Kater, der die Katzen im Haus schwängert und wollüstig auf den Dächern miaut.
Satan ist der Mond, der hinter der Pappel aufsteigt und die heilige Hostie nachäfft.
Satan ist die Musik, die von der Straße hereindringt und dich ohne Grund zum Lachen bringt.
Satan
ist überall, und der Straßenhändler ist sein Sklave, wenn er an die
Haustüren pocht, um die ehrbaren Hausfrauen in Versuchung zu bringen.
(Die Anderen waren Stammkunden des Straßenhändlers und damit auch des
Satans.)
Satan
ist in jedem Spiegel. Man braucht sich nur in die Augen zu schauen.
Dann muß man sich sofort bekreuzigen, ohne eine Minute zu verlieren,
und sein eigenes Spiegelbild verlassen.
Einmal
nur war ich nicht schnell genug und konnte gerade noch rechtzeitig
wegspringen, als schon ein dünnes, sich hin und her wiegendes Horn aus
dem Spiegel wuchs.
Satan ist das Meer, der Himmel, der Tag und die Nacht, Satan ist der Hinkende, der Almosen erbettelt, um sich zu betrinken.
Satan ist der Arme, der keine Geduld hat.
Satan
ist in der Kirche auf den roten Lippen der Mädchen. Satan ist im Kino,
in der ersten Reihe, wenn der Film für alle verboten ist. Seine
Gegenwart ruft die Sünder herbei, wie ein glühender Magnet, und der
König der Finsternis lächelt hämisch im dunklen Saal.
Ich kannte
alle Tücken des Teufels. Wenn ich allein war und eine große Stille
seine Abwesenheit vortäuschte, hörte ich seinen tauben Atem, der vom
Uhrenticken übertönt wurde.
In den Winkeln des Hauses, hinter dem Bücherschrank sah man seinen spitzen Schwanz.
Ich
lief, um das Licht anzumachen, wenn ich ihn nah bei mir fühlte und er
mich schon packen wollte, und dann war er teuflisch schnell und verbarg
sich wieder.
Gegen ihn gab es nur zwei Mittel: das elektrische Licht und das Bekreuzigen.
Aber
nachts, wenn es dem Teufel gelang, in den Schlaf einzudringen, dann war
nichts zu machen. Er lachte, wenn man sich bekreuzigte, er lachte über
das Licht. Je vorsichtiger er am Tag war, um so unverschämter wurde er
im Traum, wo er sich mit seinem roten Ziegengesicht zeigte und nur ich
allein ihn sehen konnte.
Verzweifelt versuchte ich Großmutter zu
verständigen, die nicht begriff und mich noch enger an sich drückte,
und sie schien mich festhalten zu wollen, damit er mich noch besser
quälen konnte.
Ich flehte sie an zu beten, doch sie fing an zu singen. Da begann ich zu ahnen, daß die beiden unter einer Decke steckten.
Und
als sie ihren Kopf schüttelte und ihre Nägel sich im Traum zuspitzten,
wurde mir eines Nachts plötzlich klar, daß ich einem sehr bösen Betrug
erlegen war.
Großmutter Santina und der Teufel waren ein und dieselbe Person. ..."