Gesellschaftskritik als Moralfrage
Anmerkungen zu Heleno Sañas Artikel "Ist der Mensch heute frei"

veröffentlicht in Die Brücke 136 (April/Mai/Juni 2005)

Seit Jahren gibt sich Heleno Saña die Ehre, als einer der wenigen gegen die herrschenden Verhältnisse vehementen Einspruch zu erheben. Besonderen Wert scheint er darauf zu legen, als unabhängiger und eigenständiger Kritiker aufzutreten. Nur: Schaut man sich seine Argumente einmal genauer an, so scheinen sie aus einem Lehrbuch der ML-Ideologen - also derjenigen, die Marx' Kritik zu einer alternativen Staats- und Gesellschaftsideologie transformiert haben (und in Osteuropa jahrzehntelang die Macht innehatten) - zumindest in den Grundzügen übernommen zu sein.

Worin liegt der Fehler dieser Art Kritik? Zweifellos schon in der Auffassung des Begriffes "Volk": Sañas Meinung nach regiere heutzutage ja nicht der "souveräne Demos". Ein bemerkenswerter Widerspruch! Kennzeichnet der Begriff Volk denn etwas anderes als die Untertanenschaft einer (national sortierten) Bevölkerung, die mitnichten souverän sein kann? Können und müssen Untertanen nicht froh sein, wenn sie der Herrschaft/dem Staat (to krátos) zustimmen können, dürfen, sollen? Ist nicht Demokratie genau so gemeint und etabliert - als Legitimation der Herrschaft unter Berufung aufs Volk? Würde das Volk sich emanzipieren, wäre es ja auch kein Volk mehr (auch die nationale Sortierung fiele mit einem Schlag weg). Und eine Herrschaft bräuchte es im Falle einer Emanzipation ja auch nicht mehr, könnten sämtliche Angelegenheiten dann doch zweifellos ohne Gewalt organisiert werden.

Aus Sañas falscher Auffassung bezüglich der Demokratie ergeben einige ebenso falsche Schlußfolgerungen: Er bemängelt, der Staat würde moralische Werte wie "Würde, Selbstachtung, Selbstwertgefühl" der Menschen nicht kennen; ja geradewegs solche Werte sabotieren. Dem ist jedoch überhaupt nicht so. Je mehr der Staat seiner lohnarbeitenden Bevölkerung aufbürdet und zumutet, desto mehr sieht er sich herausgefordert, gleichzeitig moralische Werte (für Saña daher jedoch nur "Pseudowerte") zu propagieren - aber auch ohne diese explizite Propagierung ist den Untertanen das Gesetz als moralischer Maßstab kraft der Gewalt des Staates immanent, sie legen ihn allenthalben an sich und andere an! -, mit denen die Malträtierten ihre Lage aushalten können sollen: Arm, aber anständig - dieses faschistische Ideal ist auch einem demokratischen Staatsmann geläufig! Und nur für die Fälle, die trotz verabreichter Moral es an Disziplin und Unterordnung fehlen lassen, hält der Staat sich seine Polizei und seine Justiz. Der Moral einen emanzipativen Charakter anzudichten, den es in ihr zu erwecken gelte, das ist der billige Versuch Sañas, sich um die Durchsetzung materieller Interessen - also Klassenkampf (und zunächst die Schaffung eines Bewußtseins dafür!) herumzudrücken. Seine Moral neuen Typs dient allein zur Demonstration eines sauberen Gewissens. Saña versucht diesbezüglich gar, keinen geringeren als Karl Marx für sich zu vereinnahmen, wenn der in seinem Werk "Zur Judenfrage" den Fetischcharakter des Geldes kritisiert.* Saña fordert nicht wie der junge Marx hier implizit ein - Rousseau entlehntes - materialistisches "Zurück zur Natur", vielmehr ein Zurück zur - wenn schon nicht zur christlichen Religion - so doch zu wahren Werten, die der Jude, sofern Bourgeois, mit seinem Glauben an das Geld ersetzt hat. Saña: "Alles ist käuflich, auch die Ehre des Menschen, also seine Würde." (BRÜCKE 133, S.37) Pfui Teufel!

Auch das Argument, die (Des-)Information der Bürger würde es verunmöglichen, sich eine eigene Meinung zu bilden, um mit der dann gegen das System vorgehen zu können, ist eine falsche Schlußverfolgerung aus dem vorsätzlich falsch aufgefaßten Begriff der Demokratie. Zum einen ist es ist nicht so schwer, sich eine eigene Meinung auch aus Blättern zu bilden, die dem System und seinen Ideologien huldigen. Gerade insofern als das ganze Gesellschaftssystem eine Lüge ist (die nämlich, daß die herrschende kapitalistische Weltordnung allen Menschen zugutekommt - zumindest früher oder später -, damit die einzig Wahre ist und deshalb völlig zurecht den Anspruch erhebt, daß ihr alle in voller Freiheit zustimmen) - wie Saña richtig bemerkt -, hat dieses es im allgemeinen überhaupt nicht nötig, Lügen zu seiner Rechtfertigung zu bemühen: In seiner Lüge ist es mehr als offen und ehrlich! Der Staat beschönigt doch nichts, wenn er z.B. ein Verarmungsprogramm a la Hartz 4 auf die Tagesordnung setzt. Das hält er für nötig und deshalb im allgemeinen Interesse; und die Journaille zollt Beifall, wenn die Politik populistischen Versuchungen nicht erliegt! Automatisch ergibt sich eine Kritik an den herrschenden Verhältnissen deshalb freilich noch lange nicht - für Kritik muß man als Leser und Hörer schon einen Grund haben und kennen. Umgekehrt: Kritiklosigkeit herrscht eben, wenn das Publikum partout keinen Grund für Kritik sehen will. Wenn hier jemand lügt, dann doch das Publikum selber, und zwar sich in die eigene Tasche! Als "mündig" wird in der Demokratie übrigens der Bürger dann bezeichnet, wenn er sich freiwillig und selbstbewußt ein- und unterordnet. Sañas Absicht ist offenkundig, die Menschen als "Verführte" zu entschuldigen, wenn sie die öffentlich angebotene Sicht der Dinge als eigene Meinung übernehmen. Gleichzeitig bemerkt Saña bei den Leuten allenthalben eine Unzufriedenheit, die freilich gar nichts mit einem Einspruch gegen das System zu tun hat, der nur einer verlängerten Komponente bedürfte! Wie auch! Die Unzufriedenheit ist ja im wesentlichen eine mit sich selber und/oder seinesgleichen und nicht mit dem System. Saña knüpft an dieser Stelle nicht am verkehrten Materialismus der kleinen Leute (nämlich an dem von Staat und Kapital sich abhängig wissenden) an, sondern daran, daß sie sich überhaupt einem Materialismus verpflichtet wissen. Pfui Teufel aber auch!

Saña weist die kleinen Leute nicht auf ihren Fehler hin, den sie machen, indem sie ihre Interessen Staat und Kapital unterordnen und sich (billig) abspeisen lassen (das wäre ihm viel zu materialistisch gedacht). Stattdessen hält er ihnen alles zugute, was sie falsch machen: Er meint, sie seien, wenn schon nicht verführt, so zumindest desinformiert, sie würden es an Moral fehlen lassen, weil sie ihre zweifellos vorhandene Moral nicht gegen das System wenden, sondern sie für ihr Zurechtkommen in unwirtlichen Verhältnissen gebrauchen. Ihre Wehrlosigkeit sei allein dem System geschuldet und nicht ebenso ihrem Willen, sich mit ihm zu arrangieren (und es oftmals sogar zu verteidigen).

Auch verteidigt Saña den Staat als solchen, indem er eine falsche Auffassung vom kapitalistischen Klassenstaat vertritt. Für ihn wie für die verblichenen ML-Ideologen steht das Gewaltmonopol nicht über den Klassen und sorgt für die Voraussetzungen des Erfolgs des Kapitals einerseits und die Erhaltung und Tauglichkeit der besitzlosen Klasse andrerseits - nicht zuletzt für seinen eigenen Nutzen hinsichtlich seiner Stellung in der internationalen Konkurrenz der Staaten. Der Staat weiß, was er tut, wenn er "die Wirtschaft" fördert, dafür braucht er nicht von Kapitalisten bezahlt zu werden! Für Saña allerdings ist der Staat in Hand einer Klasse, der Kapitalisten, die den Staat quasi mit ihrem Profitinteresse unterjochen! Daraus ergibt sich also, daß der Staat befreit werden müsse - als wäre der nicht schon längst aufgrund seines Gewaltmonopols souverän und hätte der nicht schon längst aus eigenem Interesse das Gewinninteresse der Kapitalistenklasse ins Recht gesetzt und die Freiheit des Lohnarbeiters notwendigerweise dazu. Eine möglichst effiziente Gesellschaftsordnung, die dem Staat dienlich ist, hat so zweifellos ihre Vorteile - die meisten Marx-Revisionisten haben es längst eingesehen, nur Saña - und Sahra Wagenknecht (PDS), die mitten in der schönsten Demokratie vom "Mythos Demokratie" spricht - nicht. **

Im übrigen sind Weltbank, IWF und WTO keine oligarchischen Organisationen des Weltkapitals, wie Saña meint, sondern internationale Organisationen von Staaten zur Förderung von kapitalistischer Entwicklung (Weltbank, IWF), zur Regelung von Handelsstreitigkeiten zwischen Staaten ohne Krieg (WTO) usw. Sie tragen die Kosten des Systems, die die Kapitalisten gar nicht bereit sind zu tragen, weil sie nicht in deren unmittelbaren Geschäftsinteresse liegen, und sie regeln Fragen, die den zwischenstaatlichen Gewaltverhältnissen obliegen und damit gar nicht in die Verfügung von Kapitalisten fallen. Wenn es einem jedoch mehr auf eine Widerstandskultur *** ankommt als auf wirklichen Widerstand, dann sind solche Unterscheidungen zum Verständnis des Systems sicherlich egal. -

Das menschliche Leiden des Heleno Saña besteht - ähnlich dem der Elfriede Jelinek - darin, ausgerechnet eine kritische Stellung gegenüber der Gesellschaft zur Glaubensfrage erkoren zu haben.

© KoKa 17.05.05

* Die in "Brücke 133" von Saña zitierte Stelle: MEW 1, S. 374 ff. - Auch wenn Marx' Materialismus 1844 noch nicht sehr ausgeprägt und theoretisch entwickelt war, ist auch dieser Schrift, seiner Kritik an Bruno Bauer, unschwer zu entnehmen, daß es ihm keineswegs auf eine Ehrenrettung der Moral ankam. 1945 geht Marx in seinen Thesen zu Feuerbach direkt auf das Thema ein: "(...) Er [Feuerbach] betrachtet daher im »Wesen des Christenthums« nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig jüdischen Erscheinungsform gefaßt und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der »revolutionären«, der »praktisch-kritischen« Tätigkeit.
Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme - ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis isoliert ist - ist eine rein scholastische Frage. Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß.(...)" (MEW 3, S. 5)
** "Das Verhältnis des Staates zur herrschenden Klasse beruht darauf, daß er getrennt von ihr die Notwendigkeiten ihrer Konkurrenz berücksichtigt, welche wegen des Konkurrenzinteresses der einzelnen Kapitalisten von ihnen selbst mißachtet bzw. nicht geschaffen werden. Indem der Staat die Bedingungen ihres Geschäfts verwaltet, die für die Kapitalisten kein Geschäft sind, macht er sich als politische Instanz zum Durchsetzer des Klasseninteresses. Als ideeller Gesamtkapitalist ist er Mittel der herrschenden Klasse, was einschließt, daß seine Einrichtungen und Gesetze durchaus in Widerspruch zum Geschäftsvorteil einzelner Kapitalisten geraten. Nur Wohltaten, Geschenke und Hilfsmaßnahmen erwarten die Ritter des Privateigentums von seiten der öffentlichen Gewalt, und die kleinen Einschränkungen ihrer Akkumulation, die ihr Funktionieren sichern, bemüht der demokratische Staatsmann zum Beweis dafür, daß er nie und nimmer Agent eines Klassenstaates ist. Diese Ideologie liefert die Begleitmusik zum ständigen Antichambrieren von Geschäftsleuten bei kleinen und großen Amtsträgern, zum unentwegten Streit finanzgewaltiger Bürger um besondere Rücksichten. Die dazugehörigen Korruptionsskandale fallen meist recht mäßig aus, weil das demokratische Publikum diese Geschäftsgrundlage der politischen Karriere anerkennt: die Berücksichtigung der Wirtschaft ist ja wohl das mindeste, was man von einem Staatsmann verlangen kann." (aus: Der bürgerliche Staat, § 5 Ideeller Gesamtkapitalist und Sozialstaat, S. 44f., GegenStandpunkt Verlag 1999)
*** Ein Exempel für diese Art Haute Culture liefert auch ein anderer sich selbst stilisierender Revisionist: "Ich kam von einer Reise zur Insel Réunion [auch 2005 noch frz. Kolonie] zurück, wo ich einem kämpfenden Volk die Solidarität der französischen Kommunisten bezeugt hatte. Das bisher fast leere Flugzeug machte in einer afrikanischen Hauptstadt eine Zwischenlandung. Es füllte sich mit Pariserinnen und Parisern, die seltsame Sombreros oder Tropenhüte aufhatten, mit großblumigen Hemden herausgeputzt und mit raffinierten Fotoapparaten und Gewehren ausstaffiert waren. Als sie mich bemerkten, konnten diese unerwarteten Touristen ihren Reflex von Haß und Verachtung nicht verbergen. Hier den Sekretär der französischen kommunistischen Partei zu treffen, oh nein, ich war nicht von ihrer Welt und störte das Ende ihrer Safari!" (der ehemalige PCF-Chef George Marchais in seinem Religionsersatz-Buch "L'espoir au présent" ["Die Hoffnung in der Gegenwart"] 1980) Der Ausflug hat sich also gelohnt!